Raus aus den Zukunftswerkstätten – bildet Zukünftigendes!
Zukunft muss anders realisiert werden: Es sollte weniger um den Vergleich unterschiedlicher Szenarien gehen und mehr um die konkrete Erzeugung von Zukunft in der Jetztzeit. Nur so lässt sich die lähmende Gegenüberstellung von Utopie und Dystopie überwinden. Statt für die Zukunft zu planen, kann Zukunft in einer postapokalyptischen Praxis gebildet werden.
Zukunftsversprechen haben eine enorme Anziehungskraft. Sie erzeugen Wünsche und entfesseln Vorstellungskräfte. Sie wirken als Relevanzverstärker und Aufmerksamkeitsattraktoren. Eines dieser vielen Versprechen trägt den Namen NEOM und wird seit drei Jahren gebaut. NEOM sei das Sprungbrett in die Zukunft. „Es ist mehr als ein Ort. Es ist ein Zuhause für Menschen, die große Träume haben. Die Vision für eine neue Zukunft“ (NEOM 2023). So verlautet es in einem einschlägigen Marketing-Video. NEOM setzt sich aus neo und Mustaqbal zusammen. Mustaqbal heißt im Arabischen Zukunft. NEOM ist also die Neue Zukunft. Im Kern von NEOM befindet sich the line: Eine 500 Meter hohe, 200 Meter breite und 170 Kilometer lange Stadt in Form einer Linie. Ohne Straßen und Autos. The Line soll neun Millionen Bewohner*innen ein neues Zuhause bieten. „Warum braucht die Welt NEOM?“ fragt die Stimme aus dem Off des Imagevideos. Die Antwort scheint simpel: „Die Welt braucht NEOM, weil die Welt Wandel braucht.“
Mensch hat sich längst an die Indienstnahme von Zukunftsversprechen für Vermarktungszwecke gewöhnt. Das Auto der Zukunft. Die Schule der Zukunft. Die Sparkasse der Zukunft. Das besondere bei NEOM ist, dass es sich nicht um ein spezifisches feature handelt, das bestimmte Ausführungen in der Zukunft ermöglichen oder erleichtern soll. Vielmehr ist NEOM der Entwurf einer neuen Lebensweise – ein Future-Environment für eine neue Art zu wohnen, sich zu bewegen, zu arbeiten. NEOM rahmt Formen der Gemeinschaftsbildung und des Selbstentwurfes. Dieser umfassende Anspruch irritiert. Denn der gigantische, verspiegelte Bau mitten in der arabischen Wüste erinnert eher an Phantasmen der Kolonialisierung fremder Planeten als an eine irdische Zukunftsvision.
Im Unterschied zu einschlägigen Science-Fiction-Szenarien haben die Bauarbeiten für NEOM im Nordwesten Saudi-Arabiens aber längst begonnen.
Der NEOM-Imagefilm lässt nach dem Anschauen ein Unbehagen zurück. Es wird durch ein Zukunftsversprechen ausgelöst, das nicht als Wunschmaschine funktioniert, sondern eigenwillig dystopisch anmutet. The line wirkt wie ein Aquarium in einer lebensfeindlichen Umwelt. Wer aber möchte so leben? Mit Lauren Berlant könnte man NEOM als eine in eine Städtearchitektur gegossene Form des „cruel optimism“ (Berlant 2011) nennen. Grausam wäre NEOM deshalb, weil dem beworbenen Zukunftsentwurf die Anklänge von Harmonie und Erfüllung fehlen, die solche idealisierten Zukunftsentwürfe sonst begleiten. NEOM verkörpert in keiner Weise mehr den noch von den Ton Steine…
Weiterlesen mit JOURNAL+
Lesen Sie diesen und alle weiteren Beiträge aus dem Journal für politische Bildung im günstigen Abonnement.
Mit Ihrem Abonnement erhalten Sie die vier gedruckten Journal-Ausgaben im Jahr sowie vollen Zugriff auf alle Journal+ Beiträge des Online-Angebots.
Jetzt abonnieren
Sie haben das Journal für politische Bildung bereits abonniert?
Jetzt anmelden
Der Autor
Dr. Werner Friedrichs ist Akademischer Direktor an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Er verwickelt in seiner Forschung unterschiedliche Theorien – u. a. die der Radikalen Demokratie und des Neuen Materialismus –, um damit zukünftig(end)e Existenzweisen auszuleuchten.