Lernen um des Lebens Willen

Heimvolkshochschulen als Orte politischer Bildung


Die Heimvolkshochschule hat ihre Wurzeln im skandinavischen Raum, als Gründungsvater zählt Nikolai Frederik Severin Grundtvig. Sie zeigt in ihrer Betonung von Offenheit und Gemeinschaft, wie Demokratie bereits Mitte und Ende des 19. Jhdt. für jungen Menschen erfahrbar gemacht wurde. Heute spielen sie unter anderem bei der sozialökologischen Transformation in der Landwirtschaft nach wie vor eine wichtige Rolle.

Højskolen

Der Begriff „Heimvolkshochschule“ ist in Deutschland kein geläufiger Begriff und auch unter Fachleuten nicht immer bekannt. Ihre Wurzeln hat die Heimvolkshochschule im skandinavischen Raum, besonders in Dänemark. Hier sprich man von „højskole“ („Hochschule“) oder „folkehøjskole“ („Volkshochschule“). Sie baut auf einer Bildungsidee, die sich nach der Entstehung der Schulform 1844 entwickelte und eine entscheidende Rolle in der Ausformung der dänischen Identität spielen sollte, weshalb die Heimvolkshochschule aus den Gesellschaften in Dänemark und Skandinavien nicht wegzudenken ist. Die Schulform ist eng mit dem Namen Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872) verbunden, ein Universalgelehrter, der als Pfarrer, Dichter, Historiker, Politiker und Pädagoge/Schulmensch tätig war. Er gilt zusammen mit Søren Kierkegaard und Hans Christian Andersen als wichtigste Dänen des 19. Jahrhunderts.

Die Ursprünge

Schon vor der Entstehung des ersten dänischen Grundgesetzes vom 5. Juni 1849 war die erste Heimvolkshochschule in Rødding 1844 gegründet worden. Gemeinhin gilt Grundtvig als Gründungsvater dieser Schulform. Als Mitglied der grundgesetzgebenden Nationalversammlung war er maßgeblich an der zunächst formellen Transformation der dänischen Gesellschaft vom Absolutismus zu konstitutioneller Monarchie und Demokratie beteiligt. 
Sollte diese neue Regierungsform allerdings auch mit Leben gefüllt werden, war es für den volksnahen Polyhistor unentbehrlich, dass die Demokratie mit einer Bedienungsanleitung versehen wurde. Grundtvig war von der Naivität befreit, die Demokratie würde vom Himmel fallen und von allen verstanden werden. Er sah von Anfang an ein, dass die Demokratie erlernt und erarbeitet werden muss (Pedersen: 19–33). 

Die Heimvolkshochschule als Bedienungsanleitung 

Mitte des 19. Jahrhunderts bestand vor allem auf dem Lande ein Bildungsmanko. Deshalb wurden die Schulen in ländlichen Räumen errichtet. Die Zielgruppe war zunächst die Jugend. In Rødding fanden die Kurse im Winter statt, weil die Bauern im Sommer auf dem Hof eingebunden waren. Der Unterricht umspannte Themen wie Philosophie, Geschichte und Demokratiebildung. Ziel war es, dass die Wähler und Entscheidungsträger der jungen Demokratie auf einer qualifizierten Grundlage ihre Stimme abgeben können (Holm: 115–116). Zudem aber wurden stets auch sehr praktische Angebote gemacht, z. B. Lehrgänge zu Spat bei Pferden (degenerative Erkrankung der Sprunggelenke). Somit verband der Unterricht eher übergeordnete Fragestellungen mit der Praxis und der Kursteilnehmer (am Anfang waren nur die Jungs an den Kursen beteiligt) konnte zwischen abstrakten Wissensinhalten und der Gegenständlichkeit seiner eigenen Lebenswelt pendeln. Für Grundtvig war wichtig, dass die Lerninhalte nie zu abstrakt wurden. 
Der Sinn für den Teilnehmer lag im Konkreten (Kern: 2). Es gab somit eine Art Rückkopplung, oder einen Wirklichkeitsbezug, die auch heute noch in der Heimvolkshochschule von entscheidender Wichtigkeit ist. Der Junglandwirt sollte stets seine eigene Lebenswelt in der Schule unmittelbar wiedererkennen können. Ein weiterer Grundsatz der Heimvolkshochschule war, dass die Schulen für alle offen sein sollten, ohne Rücksicht auf schulischen Abschluss und/oder sozialer Herkunft (Act on folk high schools, Chapter 5, Section 13, (2)). Somit kamen nach und nach Menschen aus sehr unterschiedlichen Schichten und Lebenswelten der Gesellschaft in die Schule. Die heterogenen Gruppen spiegelten die Heterogenität der dänischen Gesamtgesellschaft und es wird heute oft die Metapher einer Gesellschaft in Miniformat benutzt. 
Grundtvig war 1843 in England gewesen und hatte sich von den Vorteilen der boarding schools, die er u. a. in Cambridge kennen gelernt hatte, überzeugen lassen. Auch die Heimvolkshochschule wurde mit Internatsfunktion versehen und stand von Anfang an für das Prinzip des „Leben und Lernens unter einem Dach“. Mit der Internatsfunktion war auch die soziale Aufgabe der Schulform definiert. Unterschiedliche Menschen mit sehr verschiedenen Hintergründen hielten sich für längere Zeit (bis zu vier Monaten – sog. „Lange Kurse“) in der Schule auf und lernten sich kennen. Besonders der soziale, non-formelle Raum nach dem Unterricht kristallisierte sich als definitorisches Charakteristikum heraus: Die im Unterricht erlernten Wissensinhalte konnten nach dem Unterricht weiter diskutiert werden und ein Raum entstand, in dem ein reflektierendes Gespräch stattfinden konnte. Für Grundtvig wurde das „lebendige Wort“ das eigentliche Ziel und um diesem Ziel getreu zu bleiben, waren die Schulen test-, examinations- und prüfungsfrei. Ziel des Unterrichts war nicht die Prüfung des erlernten Wissens, sondern das Gespräch unter den Teilnehmern, welches im non-formellen Raum nach dem Unterricht stattfand (Kjaer, Groh: 4). Wenn auch Grundtvig sehr viel geschrieben hat, hat er seine pädagogischen Konzepte und Ideen in keinem Buch oder Artikel umfassend niedergeschrieben. Auch hier suchte er das gesprochene Wort, was weitergetragen wurde, aber damit auch Raum dafür eröffnete, dass seine Ideen und Konzepte verändernd adaptiert wurden.
Das breite Unterrichtsangebot, das stets die Lebenswelt des Teilnehmers berücksichtigte, das Internatsprinzip, die Heterogenität der Teilnehmergruppen, die Kurslänge und die Prüfungsfreiheit ermöglichten eine Schule, die nicht den Begriff Schule zielsetzend definierte, sondern das Leben. So definiert sich die Heimvolkshochschule im skandinavischen Raum heute noch als „Schule für das Leben“. 

Das Individuum in der Gruppe 

 Die Bildungsidee der Heimvolkshochschule nach Grundtvig versteht „Bildung“ als Methode, Individualität und Gruppe gleichzeitig zu etablieren. Es besteht somit eine Art Austausch zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. Der Unterricht gibt dem Einzelnen die Wissensvoraussetzung, sich als mündige*n Bürger*in mit Wahlrecht zu verstehen. Diese Selbstfindung ist aber kein solipsistisches Unterfangen, sondern ist stets gruppengebunden. Wenn man will, steht die Heimvolkshochschule für die Idee, dass der Mensch erst dann entsteht, wenn er sich als Teil einer Gruppe versteht, zu deren Ausformung er selbst maßgeblich beigetragen hat. Die Grundhermeneutik, sich als Individuum auch verantwortlich für die Gruppe zu sehen, ist ein integraler Bestandteil des Demokratieverständnisses der Heimvolkshochschule. Die Demokratie soll somit kein sekundärer Charakterzug sein, sondern integraler Bestandteil des Menschseins werden. Die Heimvolkshochschule ist die Professionalisierung dieses Ansatzes. Dabei geht es gezielt um die Überwindung der Dichotomie zwischen Inhalt und Ausdruck. 
Demokratie soll nicht nur besprochen, sondern gelebt werden. Dieser Prozess nimmt Zeit in Anspruch. Eine vertrauensvolle Gruppendynamik ist die Voraussetzung für die Entfaltung der Hermeneutik zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. Dabei sollte die Bedeutung und Rolle des Lehrers nicht unterschätzt werden. Zwar weniger vielleicht als Frontalunterricht, aber sehr wohl als kompetente Gruppenmoderation/Führung. Heimvolkshochschulen sind keine Schulen des Laissez-faire. Erst wenn man sich gut kennt, traut man sich, seine Meinungen und Haltungen der Gruppe zu öffnen. Lernen findet nicht nur kognitiv-individuell, sondern sozial mit anderen Menschen in der Interaktion statt. Auch deshalb hält sich bis heute in vielen Schulen das Format der Langen Kurse als Flaggschiff. 

Internationale Perspektiven 

Diese Schulform ist auch im Ausland nicht unbeachtet geblieben. Heute gibt es weltweit Heimvolkshochschulen nach grundtvigschem Vorbild. Schon 2003 konnten K.E. Bugge und Gunhild Skovmand ungefähr 700 auf allen Kontinenten verteilte Heimvolkshochschulen ausfindig machen, davon 400 im skandinavischen Raum (Holm, 2019: 224). Ihre Wirkung vor Ort konnte sich nicht immer etablieren, immer mal wieder wurden Schulen auch geschlossen. In einigen Ländern aber haben sich Schulen nicht nur etabliert, sondern Verbandsstrukturen sind entstanden, so z.B. in Ungarn, Polen, Österreich und Deutschland. Auch in den Vereinigten Staaten spielte die Heimvolkshochschule eine wichtige Rolle. Am 13. Mai 2016 beim Empfang der Skandinavischen Staatsoberhaupte im Weißen Haus sagte Barack Obama: „Viele unserer skandinavischen Freunde kennen den großen dänischen Pfarrer und Philosophen Grundtvig. Unter anderem war er Befürworter der Idee der Heimvolkshochschule. Eine Ausbildung, die nicht nur für die Elite, sondern für viele zugänglich war. Wir wären nicht hier, wäre es nicht für den Stein, der in die See geworfen wurde und Ringe der Hoffnung verursacht hat, die sich schlussendlich über das Meer in die USA erweitert haben“ (Holm, 2019: 223). Die wohl bekannteste Heimvolkshochschule in den Vereinigten Staaten, Highlander Folk School, hatte am Rande bemerkt eine berühmte Schülerin: Rosa Parks, die erfolgreich gegen die Rassentrennung in Bussen opponierte. 

Heimvolkshochschule in Deutschland

In den Zeiten der Weimarer Republik erfuhren Heimvolkshochschulen in Deutschland großen Bedeutungszuwachs. Zuvor gab es im Kaiserreich nur eine Hand voll an Heimvolkshochschulen in Schleswig-Holstein. Der einzige offizielle, unvollständige Nachweis, führt 52 sog. „Volkshochschulheime“ auf (Faber, 1991: 17), die alle zu Zeiten des Nationalsozialismus geschlossen wurden. 
Eine zweite Gründungswelle nach 1949 bestand somit zum großen Teil aus Wiedereröffnungen von Schulen in der neu entstandenen Bundesrepublik. Nach dem Mauerfall kam es zu einer dritten Gründungswelle auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Leider kam es um das Jahr 2000 jedoch in Ost und West auch zu einer Schließungswelle aus zumeist ökonomischen Gründen. So wurde auch die berühmten Heimvolkshochschulen Falkenstein in Hessen oder die Göhrde in Niedersachsen trotz Protesten geschlossen. Heimvolkshochulen gibt es heute im gesamten Bundesgebiet und die Schulen sind in unterschiedlichen (Bildungs-)Verbänden organisiert, so z.B. im Verband der Bildungszentren im ländlichen Raum e.V. Die Mitgliedseinrichtungen des VBLRs, insgesamt 45, sind alle in freier Trägerschaft und können in drei Gruppen aufgeteilt werden: katholisch, evangelisch und berufsständisch. Bei den berufsständischen Heimvolkshochschulen geht es überwiegend um Schulen in der Trägerschaft der Landwirtschaft, d.h. der Landesverbände des Deutschen Bauernverbandes. 
Haben sich die Heimvolkshochschulen in Dänemark von ihrem Ursprung in der Landwirtschaft entfernt und sich zu allgemeinbildenden Häuser für z.B. Philosophie, Literatur, Theater, Musik, Kunst und Sport entwickelt, finden in ihren deutschen Entsprechungen als Einrichtungen des lebenslangen Lernens viele Maßnahmen für Landwirt*innen und für die der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Berufe statt. Das Format dieser landwirtschaftlichen Maßnahmen ist häufig ein Langzeitformat nach dem Vorbild der Kurse auf dem Lande in Dänemark Mitte des 19. Jahrhunderts. Junglandwirt*innen erhalten Unterrichtseinheiten zu Agrarpolitik, Geschichte, Ästhetik, Kultur und vor allem zur politischen Bildung. Häufig in Bezug auf ihr Wirkungsfeld. Das Ziel ist die Bewusstmachung der einzelnen Teilnehmer*innen für ihre Verantwortung in der Gesellschaft. Deshalb ist die Gruppe aus der Entwicklung des Einzelnen nicht wegzudenken. Das Gespräch, das diese Internatskurse prägt, ist die direkte Umsetzung der ursprünglichen Heimvolkshochschulidee: Nur über einen ständigen Austausch formiert sich das Individuum, formiert sich die Gruppe. 

Nikolai Frederik Severin Grundtvig

Dänischer Dichter, Pastor, Historiker, Politiker, Pädagoge und Philologe
Geboren 8. September 1783, Udby bei Vordingborg
Gestorben 2. September 1872, Kopenhagen

1803 Abschluss des Theologiestudiums an der Universität von Kopenhagen
1811 Ordination
1822 Pastor an der Vor Frelsers Kirche in Christianshavn, Kopenhagen
ab 1844 Mitwirkung an der Gründung der grundtvigianischen Heimvolkshochschulen und unabhängigen Schulen

Seine Bedeutung für seine Zeit und der Einfluss seines späteren Wirkens können kaum überschätzt werden. In Wort und Schrift war Grundtvig verantwortlich für die kirchliche, volkstümliche und politische Befähigung der dänischen Landbevölkerung im 19. Jahrhundert, was weitreichende geistige, praktische und wirtschaftliche Auswirkungen hatte.

Die Aufgaben heute 

Die Aufgaben im ländlichen Raum und in der heutigen Landwirtschaft sind beachtlich und die Heimvolkshochschulen leisten ihren Beitrag. Es finden hier Dorfgespräche, Fortbildungen für Ehrenamtliche, Kooperationen mit der Schule vor Ort und Politikgespräche statt. Hier triff sich auch der Gesangschor, es werden second hand Märkte organisiert, Kirchentage werden durchgeführt. Die Heimvolkshochschulen sind somit authentisch integrierte Bestandteile und Treffpunkte im ländlichen Raum. 
Mindestens zwei übergeordnete Fragestellungen werden künftig wegweisend für die deutsche Landwirtschaft sein: Erstens die sozialökologische Transformation, welche die Umstellung auf ein nachhaltiges Gesellschaftsmodell bezeichnen soll. Zweitens ist spätestens seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine klar geworden, dass die Lebensmittelversorgung keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Die unter dem Eindruck verstärkter Landwirtschafts-, Klima-, und Umweltproteste 2020 einberufene Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) verortet in ihrem Schlussbericht die Zukunft der Landwirtschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe: „Der systemische Umbau von Landwirtschaft und Ernährung ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Landwirtschaft sowie Lebensmittelverarbeitung, -industrie und -handel müssen sich dieser Aufgabe ebenso stellen wie alle Bürger:innen, unterschiedlichste gesellschaftliche Instanzen und vor allem auch die Politik in ihren sämtlichen auf Agrarproduktion und Ernährung bezogenen Bereichen. Dabei gehört es zu der spezifischen Gestaltungsverantwortung von Politik die zügige Transformation des Landwirtschafts- und Ernährungssystems durch entsprechende Rahmensetzungen zu ermöglichen und zu erleichtern, sie zu fördern und mitzugestalten“ (Zukunftskommission Landwirtschaft: 53). Der Prozess einer umfänglichen sozialökologischen Transformation geht weit über die Landwirt*innen und die Landwirtschaft hinaus. Es ist deshalb auch künftig zwingend notwendig, dass es Orte gibt, an denen Gespräche und Austausch zu der Rolle der Landwirtschaft stattfinden. Diese Gespräche sollten im Sinne von Grundtvig sowohl Landwirt*in als auch Endverbraucher*in, Land und Stadt umfassen.


Literatur

Faber, Werner (1991): Geschichte des Verbandes Ländlicher Heimvolkshochschulen Deutschlands (Band eins). Hermannsburg.

Gaasch, Dr. Karlheinz/Kuhne, Dr. Wilhelm/Emmerling, D.L. Albert (1991): Geschichte des Verbandes Ländlicher Heimvolkshochschulen Deutschlands (Band zwei). Hermannsburg.

Holm, Anders (2019): Grundtvig – En introduktion. Aarhus.

Kern, Uta-Maria/Kjaer, Jørgen/Groh, Martin/Pedersen, Kim Arne/Schmoll, Heike (2010): Nikolaj Frederik Severin Grundtvig. Tradition wahren, Modernität wagen. Berlin.

von Ameln, Falk (2014): Lernort Heimvolkshochschulen. Bielefeld.

Zukunftskommission Landwirtschaft (2021): Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft. Berlin.

Der Autor

Dr. Peter Buhrmann ist Geschäftsführer des Verbandes der Bildungszentren im ländlichen Raum e.V.

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