„Wo sind die Kinder? – Im Bunker“
Im September besuchte ich meine Heimatstadt in der Ukraine. Diese befindet sich im westlichen Teil des Landes und heißt Tscherniwzi. Während meines Aufenthalts traf ich mich mit Menschen, die sich im Rahmen des städtisch unterstützen Jugendbildungszentrums „Youth Residence Chernivtsi“ (‚Jugend-Residenz‘) in der non-formale Bildung engagieren. Hier berichte ich über die derzeitige Arbeit des Jugendzentrums, Projekte und Themen, die heute aktueller denn je sind, sowie über den Mut der Menschen, in dieser schweren Zeit ihre Arbeit weiterzumachen.
Der Weg nach Hause
Es ist etwas besonders, in Zeiten des Krieges nach Hause zu fahren. Obwohl ich wusste, dass meine Region relativ sicher ist (sie war bis September 2022 mit die einzige in der Ukraine, welche noch nicht mit Raketen beschossen wurde), hatte ich doch Angst dorthin zu fahren, vor allem wegen der Emotionen und Gefühle, die ich dort erleben würde. Wie schafft es meine Familie schon seit mehreren Monaten mit den Sirenen des Luftalarms und der ständigen Angst zu leben? Wie geht es meinen Freunden und Bekannten, die gerade an der Front sind? Und wie ihren Familien, die ständig damit rechnen müssen, die schlimmsten Nachrichten zu bekommen? Die Verbindung über Skype oder Telefon zu halten, ist die eine Sache, aber vor Ort zu sein etwas ganz anderes.
Auswirkungen des Krieges deutlich spürbar
Was ich dann aber in meiner Stadt gesehen habe, hat mich sehr überrascht. Der Krieg und seine Auswirkungen sind deutlich in der Stadt zu spüren, aber er hat die Menschen nicht gebrochen. Ganz im Gegenteil: Der Geist des Widerstandes und der Wille diesen Angriff abzuwehren, verbindet sie. Die Menschen gehen zur Arbeit, ins Theater, ins Kino; es finden Veranstaltungen, Messen und Feste statt. Die Stadt lebt, und das Interessanteste ist, dass sie mit Beginn des Krieges dynamischer und schneller geworden ist. Viele Tausende von Menschen aus den östlichen und zentralen Regionen der Ukraine haben in Tscherniwzi Zuflucht gefunden und verändern die Stadt. In ihrer Not stoßen sie positive Veränderungen in vielen Bereichen an, zu der auch die Arbeit mit jungen Menschen zählt.
Residenz für Jugendliche
Die ‚Jugend-Residenz‘ in Tscherniwzi ist ein Ort für Treffen, Workshops und Projekte, bei denen Menschen außerhalb der Schule oder Universität zusammenwirken können. Die Institution wurde im August 2021 eröffnet und führte seitdem mehrere Projekte, Seminare und Vorlesungen durch. Die behandelten Themen sind sehr vielfältig – von der aktiven politischen Beteiligung auf der lokalen Ebene über historische und politischer Bildung bis hin zu so wichtigen, aber bislang wenig in der ukrainischen Gesellschaft verbreiteten Themen wie Inklusion. Letzteres ist ein besonderes Thema für die Mitarbeitenden der Residenz. Eines der letzten Projekte vor dem russischen Angriff im Februar 2022 hieß „Kunst ohne Grenzen“ und vereinte Menschen mit und ohne Behinderungen zum künstlerischen Zeichnen. Die entstandenen Kunstwerke sollten bei einer Auktion verkauft werden, um das gesammelte Geld der Wohltätigkeit zur Verfügung zu stellen. Nach dem 24. Februar aber war allen Beteiligten klar, mit dem Geld die ukrainische Armee zu unterstützen.
Der 24. Februar – ein neues Kapitel der ukrainischen Geschichte
Der umfassende russische Angriff Ende Februar veränderte das Leben aller Ukrainer*innen von einem Tag auf den anderen. Bereits seit 2014 lebt das Land mit einem Krieg, der sich nach der Annexion der Krim und dem russischen Einmarsch zwar auf die östlichen Gebiete des Landes beschränkte, jedoch mehr als eine Million Menschen zur Flucht zwang. Der 24. Februar 2022 hatte eine neue, viel stärkere Dimension und traf in seiner Wucht nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Welt. Nicht nur drastische Zerstörungen, auch die massive Flucht innerhalb des Landes und aus dem Land heraus, prägen seitdem die Ukraine. Während manche Regionen direkt vom Krieg betroffen und teils okkupiert sind, gibt es Orte der relativen Sicherheit. Zu solchen Orten gehört auch Tscherniwzi. Mehr als 50.000 Menschen sind in den ersten Wochen hierher geflohen. In die Versorgung der Geflüchteten sind alle Institutionen der Stadt involviert.
Die ganze Stadt war involviert
In den ersten Tagen nach dem 24. Februar war die ‚Jugend-Residenz‘ nicht nur Zentrum für non-formale Bildung in der Stadt, sondern Anlaufpunkt für Hilfe jeder Art, Koordinierungspunkt für humanitäre Hilfe und weitere notwendige Sachen. Hier wurden Geflüchtete in Unterkünfte vermittelt und mit humanitären Hilfsgütern versorgt. Später diente es auch als Zentrum für psychologische Hilfe und Betreuung. Drei Monate lang funktionierte das Zentrum in diesem Modus. Viele der Angekommenen sind selbst zu Freiwilligen geworden und wurden aktiv. Diese Netzwerke zwischen Menschen existieren bis heute.
Das Zentrum heute – Fragen, Themen, Herausforderungen
Nach den ersten drei intensiven Monaten ist das Jugendzentrum langsam zu seiner ursprünglichen Arbeit zurückgekehrt. Es war wichtig, die Stabilität wiederzufinden und eine neue Normalität für sich selbst, aber auch für die Besucher*innen des Zentrums zu gewinnen. Dies gelang durch die Umsetzung von Bildungsangeboten. Dabei musste gut überlegt werden, welche Themen einerseits wichtig und aktuell sind, andererseits aber keine weiteren Trauma-Erfahrungen provozieren. Eine der Herausforderungen war es, sich darüber klar zu sein, dass alle Beteiligten – von den Workshopleiter*innen bis zu den Teilnehmenden – vom Krieg beeinflusst und gegebenenfalls traumatisiert sind. Psychologische Hilfe und Betreuung hatten und haben daher einen wichtigen Stellenwert. Auch Erste-Hilfe-Kurse sind gefragt und werden in den Räumlichkeiten der Residenz angeboten. Diese Angebote werden für gewöhnlich nicht mit non-formaler Bildung assoziiert, sind jedoch angesichts der Realität in der Ukraine nötiger denn je.
Die Themen, welche die jungen Menschen gerade am meisten interessieren, drehen sich oft um die Geschichte. Was ist die Geschichte des Landes und dieser Stadt? Was ist in der Vergangenheit geschehen und warum ist es wichtig, gerade jetzt über die Geschichte zu sprechen? Diese Themen haben mit Fragen der Identität und Zugehörigkeit zu tun, die für Ukrainer*innen heute besonders relevant sind. Die Prozesse der Dekolonisierung und Distanzierung von der so genannten ‚großen russischen Kultur‘ spielen dabei eine wichtige Rolle.
Bildungsangebote wurden thematisch erweitert
Ein gutes Beispiel dafür ist der Wunsch vieler Geflüchteter, einen Sprachkurs der ukrainischen Sprache zu besuchen. Viele Menschen in der Ukraine haben Russisch als Muttersprache gelernt, wollen sich aber nach dem Angriff Russlands und den Verbrechen durch russische Soldaten nicht mehr mit dem Land assoziieren – weder kulturell noch sprachlich. Es ist nicht einfach, über diese Themen zu reden, doch es besteht ein großer Bedarf und Interesse daran. Das Wichtigste, was das Zentrum bieten kann, ist die Kommunikation und gegenseitige Unterstützung und das schon seit mehr als acht Monaten.
Die nach wie vor größte Herausforderung in der Arbeit, ist der Krieg. Selbst in einer relativ sicheren Stadt im westlichen Teil des Landes gibt es regelmäßig Luftalarm, manchmal sogar mehrmals pro Tag. Er wird ausgelöst, wenn eine Rakete, ein Flugzeug oder ein anderes Flugobjekt, wie seit kurzem Kamikaze-Dronen, in Richtung Stadt fliegen und eine Gefahr für die Menschen in der Region bedeuten (können).
Luftalarm beeinflusst die Arbeit
Gemäß allgemeingültiger Regeln müssen während des Alarms alle Menschen in die Schutzbunker gehen und das Ende der Sirene abwarten. Als ich das Zentrum besuchte, war gerade Luftalarm. Wir haben unser Gespräch daher in einem Kellerraum geführt, der als sicherer Ort zählte. Zwischendurch kamen Eltern hinein, die ihre Kinder abholen wollten (das Zentrum organisiert auch unterschiedliche Unterrichte für geflüchtete Kinder, damit sie sich von der teils schwierigen Situation zuhause ablenken können). Auf die Frage „Wo sind die Kinder?“ antworteten Mitarbeitende des Zentrums „Im Bunker“. Das ständige Gefühl der Gefahr, dazu Stress und Angst – daran kann und sollte man sich nicht gewöhnen. Das jedoch sind die Herausforderungen, welche Ukrainer*innen jeden Tag erleben. Neben der Frage nach Kinder- und Menschenrechten und dem Recht auf Bildung, geht es für viele Menschen in der Ukraine um die Frage der Existenz.
Zukunft
Das Leben aber geht weiter. Auf die Frage, wovon sie für ihre Arbeit träumen, sagten die Mitarbeitenden des Jugendzentrums: „Wir wollen, dass unsere Stadt die ukrainische und danach auch europäische Jugendhauptstadt wird! Wir haben alles dafür und das ist unser Traum!“ In kleinen, aber wichtigen Schritten machen die Leute beständig ihre Arbeit.
Was können wir hier in Deutschland, in einem sicheren europäischen Land machen? – Daran erinnern, dass der Krieg nicht vorbei ist. – Wissen, dass die Leute in der Ukraine Unterstützung und Solidarität brauchen. – Mit und über die Ukraine mit Ukrainer*innen sprechen und die Ukraine als selbständiges Land verstehen, mit einer eigenen Kultur und Geschichte. – Gerechtigkeit statt nur Verhandlungen fordern und auf der Seite der Ukraine stehen. Denn diese Zeit ist eine der gemeinsamen Herausforderung für Europa.
Zitation
Bahlei, Anna (2023). "Wo sind die Kinder? - Im Bunker". Über die Herausforderungen für non-formale Bildung während des Krieges in der Ukraine, in: Journal für politische Bildung 1/2023, S. 4-7, DOI https://doi.org/10.46499/2232.2622.Die Autorin
Alla Bahlei ist Studentin des Masters „Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropa“ an der Europa-Universität Viadrina. Sie arbeitet im Bereich der non-formalen Bildung und engagiert sich ehrenamtlich bei Hilfsinitiativen für Geflüchtete aus der Ukraine.