Dynamik und Wandel des Heimatbegriffs

Anja Oesterhelt: Geschichte der Heimat. Zur Genese ihrer Semantik in Literatur, Religion, Recht und Wissenschaft. Berlin/Boston (De Gruyter Verlag) 2021, 660 S., 113,95 € und open access.


Seit einigen Jahren erlebt der Heimatbegriff eine Renaissance in gesellschaftlichen Debatten, Wissenschaft, Medien, Literatur, Film, Kunst sowie als ökonomische Erlebnisressource zum Beispiel bei der Vermarktung regionaler Produkte. Dabei wird offenbar, wie relativ und komplex das Wort Heimat im 21. Jahrhundert verwendet wird. Der Begriff ist nicht allgemeingültig zu definieren und wird überaus kontrovers diskutiert. Für die politische Rede ist insbesondere die Dehnbarkeit der Heimatsemantik attraktiv. Dementsprechend findet Heimat von vielen Seiten Zuspruch, auch in antidemokratischen Milieus. Aber auch die Gesellschaftswissenschaften haben den lange Zeit als rückwärtsgewandt und spießig eingestuften Begriff, der bislang kein herausgehobenes Thema war und selten exklusive Aufmerksamkeit erfuhr, (wieder)entdeckt. Rund um das Phänomen „Heimat“ ist mittlerweile ein interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, an dem sich diverse geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen beteiligen. Im Rahmen der wissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre sticht die aktuelle Studie der Literaturwissenschaftlerin Anja Oesterhelt von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur „Geschichte der Heimat“ heraus. In ihrer ambitionierten und facettenreichen Publikation rekonstruiert die Autorin die Entstehung und die Transformation des modernen Begriffs „Heimat“. Für Oesterhelt ist „die Geschichte der Heimat […] eine Geschichte des langen 19. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum wird Heimat eine neue semantische Dichte verliehen, die alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst […]“ (11). Den Epochenbegriff des langen 19. Jahrhunderts, der auf den britischen Historiker Eric Hobsbawm zurückgeht, verwendet sie für ihre Untersuchung, die sich auf den Zeitraum von der Mitte der 1770er Jahre bis 1914 konzentriert.

Zu Aufbau und Inhalten der Studie: Einführend geht Oesterhelt nach Darstellung ihres Forschungsansatzes sowie der Diskussion basaler methodischer Grundannahmen, die sie mit Fokus auf und in Abgrenzung zu repräsentativen Heimat-Studien ab den 1970er Jahren führt, auf verschiedene Begriffskonstellationen ein. So setzt sie als eine „Art Einleitung“ im Kapitel „Grundfiguren“ den Heimatbegriff in Beziehung zu Begriffen, die aus ihrer Sicht nicht aus dem „intuitiven Vorverständnis von Heimat“ (65) herauszuhalten sind, wie Vaterland, Volk, Frau, Fremde und Dichtung. Erhellend sind die Ausführungen zum Kinderbuch Die Biene Maja und ihre Abenteuer von 1912, das im Ersten Weltkrieg zum Bestseller wurde und seinen Autor Waldemar Bonsels zum erfolgreichsten Kinderbuchautoren seiner Zeit machte. Diese verdeutlichen, wie weit Volk und Heimat in Bildern, die das Tierleben humanisieren, „zu einem…

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Der Rezensent

Dr. Jens Korfkamp, Sozialwissenschaftler und Leiter der Verbandsvolkshochschule Rheinberg (Rheinland)

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