„Volles Boot“ und „offene Grenzen“

Ungeachtet der durchaus angebrachten prinzipiellen Kritik am Integrationsbegriff lassen sich in deutschen Integrationsdiskursen zwei Strömungen voneinander unterscheiden, die sich zuweilen geradezu feindselig gegenüberstehen. Bei aller Gegensätzlichkeit gibt es jedoch auch übergreifende Anknüpfungspunkte, die Bausteine für eine konstruktive Integrationspolitik sein können.

Autoritär-paternalistische Verirrungen
Das autoritär-paternalistische Integrationsparadigma geht im Grundsatz davon aus, dass es so etwas wie eine ‚Leitkultur‘ gibt, welche die dominante bzw. hegemoniale kulturelle Prägung einer auf ihre ethnische Zusammensetzung begrenzten ‚Mehrheitsgesellschaft‘ beschreibt. Nach dieser Vorstellung hat die Mehrheit der Alteingesessenen das Recht, gegenüber den Neuhinzukommenden eigenmächtig über die Verteilung von Ressourcen zu verfügen. Als fremd wahrgenommene äußere Einflüsse stellen eine potenzielle Bedrohung für das Bestehende dar, so dass ihnen gegenüber mit Skepsis, Abwertung und Ablehnung reagiert wird.

Das Beispiel ‚Sprache‘ verdeutlicht, wohin die angstgetriebene autoritäre Attitüde integrationspolitisch führt. „Sprache als Schlüssel zur Integration“ aufzufassen, mag durchaus angehen, sofern erstens deutsche Sprachkompetenz nicht als allein ausschlaggebendes Integrationskriterium definiert und zweitens das bevorzugte Sprechen der eigenen (nicht-deutschen) Muttersprache nicht automatisch als mutmaßliches „Integrationshindernis“ geächtet wird. Anstatt Mehrsprachigkeit als Ressource zu begreifen, wird ein „Imperativ der Integration“ (Bojadžijev 2018: 58) aufgestellt, der sich in Parolen wie „Deutsch-Pflicht auf Schulhöfen!“ äußert. Diese Disziplinierung droht in Diskriminierung umzuschlagen, die ihrerseits ein tatsächliches „Integrationshindernis“ darstellt (vgl. Böcker 2021: 356–358), da zu hohe Anpassungsanforderungen und zu häufige Ausgrenzungserfahrungen zu desintegrativen Abschottungsneigungen und destruktiven Auflehnungsversuchen führen können. Aus der Sehnsucht nach vertrauter Eindeutigkeit und liebgewonnener Stabilität, nach ewiggültigen Regeln sowie Ruhe und Ordnung erwachsen autoritär-paternalistische Ressentiments und Rhetoriken sowie Prinzipien und Politiken. Ihnen gemeinsam ist der Gestus überheblicher Bevormundung, der den „Neuankömmlingen“ – selbst denjenigen, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland heimisch geworden sind – teilweise bis ins letzte Detail in deren Lebensgestaltung und -entfaltung hineinregiert. Neben der Deutsch-Pflicht in der Schule kann dies auch das Gebot zum Singen der deutschen Nationalhymne beim Fußballturnier oder das Verbot des Kopftuchtragens am Arbeitsplatz bedeuten.

Für all diejenigen, die im Spektrum eines autoritären Populismus zu verorten sind, ist „Flucht und Asyl“ längst zu einem politisch verwertbaren Lieblingsthema geworden (vgl. Schäfer/Zürn 2021: 154). Namentlich der Aufstieg der AfD wurde durch ihre…

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Der Autor

Prof. Dr. Thomas Bryant ist Gastprofessor für politologische und soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Bezirksbeauftragter für Partizipation und Integration des Bezirksamts Marzahn-Hel­lersdorf, Berlin, sowie Mitgründer und Erster Vorsitzender des Vereins „Kliopolis e. V. – Gesellschaft für historisch-politisches Wissen und Wirken“.

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