Spannungslinien selbstorganisierter politischer Jugendarbeit
Norman Böttcher, Daniel Katzenmaier,
Max Temmer (Hg.):
Selbstorganisierte politische
Jugendarbeit im Konflikt.
Ein halbes Jahrhundert Jugendzentrum
in Selbstverwaltung
Friedrich Dürr Mannheim.
Frankfurt/M. (Wochenschau Verlag)
2023, 264 S., 34,90€.
Im Kontext des 50-jährigen Gründungsjubiläums
des Jugendzentrums Friedrich
Dürr in Mannheim erschien im März 2023
dieser Sammelband. In zwanzig Beiträgen
geben die Herausgeber einen Einblick in
Motivationen, Analysen und Konflikte,
die von ehemaligen und aktuellen Aktiven
des JUZ in den letzten Jahrzehnten
verhandelt wurden. Dabei sollen weniger
die bisher bestehenden Dokumentationen
zur Geschichte des JUZ fortgesetzt
werden, sondern der Rückblick spezifisch
mit Perspektive auf historische Konfliktlinien
im JUZ als eine Anregung zu
„Forschungen und Diskussionen über
selbstverwaltete Jugendarbeit“ (25)
wirken. Dabei wird ein kritisch-historisches,
solidarisches und partizipatives
sowie konfliktorientiertes Forschungsverständnis
(25-27) zu Grunde gelegt.
Mit dem gewählten Fokus auf die Auseinandersetzung
mit Konflikten – sowohl
mit Stadt und Öffentlichkeit bei der
Etablierung und um den Erhalt des JUZ,
noch deutlicher aber in der Betrachtung
der Konfliktlinien innerhalb des JUZ –
entsteht hier eine neue Facette in der
Beschäftigung mit der Jugendzentrumsbewegung
in Westdeutschland.
Der Sammelband beginnt mit einleitenden
Grußworten des Oberbürgermeisters
der Stadt Mannheim, der Fakultät
für Sozialwesen der Hochschule
Mannheim und des Stadtjugendrings
Mannheim. Anschließend formulieren
die Herausgeber Norman Böttcher,
Daniel Katzenmaier und Max Temmer
eine einleitende Rahmung, in der zum
einen die Fokussierung auf Konfliktlinien
erläutert wird und zum anderen eine
grundlegende historische Verortung des
JUZ in Selbstverwaltung Friedrich Dürr
in Mannheim sowohl im Kontext der
westdeutschen Jugendzentrumsbewegung
als auch in den Professionalisierungsdebatten
der Sozialpädagogik
vorgenommen wird.
Im Teil I: Rebellische Jugend – Das
JUZ als Teil der Jugendzentrumsbewegung
rekonstruieren Norman Böttcher
und Daniel Katzenmaier zunächst die
Vorgeschichte bis zur Entstehung des
JUZ in den frühen 1970er Jahren. Dabei
legen sie den Fokus weniger auf die
Konfliktlinien, die sich im Entstehungsprozess
zwischen den Jugendzentrums-
Aktiven und der Stadtverwaltung und
Lokalpresse auftaten, sondern fokussieren
die internen Konfliktlinien.
Die Rekonstruktion
erfolgt unter Verweis auf
das ebenfalls im Band platzierte verschriftlichte
Gespräch von damaligen
und aktuellen Aktiven und schafft eine
gelingende Verbindung von Recherchearbeit
und Erinnerung der Beteiligten.
Der Beitrag von Kamillus Wolf thematisiert
die Auseinandersetzung zwischen
parteiorientierten kommunistischen und
undogmatischen linken Strömungen im
JUZ der 1970er und 1980er. Insgesamt
liest sich der Sammelband hier, wie an
vielen anderen Passagen, als gelungene
Darstellung der engen Beziehungen
zwischen der Geschichte des JUZ und
der Entwicklung sozialer Bewegungen. Im Teil II: Die bittere Realität der Volljährigkeit
– Die zweite Lebenshälfte nach
dem Umzug an den Stadtrand sind
mehrere Beiträge von Personen und
Gruppen abgebildet, die in unterschiedlichen
Rollen seit den 1980er Jahren im
JUZ aktiv waren (und z. T. noch sind). Im
Beitrag des VEB Laut & Lästig erinnert
ein ehemals Aktiver des Veranstaltungskollektivs
die antifaschistische wie subkulturelle
Verortung des JUZ als Ort der
Punk- und Hardcore-Szene der 1990er
Jahre. Der Wiederabdruck eines Auszugs
aus der Dokumentation, die der AK
Antifa Mannheim anlässlich seines zehnjährigen
Bestehens 2010 veröffentlichte,
und ein Kapitel mit einem Kurzabriss des
Offenen Antifaschistischen Treffens
Mannheim von 2003 bis heute schließen
an. Stefanie Gora findet „Schnipsel der
Erinnerung“ (108) der feministischen
Organisation im JUZ, u. a. in der Veranstaltung
der Lady*feste der 2000er
Jahre in Mannheim.
INPUT Mannheim verdeutlicht das
Anliegen, den „politischen Gehalt der
Selbstverwaltung bewusst zu machen
und ihn inhaltlich mit verwandten linken
Themen zu füllen“ (113), was die Gruppe
in Form von undogmatischer, antifaschistischer
Bildungsarbeit im JUZ
umgesetzt hat. Als wichtiger Bezugspunkt
erscheint hier (auch) eine Intervention
der CDU im Mannheimer Gemeinderat
2017, als in einer extremismustheoretisch
gerahmten Debatte ein
Antrag auf Schließung des JUZ verhandelt
werden sollte. Der Beitrag sowie
auch der folgende Wiederabdruck einer
Stellungnahme des „Netzwerk für Demokratie
und Courage“ thematisieren
umfassende Facetten der Auseinandersetzung
mit einem immer wiederkehrenden
Angriffsmuster auf politische
Jugend(bildungs)arbeit.
Im Kapitel Professionelle Jugendarbeit
im JUZ ist ein Interview der Herausgeber
mit zwei Pädagog*innen des heutigen
Offenen Jugendcafés abgedruckt, in dem
es unter anderem um die Besonderheiten
„klassischer offener Jugendarbeit“ im
„selbstverwalteten JUZ“ (124) geht. Anschließend
formuliert Max Temmer, der
auch Hauptamtlicher in der Geschäftsleitung
des JUZ ist, mit einem Beitrag
Bezahlte Revolutionsarbeit oder Befriedung
durch Bestechung? einen Einblick
in die von Anfang an im JUZ geführte
konzeptionelle, politische und organisatorische
Debatte um bezahlte Arbeit. Eine
„konkrete Analyse unterschiedlicher
Einflüsse der unterschiedlichen Rollen
der*s Angestellten bzw. Formen der
Ausgestaltung“ (134) wird dabei als
Forschungslücke in der Beschäftigung
mit der Jugendzentrenbewegung ausgemacht.
Die Überlegungen im Kontext
des JUZ zum Spannungsfeld von Machtposition
und Entlastungsfunktion, von
Bewegungsnähe und Professionalisierung
der Sozialpädagogig*innen, von Strukturerhalt
und Verwaltung lesen sich hier sehr
aufschlussreich.
Im Beitrag von Albert Lätsek wird die
subkulturelle Popularität von Fanzines in
den frühen 2000er Jahren in Erinnerung
gerufen, von denen mehrere in Mannheim
erschienen sind.
Teil II schließt ab
mit Beiträgen verschiedener Fachschaften
als Institutionen der Selbstverwaltung im
JUZ. Die Fachschaften Proberaum, Konzert
und Disko haben einige Plakate und
Fotos von Veranstaltungen sowie kurze
Textausschnitte zusammengetragen. Die
Fachschaft Theater datiert die Verbundenheit
zum Theater rückblickend auf den
Beginn des Engagements um das selbstverwaltetes
JUZ in den 1970er Jahren und
blickt im Anschluss daran auf das heutige
Theaterengagement nach einer langen
Pause zurück.
Eine Küchenfachschaft schildert zudem
eine kulinarische Anekdote der
KüFa-Aktivität und gibt das Rezept gleich
mit. Als letztes Kapitel geben Auszüge
einer fotodokumentarischen Langzeitserie
der Fachschaft Fotografie sehr
bildhaft Eindrücke in die selbstverwalteten
Strukturen des JUZ heute, wenn
sie quasi als „Hommage an das Selbstorganisieren“
(182) Einblicke in die verschiedenen
aktuellen Fachschaften des
JUZ gewähren.
Der Teil III: Auch im Alter hoch lebendig
– Generationenübergreifender Dialog
bildet ein Gespräch zwischen Aktiven des
JUZ ab und gibt damit nicht nur Einblicke
in unterschiedliche Zugangsgeschichten
von damaligen wie heutigen Aktiven
wieder, die als Konzert- oder Café-Besucher*
innen, als politisch Aktive, als Hauptamtliche
oder auch als Praktikant*innen
im Studium Soziale Arbeit den Weg ins
JUZ gefunden haben und hier kürzer oder
länger aktiv geblieben sind. Auch hier
zeigt sich eine kritische Bezugnahme auf
politische und organisatorische Konfliktlinien
in der Ausgestaltung des JUZ als
Zusammenhang unterschiedlicher Personen
und Gruppen, der nicht historisiert,
sondern in seiner Aktualität bis heute
diskutiert wird.
Insgesamt haben die Herausgeber
einen spannend zu lesenden, facettenreichen
Sammelband zusammengestellt,
der sich (selbst-)kritisch historischen wie
aktuellen Spannungslinien im Kontext
selbstorganisierter Jugendarbeit widmet.
Der Band ist bebildert mit Fotos und
Plakaten mit Aufnahmen von Veranstaltungen,
Demonstrationen und sehr direkt
aus dem JUZ-Alltag der 1970er bis heute.
Sowohl in den individuellen Perspektiven
der Beiträge als auch in den übergreifend rahmenden
Kapiteln liest sich der Band
nicht nur als eine Geschichte von 50
Jahren Jugendzentrum in Selbstverwaltung
Friedrich Dürr in Mannheim, sondern
auch als dezidierter sowie sozialpädagogischer
Professionalisierung- und sozialer
Bewegungsgeschichte.
Die Rezensentin
Jana Sämann, M. A. in Erziehungsund
Bildungswissenschaften, ist
wissenschaftliche Mitarbeiterin an
der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte
sind politische Bildung
in der Jugendarbeit, sowie
Verhandlungen von ‚Neutralität‘ in
der politischen Bildung.