Zum Hauptinhalt springen
Produktinformationen

Als die DDR-Bürger im Herbst 1989 zu Hundertausenden in Leipzig, Dresden, Rostock, Berlin und vielen anderen Orten auf die Straßen gingen, um mutig und entschlossen gegen die SED-Herrschaft zu demonstrieren, brachten sie scheinbar unüberwindbare Verhältnisse ins Wanken und die Mauer zu Fall. Mit dem Sturz der kommunistischen Diktatur gelang ihnen der Aufbruch in die Demokratie, in eine neue Zeit. Schon ein knappes Jahr später waren die Deutschen wiedervereinigt, die Teilung Europas im Kalten Krieg war Geschichte. Das Ende der DDR und die deutsche Einheit waren zugleich Ausgangspunkte für tiefgreifende gesellschaftspolitische Umbrüche mit nachhaltigen Wirkungen bis in die Gegenwart.

Viele ältere Menschen erinnern sich heute mit Stolz an die Zeit der Wende. Für die Jüngeren dagegen liegt dieses Datum weit in der Vergangenheit. Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte erscheinen vielen Menschen unter 40 häufig selbstverständlich, die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie sind oftmals nicht präsent. Auch die dramatischen Ereignisse des Revolutionsherbstes oder des folgenden deutschen Einigungsprozesses sind für jüngere Menschen oft nur schwer nachzuvollziehen.

Bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland in diesem Jahr war die Wahlkampfparole der AfD unübersehbar und viel diskutiert: „Hol dir dein Land zurück – Vollende die Wende“. Zudem ging die Partei mit einem Slogan an den Start, der ursprünglich als Ruf der Friedlichen Revolution von 1989 in die Geschichtsbücher einging: „Wir sind das Volk!“. Doch die derzeitige Situation in Deutschland ist nicht vergleichbar mit der Lebenswirklichkeit in der DDR – genau das wird allerdings impliziert. Menschen, die vor 30 Jahren im SED-Staat auf die Straße gegangen sind, forderten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Versammlungs-, Rede- und Reisefreiheit. All diese Freiheiten haben Menschen im heutigen Deutschland – auch im Osten. Und dennoch ziehen Populisten und Rechtsradikale immer wieder Parallelen zwischen der Diktatur damals und der heutigen Zeit. Die Sorgen vieler Menschen im Osten werden missbraucht und Unzufriedenheiten angeheizt, indem behauptet wird, in Deutschland herrsche keine Meinungsfreiheit, es gäbe keine freien Medien und die Regierung handle willkürlich und unterdrücke oppositionelle Stimmen. So will man sich in die Tradition der Friedlichen Revolution setzen. In einer offenen Erklärung haben darum ostdeutsche Prominente und frühere DDR-Bürgerrechtler/-innen der AfD vorgeworfen, das Ende der DDR für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen. Mit ihrem Slogan „Vollende die Wende“ holt die AfD Menschen bei ihrem Frust ab – dem verbreiteten Gefühl, man sei Verlierer der Deutschen Einheit. Die AfD setzt auf das Gefühl, dass damals gemachte Versprechungen teils nicht eingehalten wurden, Vorstellungen sich nicht erfüllt haben. Diese Erzählung funktioniert oftmals, und das hat vielschichtige Gründe: Etwa das in der DDR verlorene Vertrauen in die Politik, die biografischen Brüche, die für die allermeis­ten Ostdeutschen die Wende 1989 bedeutete, immer noch vorhandene Mängel in der Infrastruktur und wirtschaftliches Ungleichgewicht – noch immer liegt die Rente im Osten deutlich unter der im Westen.

Die Jubiläumsjahre 2019 und 2020 bieten uns 30 Jahre später nun in dieser Ausgabe des Journal die Gelegenheit, in verschiedenen Zusammenhängen daran zu erinnern. Dabei geht es in der politischen Bildungsarbeit aber nicht nur darum, historisches Wissen über den Aufbruch in die Demokratie, sondern auch zentrale demokratische Werte zu vermitteln. Angesichts der sich verändernden politischen Kultur im vereinigten Deutschland der Gegenwart steht die politische Bildung dabei heute vor ganz besonderen Herausforderungen. Dieser Aufgabe gilt es sich entschlossen und engagiert zu widmen.

Inhaltsübersicht

Inhalt


MitDenken

4    Florian Hartleb
Neue Dimensionen rechtsradikaler
Gewalt im Netz


SchwerPunkt
Friedliche Revolution – und dann?

10    Thomas Ahbe
Revolution und Vereinigung
Viele Erfahrungen und eine Große Erzählung

18    Tim Köhler
Der Traum vom Osten
Die Bedeutung zweier Wenden für
„Zonenflüchtlinge“ im Westen

24    „Insgesamt betrachtet ist eine Revolution
eine herrliche Sache!“
Zwei Generationen einer Familie schauen auf
30 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall

32    Adriana Lettrari
Wendekinder und
Transformationskompetenz
Change Management in Ostdeutschland
30 Jahre nach der Wiedervereinigung

38    Kathrin Ollroge, Martina Weyrauch
Raum für Gedanken
Ein gesellschaftspolitisches Kommunikations-
projekt auf Reisen


ZeitZeugen

44    „Die Fähigkeit zum Respekt ist eine Grund-
lage
für einen gemeinsamen Diskurs“
Gespräch mit Roland Jahn, Bundesbeauftragter
für die Stasi-Unterlagen

BildungsPraxis

48    Jette Stockhausen, Alexander Wohnig
Friedliche Revolution – und dann?
Der Podcast „Sächsische Verhältnisse“ /
er-fahren – Eine Fahrradtour entlang der
ehemaligen innerdeutschen Grenze / Aufarbei-
tung durch digitales Geschichte(n)erzählen

MitDenken

4   Rechter Terror im Netz
Politische Bildung muss die neuen Formen von Menschen-
verachtung in der Subkultur virtueller Räume zum Thema
machen, fordert Florian Hartleb, Experte für „Einsame
Wölfe“ genannte rechtsterroristische Attentäter.

 

SchwerPunkt

10    Blühende Landschaften und innere Einheit?
Gegenüber den Jubiläumsreden sind die Bilanzen der
Ostdeutschen nüchterner und ambivalenter. Die Erzählung
von der „Wiedervereinigung“ bildet derzeit kein Dach,
unter dem sich alle versammeln können.

 

SchwerPunkt
38    Raum für Gedanken
Seit 2014 reist das Kunstprojekt „Raum für Gedanken“
von Kathrin Ollroge als Modellprojekt der aufsuchenden
politischen Bildung durch Ostdeutschland und den Westen
Polens. Zeit für einen Projektbericht und einen Ausblick.

 

ZeitZeugen
44    „Verhältnisse können sich ändern, Unterdrückung
kann enden.“
Im Interview mit dem JOURNAL berichtet Roland Jahn,
Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, über den
Widerstand gegen das DDR-Regime in Jena, die Wende
und den Auftrag der politischen Bildung.

 

BildungsPraxis
48    Sächsische Verhältnisse?
„Wir brauchen mehr politische Bildung, die Geschichten
aufnimmt, refl ektiert, einordnet und bearbeitbar macht“,
berichtet Jan Witza aus Dresden. Die BildungsPraxis stellt
Projekte zur deutschen Teilung vor.

 

ÜberGrenzen
70    „The message of 1989“
Welchen Blick haben Menschen in anderen Ländern auf
die deutsche Einheit und was kann politische Bildung
in diesem Kontext leisten? Der Beitrag wagt einen Ant-
wortversuch im Kontext internationaler Jugendarbeit.

 





4/2019

 

 


VorGänge
56    #RevolutionTransformation / Weiterbildung
muss steuerfrei bleiben! / Shell Jugendstudie
2019 / Klimakrise – Was jetzt getan werden
muss / Mitgliederversammlung des bap /
Runder Tisch der politischen Bildung


LeseZeichen
62    Zur demokratischen Streitkultur / Peter
Faulstich: Lernen, Lehren, Leben / Heimat als
Schicksal / Raus aus der Alltagswelt!

 


ÜberGrenzen
70    Martin Kaiser
„The message of 1989“
Die deutsche Einheit aus internationaler
Perspektive

 


AusBlick
76    Jugendopposition in der DDR / Publikation:
Wendejugend / Stiftung für Engagement und
Ehrenamt / Attac: Moderne Sklaverei /
Ausbau von „Demokratie leben!“ / bap:
Projektabschluss – Projektbeginn / Personen &
Organisationen

Autor*innen

Dr. phil. Thomas Ahbe,
Sozialwissenschaftler und Publizist, studierte 1981-1986 Philosophie, Ökonomie und Soziologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er 1992 promoviert wurde. Von 1992 bis 2008 arbeitete er u. a. an den Universitäten München, Leipzig und Wien.

Dr. Florian Hartleb,
international tätiger Politikwissenschaftler und -berater. Er wurde 2004 zum Thema „Rechts- und Linkspopulismus“ promoviert, veröffentlichte 2017 das Buch „Die Stunde der Populisten“ und 2018 „Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“. Er fungierte als Gutachter der Stadt München, um via Ermittlungsakten die Hintergründe des Attentats vom 22. Juli 2016 aufzuklären. Seit vielen Jahren ist er auch als Schulbuchautor tätig.

Roland Jahn,
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Zu DDR-Zeiten war er Bürgerrechtler, wurde 1983 zwangsausgebürgert und war dann als Journalist tätig.

Martin Kaiser,
Leiter des Gustav Stresemann Instituts in Niedersachsen und Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten (AdB).

Tim Köhler
hat an der Universität Bielefeld Lehramt für Pädagogik, Mathematik und Geschichte sowie Politikwissenschaften studiert und ist derzeit Lehrer am Berufskolleg der AWO in Bielefeld. Zuvor war er an den Universitäten Bielefeld und Braunschweig in der Allg. Pädagogik bzw. Schulpädagogik tätig.

Dr. Adriana Lettrari,
Politikwissenschaftlerin und Organisationsberaterin, gründete 2010 das „Netzwerk 3te Generation Ost“ und wurde international mit dem ressourcenorientieren Ansatz „Transformationskompetenz“ bekannt. Seit 2009 forscht, publiziert, spricht und aktiviert sie zu „Wendekindern“.

Kathrin Ollroge
lebte nach dem Mauerfall mehrere Jahre in England, studierte dort Fotografie und eröffnete und leitete danach bis 2005 die Fotogalerie „Gallery 22“. Sie lebt heute wieder in Potsdam und initiiert künstlerische Ausstellungs- und Kooperationsformate im Rahmen des Großprojekts „Raum für Gedanken“.

Dr. Aribert Rothe,
1952 in Dresden geboren, nach Abitur und Ausbildung zum Maschinenbauer Studium der Technologie in Karl-Marx-Stadt und der Theologie in Leipzig. Dort 1978-1984 Gemeindepfarrer mit dem Schwerpunkt offene Jugend- und Bildungsarbeit, 1984-1992 Stadtjugendpfarrer in Erfurt und engagiert in Basisgruppen der Friedens- und Umweltarbeit. Gründer des Jugendzentrums OASE und seiner UMWELTGRUPPE, 1988 Thüringer Regionalsprecher des Grün-Ökologischen Netzwerks ARCHE. 1989 gehörte er dem Leitungskreis der Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch und der Untersuchungskommission Amtsmissbrauch und Korruption an. Ab 1992 Beauftragter für Ev. Erwachsenenbildung, 1995-2011 im Vorstand der Deutschen Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (DEAE). 1999 wurde er an der FSU Jena über Evangelische Erwachsenenbildung in der DDR und ihren Beitrag zur politischen Bildung promoviert. 2006-2012 Hochschulpfarrer und Leiter der Erfurter Stadtakademie „Meister Eckhart“.

Sigrid Rothe,
1950 in Mühlhausen geboren, nach Abitur und Berufsabschluss als Industrienäherin Studium der Ergonomie und Arbeitsgestaltung an der TH Karl-Marx-Stadt und Ausbildung zur Ehe- und Lebensberaterin. 1972-1974 Abteilungsleiterin für Wissenschaftliche Arbeitsorganisation im VEB Textilwerk Burgstädt, 1979-1991 Referentin für Eltern- und Familienarbeit des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes in Sachsen, anschließend bei der Evangelischen Frauen- und Familienarbeit der Ev. Kirchenprovinz Sachsen; 1991-2010 Mitarbeiterin und Leiterin der von ihr mitbegründeten Psychologischen Beratungsstelle für Erziehung-, Ehe-, Familien- und Lebensberatung Erfurt und 1996-2005 Vorsitzende der LAG Erziehungs-, Ehe- und Familienberatung in Thüringen; seit 2010 freiberuflich Referentin und psychologische Beraterin. Seit 1968 engagierte sie sich in der Evangelischen Studentengemeinde und der kirchlichen Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung; 1982-1991 Mitglied im Kuratorium der Ev. Akademie Meißen; 1989 Mitbegründerin der Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“, Mitarbeit im Erfurter Bürgerkomitee und am Runden Tisch Bildung des Bezirkes Erfurt.

Astrid Rothe-Beinlich,
*1973, seit 1987 in der kirchlichen Umweltbewegung engagiert. Seit 2004 mit Unterbrechungen Stadträtin in Erfurt, seit 2019 Fraktionsvorsitzende und seit 2009 Landtagsabgeordnete für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag, dort u. a. Parlamentarische Geschäftsführerin und Sprecherin für Bildung, Jugend, Aufarbeitung, Integration, Justiz und gegen Rassismus.

Dr. Jana Truman,
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Erwachsenenbildung/Politische Bildung an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied der Journal-Redaktion.

Dr. Martina Weyrauch,
Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung.