Mündigkeit revisited. Leitideen für die politische Bildung in Umbruchzeiten


Wolfgang Sander: Zwischen Mündigkeit, Kritik und Identität: Perspektiven politischer Bildung. Frankfurt am Main (Wochenschau Verlag) 2023, 184 S., 18,90 €

Wolfgang Sander reagiert mit neuen Überlegungen und Thesen auf die teilweise dramatisch veränderten Rahmenbedingungen für politische Bildung, wie sie sich insbesondere in den großen geopolitischen Krisen und Kriegen seit 2015 zeigen. So hat zuletzt der terroristische Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 deutlich gemacht, mit welch tiefsitzenden Frontstellungen und Ressentiments es politische Bildung in Deutschland im Kontext weltpolitischer Brennpunkte zu tun hat. Eine weitere Herausforderung stellen einflussreiche identitätspolitische Strömungen dar, die mit ihrer dogmatischen Wahrheitsgewissheit quer zu den Grundprinzipien politischer Bildung stehen. Es scheint daher sinnvoll, die Leitideen und normativen Grundlagen politischer Bildung neu zu reflektieren und auf die hier nur grob skizzierten Herausforderungen zu beziehen. Hierzu leistet der Band von Wolfgang Sander einen luziden Beitrag: In einer Tour d’Horizon zentraler theoretischer und didaktischer Fragen entfaltet sich ein neuer Blick auf die Probleme und Möglichkeiten von (politischen) Bildungsprozessen in einer komplexen und von Konflikten geprägten Gesellschaft. In den ersten vier dichten, aber gut lesbaren, Kapiteln widmet sich Sander zunächst zentralen theoretischen Fragen politischer Bildung. 

Im Mittelpunkt stehen die Begriffe Mündigkeit, Kritik und Identität. Im ersten Kapitel plädiert Sander für eine Abkehr von der Kompetenzorientierung, die seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 die bildungspolitische Planung und Diskussion dominierte. Sander zeichnet diese Entwicklung nach, die zu einer „hypertrophen, blasenartigen Ausweitung der Kompetenzorientierung auf alles und jedes, was irgendwie mit Lehren und Lernen zu tun hat“ (17) geführt habe. Mit guten Argumenten empfiehlt Sander eine Rückkehr zur ‚Bildung‘ als pädagogischer Leitidee. Wie kann aber die ‚Leitidee Bildung‘ beschrieben werden? Sander plädiert für einen Bildungsbegriff im Humboldt‘schen Sinne als „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (23). Gestützt auf diesen Gedanken entwickelt Sander die Idee einer dialektischen Wirkung von Bildung: Einerseits als Ent-bindung aus sozialen Zwängen, indem sie dem Lernenden eine reflexive Distanzierung von den sozialen Zwängen ermögliche. Auf der anderen Seite sei Bildung immer auch die Einbindung in einen kulturellen Zusammenhang, der sich über die „intensive Auseinandersetzung“ mit kulturellen Gütern und Traditionen herstelle. Erst diese „Zueignung“ (Adorno) schaffe die Voraussetzung für die spezifische Freiheit, eigene Sichtweisen und Urteile entwickeln zu können. Auch für die politische Bildung könne diese Orientierung an einer Leitidee Bildung den Lernenden einen ‚offenen Horizont‘ eröffnen, um sich mit den politischen Aspekten des menschlichen Zusammenlebens auseinanderzusetzen. Mit im Fokus von (politischen) Bildungsprozessen sollte das Erlernen eines differenzierten Umgangs mit Emotionen wie Ressentiments, Ängsten, Unsicherheit und Vertrauen stehen. 

Die Frage ‚Was kann und soll politische Bildung leisten?‘ steht im Zentrum des nächsten Kapitels. Sanders Überlegungen kreisen um den Begriff der (politischen) Mündigkeit als zentrales Ziel politischer Bildung. Sander setzt sich zunächst mit Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ auseinander, die vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (33) spricht. „Aufklärung“ – so Sander, sei nicht als „Alleinstellungsmerkmal europäischen Denkens“ (34) zu begreifen. Ein differenziertes Verständnis von Aufklärung müsse immer die „Grenzen der Vernunft“ berücksichtigen und stehe auch nicht in einem Gegensatz zu „religiösem Weltverstehen“ (37) Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen stellt er den postmodernen Ansätzen „negativer Theorie“ bei Foucault und der „zutiefst pessimistischen“ Theorie der modernen Gesellschaft bei Adorno ein eigenes Verständnis politischer Mündigkeit gegenüber: (Politische) Bildung finde immer in einer unvollkommenen Welt statt und müsse daher darauf abzielen, „Menschen eine eigene, reflektierte Position […] zu ermöglichen und Fixierungen auf Ohnmachtsempfindungen oder ideologische Vereinfachungen zu überwinden.“ (43) In einem zentralen Kapitel seines Buches (Kritik und Post-Kritik: Wie kritisch ist die politische Bildung?) bekräftigt Sander seine schon früher vorgebrachte Kritik an den Vertretern und Vertreterinnen einer „kritischen politischen Bildung“: Er konstatiert mittlerweile eine Entschärfung der Debatte, unter anderem bewirkt durch jüngere Klarstellungen etwa zum Thema „Kontroversität“ und „Freiheit der Rede“ (61). Umso wichtiger ist es ihm, die neuen Herausforderungen der politischen Bildung durch die auch in Deutschland populäre ‚identitätspolitische Rassismuskritik‘ genauer zu untersuchen. 

Sander fasst die einschlägigen Befunde zahlreicher Autoren und Autorinnen zusammen und kommt zu dem Schluss, dass die linke Identitätspolitik als ein Risiko für die Demokratie angesehen werden müsse, wenn sie zu einer neuen illiberalen Ideologie werde, die (wie am Beispiel USA zu sehen) zu massiven gesellschaftlichen Polarisierungen führen könne. Politische Bildung – so sein Fazit – dürfe sich nicht mit der Wokeness Bewegung identifizieren und insbesondere in der Arbeit mit Jugendlichen allen Tendenzen zur Viktimisierung und Selbst-Viktimisierung durch Ermutigung zum selbstständigen Handeln und Denken entgegentreten. In einem weiteren theoretisch gehaltvollen Kapitel zum Thema ‚Kulturelle Identität‘ fragt Sander, wie politische Bildung mit der kulturellen Vielfalt und den kulturellen Konflikten in der heutigen Weltgesellschaft produktiv umgehen kann. Seine anregende Auseinandersetzung mit wichtigen Theoretikern im Themenfeld wie Fukuyama, Huntington, Rawls und Taylor können hier nur angezeigt werden. Ein Gedanke sei hervorgehoben, den Sander als ein Dilemma politischer Bildung ansieht: Die Ideen der politischen Mündigkeit, der moralischen Gleichheit und Gewissensfreiheit seien einerseits immer universalistisch, also als Zielperspektive für alle Menschen zu denken, andererseits seien sie zugleich Ausdruck einer partikularen europäischen „kollektiven Identität“, die – wie er ausführlich begründet – auch auf die christliche Tradition Europas zurückginge. Beim Umgang mit diesem Dilemma sollte sich politische Bildung als Fach einerseits zu ihrer spezifischen „kulturellen Situiertheit“ bekennen und diese auch zum Lerngegenstand im Unterricht machen. Gleichzeitig sollte sich politische Bildung im Unterricht auch andere als europäische Sichtweisen zu eigen machen und die kulturelle Vielfalt der Weltgesellschaft nicht als Bedrohung, sondern als Chance ansehen. Im abschließenden Kapitel skizziert Sander Modelle und Eckpunkte für die Unterrichtsplanung und fragt unter anderem nach den Grenzen der Kontroversität und möglichen ‚roten Linien‘ im Unterrichtsgespräch. 

Mein Fazit: Für Theoretikerinnen und Theoretiker sowie Praktikerinnen und Praktiker der politischen Bildung ergeben sich aus diesem anregenden und anspruchsvollen Band wichtige Anregungen für den Umgang mit einer Welt im Umbruch.

Der Rezensent

Christoph Müller-Hofstede, Dialog macht Schule gGmbH, Berlin, Referent für Veranstaltungen und Demokratiebildung in der Migrationsgesellschaft.

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