Politische Partizipation als Aufgabe und Ziel politischer Bildung


Sabine Achour, Thomas Gill (Hg.): Partizipation und politische Teilhabe mit allen: Auftrag politischer Bildung. Vom Klassenrat zum zivilen Ungehorsam. Frankfurt am Main (Wochenschau Verlag) 2023, 287 S., 42,00 € 

Der hier vorgestellte Sammelband widmet sich der Relevanz politischer Partizipation für Demokratie, Schule und politische Bildung und beleuchtet in diesem Kontext Zusammenhänge und Schwierigkeiten. Die Herausgeber*innen Sabine Achour und Thomas Gill betonen in ihrer Einleitung die wechselseitige Angewiesenheit von Demokratie und politischer Bildung. Sie beschreiben eine Zunahme direktdemokratischer Elemente wie Volksentscheide auf Landesebene, und die Einführung neuer Formen der Bürger*innenpartizipation, insbesondere auf kommunaler Ebene, in den letzten Jahrzenten im demokratischen System der BRD. Achour und Gill diskutieren in ihrer Einleitung u.a. als eines der zentralen Themen die soziale Ungleichheit in und Spaltung der Gesellschaft mit ihren Konsequenzen für politische Partizipation an. Im Band werden differenziert die „verschiedenen Veränderungstendenzen und Entwicklungen von Demokratie und Partizipation“ (10) fokussiert. 

Der Sammelband ist in sechs Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Grundlagen von Partizipation, Demokratie und politischer Bildung, im zweiten Abschnitt wird das Feld Schule bezüglich Partizipation in den Blick genommen, während im dritten Kapitel die Perspektive der Kinder- und Jugendbildung fokussiert wird. In den anschließenden Teilen stehen die „Politische Teilhabe in der postmigrantischen Gesellschaft“ (IV.), die „Aufsuchende politische Bildung“ (V.) sowie Zukunftsperspektiven („VI. Blick in die Zukunft“) im Zentrum. Peter Massing befasst sich in seinem Grundlagenbeitrag mit dem Zusammenhang von Demokratie und politischer Bildung. Er beschreibt die Normativität Politischer Bildung im Kontext von Demokratiekonzeptionen und analysiert ausführlich ihre Entwicklung von den 1950er Jahren bis heute. Nachdem in den 1950er Jahren, laut Massing, „eine utopische Idealvorstellung von Demokratie als politischer Ordnung im Zentrum“ (27) stand, sei erst in den 1970er Jahren ein differenziertes politikwissenschaftliches Demokratiemodell in der Politischen Bildung in den Vordergrund gerückt. Die Profession der politischen Bildung habe vor allem linksliberale (Fischer, Giesecke, Hilligen), radikal-demokratische (Roloff, Schmiederer) und pluralistische Demokratiekonzepte (Hättich, Sutor) rezipiert. 

Im Folgenden rekurriert Massing auf normative Demokratietheorien der 1990er Jahre, in denen die Bürger*innen eine zentrale Rolle spielen und skizziert die Bürger*innenleitbilddebatte („reflektierter Zuschauer“, „Interventionsbürger“, „Aktivbürger“) in der Politischen Bildung. Zuletzt problematisiert der Autor den Fokus der Politischen Bildung auf Bürger*innenleitbilder und plädiert dafür, die „institutionelle und strukturelle Dimension der Demokratie“ (33) verstärkt als Basis in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang schlägt er das Demokratiekonzept der „eingebetteten Demokratie“ nach Wolfgang Merkel als Referenzmodell für die Politische Bildung und die Politikdidaktik vor. Sabine Achour widmet sich in ihrem instruktiven Beitrag der sozialen Ungleichheit politischer Teilhabe und der Reproduktion der Problematik durch die Institution Schule. Die Autorin bezieht sich auf die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die dokumentiert, dass über die Hälfte der Befragten Defizite bei Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten bemängeln sowie politische Ohnmachtsgefühle empfinden. Solche Gefühle seien für offene Gesellschaften problematisch und eine „Triebkraft von Rechtspopulismus bzw. Rechtsextremismus“ (41). Neben der Existenz von Partizipationsmöglichkeiten korreliere „auch eine höhere formale Bildung besonders mit dem Ablehnen von antidemokratischen Einstellungen“ (42). 

Achour konstatiert auf Basis ihrer Studie „Wer hat, dem wird gegeben“ einen ungleichen Zugang zu politischer Bildung in der Institution Schule. In den nichtgymnasialen Schulformen werde den Lernenden sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich weniger politische Bildung ermöglicht. Darüber hinaus betont die Autorin die Relevanz von demokratiebildenden Formaten, wie Demokratie- oder Kinderrechtstagen, die eindeutig positive Effekte auf demokratische Einstellungen und die politische Partizipationsbereitschaft haben. Abschließend plädiert Achour für quantitativ und qualitativ mehr politische und Demokratiebildung an Schulen, insbesondere in benachteiligten nichtgymnasialen Schulformen, um den „Teufelskreis von sozialer Ungleichheit und politischer Ohnmacht frühzeitig zu durchbrechen“ (51). Rosa Bracker und Wibke Riekmann beleuchten in ihrem überzeugenden Aufsatz Demokratie und politische Bildung in der Jugendverbandsarbeit. Die Jugend(verbands)arbeit sei „die meistfrequentierte außerschulische und insgesamt demokratischste Bildungsinstitution“ (145). 

Die Autorinnen rekurrieren auf die deliberative Demokratietheorie Jürgen Habermas‘, da dieser Theorieansatz die Partizipation von allen Menschen, und damit auch von Kindern und Jugendlichen, mit einbeziehe. Ferner unterstreichen sie, sich auf Dewey beziehend, die Bedeutung von Demokratie als Bildungs-Gegenstand, als Bildungs-Struktur und als Bildungs-Erfahrung für die Jugendverbandsarbeit. Im Folgenden definieren Bracker und Riekmann Jugendverbände als demokratische Bildungsinstitutionen, da u.a. die Mitgliedschaft freiwillig und die Selbstverwaltung ehrenamtlich sei sowie egalitäre Interaktionsformen gegeben und Mehrheitsentscheidungen maßgeblich seien. Bildungstheoretisch fokussieren die Autorinnen für die Jugendverbandsarbeit, neben der deliberativen Demokratietheorie als demokratietheoretischer Fundierung, die subjektwissenschaftliche Lerntheorie Klaus Holzkamps und die Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns, „weil sie ebenfalls auf die gleichberechtigte Teilhabe aller an der Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zielen“ (150). Zuletzt eruieren Bracker und Riekmann „die Möglichkeiten und Herausforderungen von Jugendverbänden als Orte von Demokratie und politischer Bildung“ (153) und machen sich für eine weiter und tiefer gehende Demokratiebildung in der Praxis der Jugendverbandsarbeit stark. 

Nele Rathke und Annette Wallentin plädieren in ihrem interessanten Beitrag für eine aufsuchende politische Bildung als Chance, um vor allem Fremd- aber auch Selbstausschlüssen entgegenzuwirken. Sie definieren und erläutern, was unter aufsuchender politischer Bildung im Sozialraum zu verstehen ist, indem sie die fünf zentralen Aspekte darstellen: Geh-Struktur, Orientierung an der Lebenswelt, Zusammenarbeit mit Brückenpersonen, Gesprächsanlässe inszenieren sowie inklusive Medien und Methoden. Die Autorinnen stellen als Praxisbeispiel das Berliner Modellprojekt „Gleiche politische Teilhabe“ vor und dokumentieren erste Erkenntnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung. Sie schildern, welche Fähigkeiten (im Bereich Beziehungsarbeit, Subjektorientierung, Habitus-Sensibilität und Peer-to-Peer) aufsuchende politische Bildner*innen mitbringen müssen, um die ausgegrenzten und marginalisierten Menschen zu erreichen. Das Aufsuchende findet sich in der alltäglichen Praxis des Projekts im Thematischen, im Sozialraum, in bestehenden Formanten, über bestehende Beziehungen und in der Art der Kommunikation wieder. „Aufgaben (…) der aufsuchenden politischen Bildung sind das explorative Erkunden von neuen Formaten, Methoden, und Strategien der politischen Bildung und eine daraus sich stetig weiterentwickelnde Definition des Aufsuchenden“ (239), so Rathke und Wallentin. 

Der Band versammelt zahlreiche instruktive und überzeugende Beiträge, welche die Relevanz von gesellschaftlicher und politischer Partizipation für die Demokratie und deren Erhalt belegen. Zu würdigen ist, dass das Gros der Beiträge für eine Weiterentwicklung des Demokratischen und damit auch für eine Demokratisierung von Arbeitswelt, Schule und politischer Bildung plädiert. Eine weitere Stärke des Bandes besteht darin, den Leser*innen einen interdisziplinären und multiperspektivischen Blickwinkel auf das Thema Partizipation und politische Teilhabe zu eröffnen, da die Beitragenden nicht nur aus unterschiedlichen Fachdisziplinen kommen, sondern auch aus unterschiedlichen beruflichen Tätigkeitsfeldern. Besonders hervorzuheben ist, dass dabei die gesellschaftlich und politisch marginalisierten und benachteiligten Menschen und Möglichkeiten, sie zu empowern, dezidiert in den Blick genommen werden. Die thematische Differenzierung im Inhaltsverzeichnis in den sechs Kapiteln ist gut durchdacht und verleiht dem Sammelband eine übersichtliche Struktur. Der sowohl zur Einarbeitung als auch zur Vertiefung in das Thema geeignete Band ist explizit auch außerschulischen politischen Bildner*innen zu empfehlen, da er das Feld Partizipation als Aufgabe und Ziel politischer Bildung überzeugend interdisziplinär, facettenreich und multiperspektivisch beleuchtet.

Der Rezensent

Ralph Blasche ist Oberstudienrat für die Fächer Politik & Wirtschaft, Philosophie, Ethik und Deutsch an einem Oberstufengymnasium in Südhessen sowie Lehrbeauftragter an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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