NS-Erinnerungskultur


Harry Friebel: An den Nationalsozialismus erinnern. Entwicklung der Erinnerungskultur und zukünftige Perspektiven. Ein Essay. Opladen (Verlag Barbara Budrich) 2023, 99 S., 12,00 €

In einem schmalen Band bzw. einem „unvollständigen Essay“ (8) wird der facettenreiche Themenkomplex „NS-Erinnerungskultur“ aus interdisziplinärer Perspektive bilanziert und mit ersten Überlegungen gefragt, wie sie in der Einwanderungsgesellschaft weiterentwickelt werden kann. Dabei bietet Friebel mit der Wechselseitigkeit von Opfer- und Täterperspektive, der Verschränkung von individuellen und kollektiven Zusammenhängen der NS-Diktatur sowie von NS-Geschichte und Gegenwart drei leitende Überlegungen für eine „achtsame NS-Erinnerungskultur der Zukunft“ (10) an. Das Essay ist in vier Kapitel gegliedert, in denen beispielhaft und aufklärend immer wieder – mit Textauszügen verbunden – subjektive Perspektiven und strukturelle Merkmale verwoben werden. Im ersten eher knappen Kapitel werden mit analytischem Blick auf den NS-Staat mit „Gleichschaltung“, „Euthanasie“ und „Volksgemeinschaft“ drei wesentliche Merkmale des auf Krieg und Vernichtung zielenden Gewalt- und Terrorregimes aufgenommen. Sie werden eingebettet in weitere Facetten wie den Straßen- und Staatsterror, die Militarisierung und Uniformierung der Gesellschaft, eine soldatische Männlichkeit und eine breite Gefolgsbereitschaft in der Bevölkerung. 

Das zweite Kapitel befasst sich mit der „Nach-Holocaustgeschichte in Deutschland bis zur Gegenwart“ (11) und thematisiert die wiederholt beschriebenen Muster in der fehlenden Vergangenheitsvergegenwärtigung bzw. Realitätsverweigerung in der Geschichte der Bundesrepublik. Das sind: Verleugnen, Verdrängen, Veschweigen und Täter-Opfer-Umkehr. Mit dem Hinweis, dass sich bisher eher eine gesellschaftliche Minorität der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zugewendet hat, diese aber „in weiten Teilen der Bevölkerung noch nicht stattgefunden hat“ (35), bilanziert Friebel die Erinnerungskultur. Er erinnert an die ritualisierten Gedenkveranstaltungen und Reden, die vielfach mit der Verführungsthese („Hitlers Opfer“), der angeblichen Unwissenheit und Unschuld der Deutschen verbunden waren, und dass erst später mit dem Begriff „Befreiung“ und dann der Täterforschung – der Täter_innen, Mittäter_innen, Mitläufer_innen, Nutznießer_innen – ein Perspektivenwechsel eingeleitet wurde. Er blickt in diesem Kapitel vor allem auf die Mikroebene und hier die Familiengedächtnisse mit der kommunikativen Tradierung, dass die eigenen Familienangehörigen keine Nazis waren. 

Im dritten Kapitel geht es um die intergenerationellen Traumatisierungen, Weitergaben und die latenten Wirkungskräfte des Nationalsozialismus. Mit Blick auf die Kinder und Enkelkinder der im NS-Staat sozialisierten Kohorten thematisiert er das immaterielle Erbe von prägenden „Gefühlsbotschaften“ (61) und deren…

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Der Rezensent

Prof. em. Dr. Benno Hafeneger lehrte und forscht an der Philipps-Universität Marburg zu Jugend und außerschulischer Jugendbildung und ist Mitglied der JOURNAL-Redaktion

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