Verständigungen zur kritischen politischen Bildung


Yasmine Chehata, Andreas Eis, Bettina Lösch, Stefan Schäfer, Sophie Schmitt, Andreas Thimmel, Jana Trumann, Alexander Wohnig (Hg.): Handbuch kritische politische Bildung Frankfurt/M. (Wochenschau Verlag) 2024, 608 S., 59,90 € 

Ende vergangenen Jahres ist die völlig neu konzipierte zweite Ausgabe des Handbuchs kritische politische Bildung erschienen. In Zusammenarbeit mit zahlreichen Autor*innen legen die Herausgeber*innen einen voluminösen Band mit insgesamt 61 Beiträgen (ohne Vorwort) vor, die in facettenreichen, theoriegesättigten und auf Praxis zielenden Texten dazu beitragen wollen, den Ansatz einer kritischen politischen Bildung zu präzisieren und weiter auszuarbeiten. Als Kontrast zu einer kritischen politischen Bildung werden andere Ansätze politischer Bildung als konventionell, funktional, affirmativ perspektiviert – zumindest scheint es sich um eine andere Positionierung im Vergleich zu Ansätzen zu handeln, die im Blick der Autor*innen Bestehendes lediglich tradieren. Dem Verlag ist zu danken, dass er die erste Ausgabe des Handbuchs aus dem Jahr 2010 auf seiner Website frei zugänglich macht, so dass ein vergleichender Blick auf die Inhaltsverzeichnisse beider Bände erkennen lässt, dass sich die Diskurse um kritische politische Bildung erheblich weiterentwickelt haben. Darüber hinaus ist am Inhaltsverzeichnis der neuen Ausgabe abzulesen, dass den Herausgeber*innen zwar an einer plausiblen Struktur des Bands gelegen war, die versammelten Beiträge jedoch eher als Projekt der Selbstverständigung eines Netzwerks zu lesen sind und weniger als Versuch einer systematischen Strukturierung eines Handbuchs. 

Das Handbuch selbst ist in sechs Abschnitte strukturiert. Den ersten Abschnitt bilden Texte zur Begründung kritischer politischer Bildung. Im zweiten werden gesellschaftliche Schlüsselprobleme als zu bearbeitende Themen reflektiert. Der dritte Teil widmet sich kritischer politischer Bildung in der Schule, während der vierte sich mit non-formaler Bildung und Sozialer Arbeit beschäftigt. In der fünften Abteilung geht es um politische Bildung in sozialen Bewegungen oder in Selbstorganisation. Im letzten Abschnitt werden Förderprogramme und einige Akteur*innen der politischen Bildung in den Blick genommen. Begründungen des Ansatzes einer kritischen politischen Bildung beziehen sich auf Studien der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, des Poststrukturalismus, auf feministische oder postkoloniale Theorien sowie auf Theorien von Bourdieu, gelegentlich wird auch auf marxistische Theorieelemente zurückgegriffen. Der eigene Ansatz wird als praxisrelevante Theorie beschrieben, deren Perspektive es sei, auf Basis radikaldemokratischer Konzepte gegenhegemoniale Kräfte zu bilden und zu stärken. Als Leitziel wird das Projekt einer „Entunterwerfung“ (64) formuliert, als Handlungsermächtigung, die sich auf die Suche nach „transformatorischen Handlungsspielräumen“ (92) auf politischer und gesellschaftlicher Ebene begibt. Dabei sei sich kritische politische Bildung bewusst, dass sie in die herrschenden Verhältnisse involviert ist und ihre Verflechtung mit bestehenden Strukturen und Mechanismen permanent reflektieren müsse. 

Astrid Messerschmidt begründet kritische politische Bildung mit Adornos Imperativ für Bildung, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“. Sie konstatiert eine mangelhafte Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus, auch deshalb wirkten Antisemitismus, Rassismus und Bilder einer reinen Gesellschaft fort. Zudem bezieht sie in die Erinnerungskultur auch die koloniale Geschichte des Landes ein. Für Bettina Lösch und Andreas Eis sind Herrschaftskritik und Machtanalysen „zwei unterschiedliche Aufgaben“ (40) kritischer politischer Bildung. Herrschaft drücke sich in verfestigten Strukturen von Zwang, Normierung und Unterdrückung aus. Es müsse analysiert werden, wie Herrschaftsstrukturen entstanden sind, wie sie legitimiert werden, wie Zustimmung dazu organisiert wird und wie sie verändert und abgebaut werden können. Macht habe einen Doppelcharakter, sie könne dazu dienen, repressive Strukturen zu erhalten, berge jedoch auch das Potenzial zur Durchsetzung individueller und kollektiver Interessen in sich und sei Basis von Handlungsfähigkeit unter jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen. 

Zur Thematik der Subjektentwicklung verweist Carsten Bünger darauf, dass Subjektivierung ein ambivalentes Geschehen sei und nicht automatisch Autonomie und Mündigkeit bedeute. Zu reflektieren sei, dass das Subjekt etwas durch soziale Verhältnisse „Gemachtes“ (53) und immer auch ein Unterworfenes sei. Jedoch dürfe die Aneignung von Normen nicht nur repressiv verstanden werden, sondern eröffne auch Räume der Selbstverständigung und -positionierung. Jan-Hendrik Herbst u. a. beschäftigen sich mit dem Begriff der Emanzipation. Einerseits gehe es aktuell darum, den Begriff der Emanzipation zu revitalisieren, andererseits gebe es Stimmen, die dem Emanzipationsversprechen skeptisch gegenüberständen. Herbst u. a. plädieren dafür, „an ‚Emanzipation‘ als pädagogischem Kernbegriff“ (66) festzuhalten, zeigen aber auch, dass Emanzipation kein linearer Prozess sei. Die weiteren Beiträge des ersten Abschnitts beschäftigen sich mit den Konzepten sozialer bzw. radikaler Demokratie, mit dem Begriff der Zivilgesellschaft und der Rolle von Hegemonie in Anlehnung an Arbeiten von Gramsci, aus feministischer Perspektive mit Geschlechterverhältnissen im Kapitalismus und mit rassismuskritischer sowie mit antisemitismuskritischer politischer Bildung. Als gesellschaftliche Schlüsselprobleme und Krisen werden im zweiten Abschnitt die Themen sozial-ökologische Krise, Klimakrise und imperiale Lebensweise, solidarische Lebensweise als reale Utopie, globales Lernen, post- und dekoloniale Perspektiven, Analysen internationaler Kriege und Konflikte wie auch polit-ökonomische Bildung, Fragen des Klassismus, soziale und politische Ungleichheit, Sozialpolitik und schließlich Digitalität als neues prägendes Element von Wirtschaft und Gesellschaft als Themen einer Praxis kritischer politischer Bildung expliziert. 

Die Dimensionen politisch-gesellschaftlicher Phänomene sowie didaktische Zugänge zur Machtanalyse und Herrschaftskritik erläutert Andreas Eis zum Einstieg in den dritten Abschnitt des Handbuchs. Er entwickelt didaktische Prinzipien für eine kritische politische Bildung. Im Zentrum seiner Überlegungen steht ein „Verständnis des Politischen als Emanzipationsprozess“ (215), der darauf ziele, „bestehende Ungleichheiten, Ausbeutungsverhältnisse und Hierarchien abzubauen“ (ebd.) und zur Befreiung vergesellschafteter und vielfach fremdbestimmter Personen beizutragen. Dieser Text ist auch als eine präzise Kurzfassung des Konzepts kritischer politischer Bildung zu lesen. Die weiteren Texte dieses Abschnitts befassen sich mit politischer Bildung mit Kindern, mit inklusiver, mit arbeitsweltorientierter, mit rassismuskritischer politischer Bildung. Außerdem wird der Ansatz der Konfliktorientierung erläutert und das Verhältnis zwischen politischer Bildung und politischer Aktion reflektiert. Weitere Texte befassen sich mit der Rolle von Lernenden und Lehrenden und der Planung von Bildungsprozessen. Die non-formale politische Bildung und Bildungsprozesse in der kritischen Sozialen Arbeit werden im vierten Abschnitt des Handbuchs thematisiert. Michael May und Stefan Schäfer vertreten die These, dass sich bildungstheoretische Ansätze in der Sozialen Arbeit etabliert haben. Konkret bedeute das, wenn die gegebene Ordnung „selbst zum Gegenstand des politischen Handelns wird“ (328), artikuliere sich politischer Wille und es könne von „bildender Demokratisierung“ (329) der Praxis Sozialer Arbeit gesprochen werden. In weiteren Texten dieses Abschnitts werden unterschiedliche Ansätze non-formaler politischer Bildung dargestellt. 

Der Reigen reicht über Erwachsenenbildung, Jugendbildung, offene Kinder- und Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, Demokratiebildung im Verein, aufsuchende Jugend- und Erwachsenenbildung, sozialraumbezogene Bildung, gewerkschaftliche Bildung, politische Bildung im Strafvollzug, in den Freiwilligendiensten bis hin zu Critical Youth Work. Jeweils werden geschichtliche Entwicklungen der Handlungsfelder beleuchtet, das Politische der Ansätze diskutiert oder es wird ein Überblick über Trägerstrukturen gegeben und Handlungsprinzipien erörtert. Im fünften Abschnitt des Handbuchs geht es um politische Bildung in Sozialen Bewegungen oder als selbstorganisierte Praxis. Soziale Bewegungen werden als Bildungsraum rekonstruiert. Weiter wird gezeigt, dass im Umfeld der Klimagerechtigkeitsbewegung vielfältige und innovative Ansätze kritischer politischer Bildung entwickelt worden sind. Als bewegungsnahe Form politischer Bildung wird die kapitalismuskritische Bildungsarbeit von Attac beschrieben. 

Der sechste Abschnitt des Handbuchs stellt sich als Container für Texte zu verschiedenen Aspekten aktueller Entwicklungen politischer Bildung dar. Ein Beitrag macht die Strukturen der breiten Landschaft non-formaler Bildung sichtbar. Unter der Überschrift der Bildungsarbeit politischer Stiftungen wird die Tätigkeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgestellt. Die Arbeit der Bundeszentrale und der Landeszentralen beleuchtet ein Text über staatliche politische Bildung. Es werden Strategien der extremen Rechten in der politischen Bildung analysiert und unternehmensnahe Stiftungen als Akteur*innen politischer Bildung skizziert. In diesem Abschnitt hat auch die Debatte um Extremismusprävention und politische Bildung ihren Platz gefunden. Insgesamt ist das Handbuch eine aktuelle, notwendige und fachkundige Publikation zur Klärung des Ansatzes kritischer politischer Bildung. Die versammelten Beiträge eines Netzwerks von Wissenschaftler*innen und in der Praxis engagierten politischen Bildner*innen sind weit überwiegend von profunden fachlichen Kenntnissen geprägt. Sie zeigen die analytische Schärfe und reflexive Kraft kritischer politischer Bildung und verdeutlichen ihre innovativen Impulse für den Diskurs um politische Bildung. Bei der Zusammenstellung der Beiträge war neben inhaltlichen Aspekten offensichtlich das Interesse leitend, möglichst viele Akteur*innen aus dem Netzwerk für Beiträge zu gewinnen. Im Effekt gibt es daher im Band zu einigen Themen mehrere Texte, die verschiedene Aspekte beleuchten. Das führt dazu, dass die Leser*innen mit erheblichen Redundanzen konfrontiert sind. Irritierend ist, dass ein Beitrag zur Arbeit politischer Stiftungen lediglich die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausführlich darstellt. Soll auf diese Weise die kritische politische Bildung in der politischen Landschaft positioniert werden?

Der Rezensent

Klaus Waldmann, Diplompädagoge, Coach und Prozessbegleiter in Berlin.

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