Geschichte kann mehr sein als was geschah

Utopien und Alltag der DDR als musealisches Angebot

Der Blick auf die Geschichte rät uns, Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Zugleich hilft er, unseren eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Auf der Suche nach Alternativen für die Zukunft ist es wichtig, unsere alltägliche Vorstellungswelt zu transzendieren. Dahinter steht der Wunsch nach einem besseren Leben, ausgehend vom Unbehagen an der Gegenwart, ihrer „verchromten Misere“ – so Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung). Diesem Zugriff auf Geschichte widmet sich das Museum „Utopie und Alltag“. Es vereint das Dokumentationszentrum „Alltagskultur der DDR“ in Eisenhüttenstadt und das „Kunstarchiv Beeskow“.

Geschichtliche Erfahrungen sind der Urgrund des utopischen Denkens, des Nachdenkens über alternative Formen des Zusammenlebens und der Gestaltung des Alltags. Auch „ungewordene Zukunft“, die „Noch-Nicht-Erfahrung in jeder bisher gewordenen Erfahrung“, in den Worten Blochs, wird in der Vergangenheit sichtbar. Das Deutsche Historische Museum folgte diesem Pfad jüngst mit seiner erfolgreichen Schau „Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“. Eine interessante Perspektive, die sich auch auf den Umbruch der Jahre nach 1989 beziehen lässt: Was, wenn die Berliner Republik sich eine Verfassung gegeben hätte, die die Erfahrungen von 40 Jahren DDR kritisch reflektiert und zugleich jene aus 40 Jahren Bundesrepublik? Ein Verfassungsprozess als gemeinsames Fundament von Ost- und Westdeutschen hätte womöglich manchen Verwerfungen in unserer gegenwärtigen politischen Kultur vorgebeugt. Realgeschichte, Ideengeschichte, Geschichte im Konjunktiv: Dies in unterschiedlichen Vermittlungs- und Ausstellungsformaten zusammenzuführen, ist ein leitendes Motiv für das Museum Utopie und Alltag. Das Museum vereint zwei Einrichtungen, die vor 30 Jahren im Osten Brandenburgs gegründet wurden: Das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt und das Kunstarchiv Beeskow. Mit rund 170.000 Objekten der Alltagskultur und 18.500 Werken der bildenden und angewandten Kunst sowie des Laienschaffens bewahrt es einen in seinem Umfang und in seiner Zusammensetzung außergewöhnlichen Bestand zur Kulturgeschichte der DDR. Am Standort Eisenhüttenstadt ist zudem architektonisches und städtebauliches Kulturerbe erlebbar. Die als „erste sozialistische Stadt“ der DDR konzipierte Planstadt ist heute eines der größten zusammenhängenden Flächendenkmale Deutschlands. Angesichts der thematischen Dichte von Alltagskultur, Kunst und Architektur und der stetigen Verknüpfung historischer Bestände mit gegenwärtigen Themen und Zukunftsfragen, hat sich das Museum zu einem Ort entwickelt, an dem sich Gesellschaftsentwürfe und Transformationsprozesse präzise und umfassend beschreiben und diskutieren lassen – nicht allein von Fachleuten, sondern im Austausch mit der Gesamtheit der Gäste. 

Die Alltagsdinge aus der Museumssammlung erweisen sich als ein hervorragender Anlass zum Gespräch über Erfahrungen der Vergangenheit und gegenwärtiges Leben. Sie bergen vielfältige Bedeutungen und Erinnerungen, etwa an Kindheit, Familienleben, Reisen, die Mühen ihres Erwerbs von Konsumgütern, die Freuden oder Ärgernisse des Gebrauchs. Bürger*innen aus Ostdeutschland spendeten, was ihnen zuvor lieb und teuer war und ihnen nun wert erschien, in das Museum aufgenommen zu werden. Getreu dem Motto, mit dem Christa Wolf ihren Roman „Kindheitsmuster“ eröffnete: „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal Vergangenheit“. Kurzum, all diese Objekte sind aufgeladen mit Emotionen und Geschichten, in denen sich Subjektives mit Kollektivem vermischt. Aufgeladen also auch mit Geschichte (im Singular), ein soziokulturelles System und seine Zielvorstellungen bezeugend. Zum Beispiel erzählt das elektrische Küchengerät vom Streben nach der Rationalisierung des Heims, der propagierten Befreiung der Frau aus den Fesseln des Haushalts; oder das sachlich geformte, bunte Kunststoffgeschirr von der Überwindung des Mangels nach den Jahren der Beschränkung und vom Aufbruch in eine frohgemute und egalitäre Konsummoderne. Dabei bleiben die Erinnerungen an die DDR ambivalent und die Positionen zu ihr kontrovers. Je nachdem, wer spricht und worüber gesprochen wird: Der politische Zwang und die fehlenden persönlichen Freiheiten auf der einen Seite, die sozialen Freiheiten und der materiell gesicherte Alltag auf der anderen. Pauschalbegriffe wie „Unrechtstaat“, die in der politischen Auseinandersetzung und auch der politischen Bildung oft zu hören waren, gehen darüber hinweg. Doch gerade die Kontroversität, die in der Rückschau auf die DDR im gesellschaftlichen Diskurs so klar hervortritt, kann als Diskussionsanreiz genutzt werden. Hierin liegt auch eine Chance, manches, was wir als selbstverständlich betrachten, in unserem Alltag als „alternativlos“ erfahren, zu hinterfragen. Der Anspruch auf eine sozial gerechte Gesellschaft bestand und besteht ja unabhängig vom „Realsozialismus“. Sie experimentierte mit dem individuell variierbaren „Möbelprogramm Deutsche Werkstätten“ (MDW). Es verhieß einst eine selbstbestimmte Ausgestaltung des Heims in, so hoffte man zunächst, ebenfalls variablen Wohnungsgrundrissen. Dazu ein Beispiel aus der Vermittlungs­praxis des Museums: Eine Schulklasse erkundete 2023 im Rahmen eines von der Brandenburgischen Architektenkammer initiierten Stadtentdecker-Programms mit Teilen einer Serie von Montagemöbeln aus unserer Sammlung die Potentiale eines vom Abriss bedrohten Plattenbaus für ein modernes, variantenreiches Wohnen. Ende der sechziger Jahre entwickelt, war MDW omnipräsent im Alltag der DDR und ist teils heute noch im privaten Gebrauch. 

Ambivalente Erinnerungen an die DDR

Und nicht nur Möbel konnten visionär sein: Die Ausstellung „Alltag formen“ zu den Spuren des Bauhauses im Industriedesign der DDR ließ den Anspruch deutlich werden, langlebige, reparierbare und aktualisierbare Konsumwaren zu produzieren. Für diesen Ansatz bekannt und bis heute sehr beliebt ist das Mokick Simson S 50, das nach dem „offenen Prinzip“ gestaltet war – offen für Veränderungen durch die Nutzer*innen. Dies begründete Verbesserungen im Alltag, die man beiläufig hinnehmen oder aber als Ausdruck eines umfassenden Entwicklungsmodells begreifen konnte. Der Rückblick auf solche Leistungen, auch wenn sie exemplarisch blieben, kann heute Perspektiven für das Meistern unserer Zukunft freisetzen. Szenenwechsel: Ebenfalls Anfang der 1990er Jahre entstand, losgelöst vom Geschehen in Eisenhüttenstadt, aber kaum 30 km von dort entfernt, das Kunstarchiv Beeskow. Ein Rettungsarchiv für Kunstwerke aus dem Besitz der ehemaligen Massenorganisationen und Parteien der DDR, teils beauftragt, teils angekauft und nun einem pauschalen Ideologieverdikt unterworfen, ja von manch einem kaum noch zur „Kunst“ gerechnet. Einen differenzierten Blick richteten auf das Kunstgeschehen in der DDR in der „Wendezeit“ nur wenige. Dass zwischen dem Diktat des sozialistischen Realismus und dem ungemein vielfältigen Schaffen Welten lagen, sich die Künstler*innen lange vor den Auswirkungen der Perestroika immer weitere Freiräume erobert hatten, verbarg sich der westlich dominierten Wahrnehmung. In den Gemälden, Grafiken, Skulpturen und weiteren Arbeiten im Kunstarchiv Beeskow scheint das Politische teils emphatisch, teils verhalten kritisch heraus oder es ist schlicht beiseitegelassen. Arbeiter*innen sind in Porträts gebannt wie früher nur Fürsten, mythische Figuren wie Ikarus oder Prometheus fordern die Götter heraus, verweisen auf die weltenverändernde Kraft des Willens – und scheitern nicht selten. Das Utopische in diesen Bildern tritt nicht immer sofort an die Oberfläche, ist teils verkapselt in christliche Ikonographie wie dem Turmbau zu Babel. 

Auch hier werden Hoffnungen und Sehnsüchte verhandelt, wie sie die Menschen von je her bewegten und es weiter tun. Es werden Bedeutungen transportiert, die teils fragwürdig sind, teils aktiviert werden können, um uns selbst zu hinterfragen. Neben Kunst- und Alltagsgegenständen sind es urbane Räume, in denen dem Verhältnis von Utopie und Alltag nachgespürt werden kann. Die Planstadt Eisenhüttenstadt, ein gebauter Zukunftsentwurf, lädt dazu ein. In der Ausstellung „Ohne Ende Anfang. Zur Transformation der sozialistischen Stadt“ schauten wir 2021/22 auf die industriellen Gründungsstädte Eisenüttenstadt, Schwedt und Nova Huta. Sie alle verstanden sich als „Grundrisse einer besseren Welt“ (Ernst Bloch). Der politische Umbruch 1989/1990 und der drauf folgende Wandel von gesellschaftlichen Leitbildern wirkten sich in diesen Modellstädten besonders aus: Hohe Abwanderung und die Gefährdung ihrer monoindustriellen Grundlage stellten sie vor die Existenzfrage. Was vor wenigen Jahren fast überwunden erschien, wird im Zuge der Klimatransformation erneut virulent. In einem Veranstaltungszyklus luden wir daher Expert*innen, Akteur*innen und die Öffentlichkeit zu Diskussionen über Themen ein wie den Wandel der Arbeit, des Wohnens, des Verkehrs, der Kultur, speziell in Städten wie Eisenhüttenstadt, abseits gelegenen von den boomenden Metropolen. In der Ausstellung konnten Gäste ihre Gedanken und Wünsche für die urbane Transformation darstellen. Die Vielzahl der Äußerungen, die in einer Podiumsdiskussion ausgewertet wurden, zeigte, wie sehr die Menschen diese Fragen beschäftigt.

Kunst- und Alltagsgegenstände aus der Vergangenheit als Denkanstoss für Zukunftsvisionen

Begleitend zur Schau entwickelten wir einen Workshop für Schulen, der Stadtgeographie mit zeitgeschichtlichen und kunstpädagogischen Themenstellungen verband: Wie sind die urbanen Funktionen in der Planstadt räumlich organsiert, wie sind sie architektonisch und bildkünstlerisch gestaltet, welchen Wandel durchlief die Nutzung und symbolische Wahrnehmung der Stadt nach 1989? Die Schüler*innen nahmen explorative Rundgänge vor, befragten Bürger*innen, fertigten kleine Filme an, kartierten ihre Beobachtungen. Eisenhüttenstadt, als konkrete Stadtutopie des DDR-Sozialismus, in seinem „Realzustand der Unfertigkeit“ (wieder aus dem „Prinzip Hoffnung“ zitiert), bietet sich hierzu an. Das Seminarangebot hat sich nach dem Ende der Ausstellung im Vermittlungsprogramm des Museums fest etabliert. Aber auch sonst ist die „Zukunft in der Vergangenheit“ am Standort Eisenhüttenstadt immer wieder Ausgangspunkt partizipativer und performativer Aktivitäten. Geradezu überwältigende Resonanz erfuhr dies in dem gemeinsam mit weiteren lokalen und überregionalen Akteursgruppen durchgeführten Projekt „Auf den Platz, fertig, los!“, das sich der Rückgewinnung eines scheinbar verlorenen Ortes widmete: eines Schulkomplexes aus den frühen sechziger Jahren und eines leerstehendes Wohngebietszentrums mit der Adresse „Platz der Jugend“. Beide verbanden Lernen und Quartiersleben auf damals neue Weise. Das umfangreiche Programm, das 2024 in eine weitere Runde geht, enthielt verschiedene außerschulische Lernangebote. Klassen aus drei regionalen Schulen trafen sich in einer mehrtägigen Sommerschule, um auf dem Platz zu arbeiten und nach verschütteten sozialen und stadträumlichen Qualitäten zu suchen. 

Zukunft in der Vergangenheit

Sei es mit distanziertem oder mit engagiertem Blick: Man kann aus der Geschichte und den in ihr aufgehobenen Entwürfen viele Denkanstöße für unsere heutige Zeit gewinnen – „gerade weil das weitest reichende Fernrohr notwendig ist, um den wirklichen Stern Erde zu sehen, und das Fernrohr heißt konkrete Utopie“, so noch einmal Ernst Bloch. Und auch unser Planet wird im globalen Horizont die Arbeit der Museen und Bildungsstätten zunehmend bestimmen. Das Museum Utopie und Alltag hat es sich zur Aufgabe gemacht, Globales auf Lokales, Wissenschaft auf Alltag, Alt auf Jung treffen zu lassen, um gemeinsam Alltagskultur, Kunst und Baukultur, um Gesellschaftsentwürfe und Transformationsprozesse zu verhandeln.


Literatur

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1974 (urspr. 1959), ­3 Bde. 

Wolf, Christa (1976): „Kindheitsmuster“. Berlin.

Ludwig, Andreas (1999): Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin.

Becker, Franziska / Merkel, Ina / Tippach-Schneider, Simone (Hg.) (2000): Das Kollektiv bin ich. Utopie und Alltag in der DDR. Köln.

Gillen, Eckhart (2012): „Unser Ziel mag eine Utopie sein. Aber was wäre das Leben ohne Utopie?“ Kunst und Leben in der DDR zwischen Utopieerwartung und Utopieermüdung, in: Rehberg, Karl-Siegbert / Holler, Wolfgang / Kaiser, Kaiser (Hg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Köln, S. 51 ff.

Noack, Janine/Schmitt, Martin (2015): Utopie & Alltag. Perspektiven auf Ideal und Praxis im 20. Jahrhundert. Bericht zur gleichnamigen Tagung am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam, 23.4.2015 - 24.4.2015. Online abrufbar: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5995 (zuletzt geprüft am 24.1.2024)

Assmann, Aleida (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München. 

Sukrow, Oliver (2018): Arbeit, Wohnen, Computer. Zur Utopie in der bildenden Kunst und Architektur der DDR in den 1960er Jahren. Heidelberg.

Die Autor*innen

Andrea Wieloch hat Kulturmanagement und Medienwissenschaft studiert und leitet seit März 2023 das Museum Utopie und Alltag – Alltagskultur und Kunst aus der DDR.

Axel Drieschner ist Kunsthistoriker und Historiker. Seit 2016 ist er am Museum Utopie und Alltag als Kurator mit Ausstellungsprojekten und der Entwicklung der Sammlung befasst.

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