Unterschwellige Botschaften

Influencer*innen erzählen vor allem Geschichten aus ihrem Alltag, besonders gerne über das Shoppen und teure Produkte. Über ihre Videos und Posts vermitteln die digitalen Meinungs­macher*innen allerdings auch oft fragwürdige gesellschaftspolitische Werte. Einen unverhohlenen Konsumismus allemal, teilweise aber auch tradierte Rollenbilder bis hin zu Sexismus.

Seit Jahren schon führt Tilo Jung auf seinem YouTube-Kanal „Jung und naiv“ kritisch-originelle Interviews mit teils hochrangigen Politiker*innen. Pia Kraftfutter will in ihren Videos und auf Instagram demonstrieren, was man für eine ökologisch-nachhaltige Lebensweise tun kann. Die ehemalige Beauty-Bloggerin Diana zur Löwen präsentiert sich seit einiger Zeit als eine Art psychosozialer Coach und Mentorin für ein aufgeklärtes Weltbild. „Neverforgetniki“ hingegen, ein „junger Blogger und freier Journalist“ aus Cottbus (so seine YouTube-Kanal-Info), wettert in seinen Videos gegen den angeblichen politischen Mainstream mit deutlich AfD-nahem Einschlag. Als Urgestein der politischen Influencer*innen gilt LeFloid, der als erster YouTuber 2016 Bundeskanzlerin Angela Merkel interviewen durfte.

Die kurze Auflistung zeigt: Es gibt in der Tat Influencer*innen auf YouTube wie auch in anderen sozialen Medien, die Politik explizit zu ihrer Sache machen. Der Begriff Influencer*in hebt darauf ab, dass die Medienschaffenden ihr Publikum beeinflussen, was sich meist weniger auf Politik, sondern vor allem auf Kaufentscheidungen ihrer Fans bezieht. Gelegentlich bezeichnen sie sich auch als „Creators“, um die kreative Seite ihres Schaffens zu betonen, oder als „YouTuber*in“, was die Aktivitäten auf die gleichnamige Video-Plattform begrenzt.

Seit der Flüchtlingsbewegung 2015, seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie und den damit folgenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens, vor allem mit dem Aufkommen der Fridays-for-Future-Bewegung seit einigen Jahren dürfte ihre Zahl deutlich zugenommen haben. In diesem Kontext hat sich auch der Begriff „Sinnfluencer“ etabliert. Dessen ungeachtet bleibt die Dominanz der kommerziell orientierten Influencer*innen, die vor allem auf Entertainment setzen, ungebrochen. Was allerdings oft übersehen wird: Auch sie transportieren zumindest unterschwellig politische Botschaften, denn sie vermitteln bestimmte gesellschaftliche Werte.

Dominanz des Trivialen
Die Vorherrschaft der Unterhaltung spiegelt sich in einer qualitativen Inhaltsanalyse der 100 nach Abonnentenzahlen führenden YouTube-Kanäle wider, die von Deutschland aus betrieben werden (vgl. Frühbrodt/Floren 2019). Demnach bietet über ein Drittel der Kanäle Unterhaltungsformate wie Comedy, Streiche (sog. Pranks), Wettkämpfe (sog. Challenges) und Video-Tagebücher (sog. Vlogs). Ein Viertel sind reine Musikkanäle. 15 Prozent der Channels sind primär durch digitale Spiele (Gaming) geprägt. Knapp 10 Prozent sind dem Bereich Beauty & Lifestyle zuzuordnen. Gerade einmal vier Kanäle beschäftigen sich im weiten Sinne mit Politik und Wissen (vgl. Abb. 1).

Die Daten wurden im April 2018 aus der Marktforschungsplattform Social Blade gewonnen und Anfang 2019 ausgewertet. Eine erneute Stichprobe im Januar 2021 zeigt, dass die Zusammensetzung der Top 100 Bestand hat – bis auf eine Veränderung: Einige Kanäle speziell für Kinder wie „Crazy Frog“ oder „Kinder Spielzeug Kanal“ belegen inzwischen Spitzenplätze, sodass einige Influencer*innen etwas abgerutscht sind. Dies zeugt in erster Linie von einer geänderten Nutzungsstruktur von YouTube. Das heißt, dass offenbar zunehmend Kinder die Videoplattform nutzen. Dafür spricht auch, dass in den vergangenen Jahren auch sogenannte „Kidfluencer“ aufgekommen sind: Kinder, die mit einem Elternteil zusammen als Hauptakteur*innen in den Videos auftreten.

Die Untersuchung hat darüber hinaus ergeben, dass die dargebotene Video-Unterhaltung oft stark triviale Züge aufweist. Oft werden sehr einfache Ideen und müde Gags durch das bewusste Hinauszögern der Pointe zu einer vermeintlich großen Nummer aufgeblasen. Irgendwelchen Hintersinn oder Tiefgang sucht man vergebens. Es gibt auch Ausnahmen (wie z. B. die Videos von Julien Bam), aber sie bestätigen die Regel. Diese scheint zu lauten: Je mehr Klamauk die Videos aufweisen, desto höher die Aufrufzahlen. Die einfache Machart der Stücke ist darauf zurückzuführen, dass YouTuber*innen ihre Videos in der Regel ohne übermäßig großen dramaturgischen Aufwand produzieren – zumindest war dies ursprünglich der Fall. Vielmehr stehen Alltagsaktivitäten im Mittelpunkt, dabei vor allem das Shoppen, Auspacken und Kommentieren von Produkten. So verwundert es nicht, dass viele Videos werblichen Charakter haben.

Die Algorithmen von YouTube (und anderer sozialer Netzwerke) fördern offenbar die Sichtbarkeit von Videos auf der Plattform, die einen Mix aus Emotion, Polarisierung und leichter Unterhaltung bieten. YouTube ist von seinem Eigentümer Alphabet/Google in erster Linie als Plattform für Werbung konzipiert – und diese sollte möglichst in einem werbefreundlichen Umfeld platziert sein. Dieses Umfeld wird deutlich besser durch unverfängliche Unterhaltung hergestellt als durch problemorientierte Inhalte wie etwa kritische Gedanken über die sozialen Folgen des Klimawandels. Kommerzielle Interessen verfolgen auch die Influencer*innen, die ihre Tätigkeit mindestens genauso zum Geldverdienen wie zur Meinungsbildung nutzen wollen.

Fast alle deutschen YouTube-Kanäle in den Top-100 setzen deshalb auch die eine oder andere Form von Werbung ein. Federführend sind hierbei die Influencer*innen. So sind bei YouTube zum Beispiel klassische Werbespots, wie man sie in ähnlicher Form aus dem Fernsehen kennt, ihren Videos vorgeschaltet. Deutlich beliebter bei den Werbetreibenden ist aber die sogenannte integrierte Werbung. Hier bindet der/die Influencer*in die Werbung in den Handlungsverlauf des Videos aktiv ein, eine deutliche Abgrenzung vom redaktionellen Eigenanteil wird fast unmöglich und ist auch nicht gewollt. Weitere Einnahmequellen von Influencer*innen sind Fanartikel wie Basecaps oder Handyschalen sowie zum Teil eigene Produktlinien – etwa für Kosmetikartikel –, die in das Portfolio von Markenherstellern eingebettet sind.


Influencer*innen bieten soziale Orientierung



Influencer*innen spielen eine prägende Rolle in den sozialen Medien. So machen diese digitalen Meinungsführer*innen, die meist als Einzelpersonen auftreten, über die Hälfte der Top-100-Kanäle aus. Unter den Top 20 sind allein 15 Influ­en­cer*innen zu verzeichnen. Am bekanntesten dürfte Bianca Claasen mit ihrem Kanal „Bibis Beauty Palace“ sein. Zu den reichweitenstärksten Influencer*innen gehören außerdem Pamela Reif, Dagi Bee, ConCrafter Luca, Paluten sowie Simon Desue. Deren Kanäle weisen zwischen 2,5 und sechs Millionen Abonnent*innen auf. Sie verfügen also über eine erhebliche Wirk- und Meinungsmacht. Viele Influencer*innen sind inzwischen auch auf der weitgehend bildbasierten Social-Media-Plattform Instagram und dem Kurzvideodienst TikTok aktiv. In letzter Zeit betreiben Influencer*innen auch zunehmend Podcasts.

Virtuelle Stars – scheinbar zum Anfassen
Wie nun kommt die soziale Wirkmacht von Influencer*innen zustande? Welche spezifischen Eigenschaften muss ein/e erfolgreiche/r digitale/r Meinungsführer*in mitbringen oder entwickeln? Dazu gehören zunächst eine gewisse persönliche Ausstrahlung sowie ein besonderes Wissen auf einem Themengebiet wie Kosmetik oder Onlinespiele.

Deutlich wichtiger als Fachwissen ist jedoch eine hohe kommunikative Kompetenz: Der/die Influencer*in muss wissen, auf welche Weise die Zielgruppe erreicht wird, ob es sich nun um ein junges weibliches Publikum zwischen acht und 13 Jahren handelt oder um junge Männer über 20 Jahre. Die kommunikative Kompetenz besteht hier aus der Wahl eines bestimmten Sprachstils sowie des passenden Formats. Zudem haben heute prominente YouTuber*innen ihre Kanäle über mehrere Jahre aufgebaut. Die meisten laden mindestens einmal pro Woche ein neues Video hoch.

Das entscheidende Erfolgskriterium scheint jedoch Authentizität zu sein. Diese in der Influencer-Szene vielbeschworene „Echtheit“ und „Aufrichtigkeit“ hat mehrere Facetten. Die Videos sollen weitgehend ungeglättet produziert werden, anders als zum Beispiel beim Fernsehen mit seinem Perfektionsdrang. Vielmehr sollen sie quasi-amateurhaft wirken, wie in der eigenen Küche gedreht. Alles scheint spontan und echt, nichts wirkt inszeniert. Und schließlich die dritte und wichtigste Facette: Der/die Influencer*in ist nahbar, was sich auch darin niederschlägt, dass er/sie nicht nur in den Videos direkt zum Publikum spricht, sondern auch in den Kommentarspalten unter dem jeweiligen Video mit den Zuschauer*innen kommuniziert.

Wirkliche Authentizität ist freilich nicht gegeben, weil die Influencer*innen in aller Regel professionelle Unterstützung von Künstler-, Kreativ-, Werbe- und Social-Media-Agenturen erhalten. Diese liefern technische Dienstleistungen und sorgen für die mediale Promotion der Videos. Die Zusammenarbeit reicht aber sogar bis ins Kreative hinein: Teilweise erstellen die Agenturen Konzepte für Formate wie zum Beispiel für eine neue Comedyshow oder auch für einzelne Videos. Hinter den YouTuber*innen agiert also eine hochgradig professionelle Branchenmaschinerie. Dies wissen die meisten Zuschauer*innen jedoch nicht.

Für sie ist der/die Influencer*in ein Idol wie ein Popstar oder ein/e Profi-Fußballer*in. Oft sogar noch mehr: ein/e (virtuelle/r) Freund*in, zu dem/der das Publikum eine dauerhafte kommunikative Beziehung aufbauen kann. Die Medienpsychologie spricht von einer parasozialen Interaktion, wenn reale Personen mit in den Medien auftretenden Personen kommunizieren (vgl. Hartmann 2017). Wenn zum Beispiel Jugendliche regelmäßig in eine parasoziale Aktion mit Influencer*innen treten, dann wird daraus eine parasoziale Beziehung. Dabei handelt es sich um ein bewunderndes Interesse des Fans an seinem Star – oft mit der Folge, dass der Fan den Medienstar in sein Alltagsleben mit einbezieht, vor allem als Ratgeber („Wie würde er/sie sich jetzt verhalten?“).


Präpotenz junger Männer, Glitzerwelt der Mädchen



Wird eine solche parasoziale Beziehung zu einem Massenphänomen mit vielen Influencer*innen und noch sehr viel mehr Followern, dann übernimmt der/die Influencer*in eine parasoziale Meinungsführerschaft. Er/sie übt Einfluss auf seine/ihre Fans aus, der in der Regel deutlich über das Themenfeld des Videos hinausgeht. Gewollt oder ungewollt: Influencer*innen bieten soziale Orientierung an und vermitteln gesellschaftliche Werte. Ein besonders extremes Beispiel ist der Influencer Marcel Eris alias „Montana Black“. Der 32-Jährige aus Buxtehude hat sich zunächst als Online-Gamer einen Namen gemacht, erzählt in seinen Videos inzwischen aber auch aus seinem Alltag und seinem bewegten Leben. „Monte“, wie ihn seine vornehmlich männlichen Fans nennen, war früher drogensüchtig und kriminell. Heute erzählt er mit Stolz davon und prahlt mit Luxusprodukten wie schnellen Autos und teuren Uhren, die er sich nun leisten kann. Montana Black macht Werbung in seinen Videos, mitunter auch schon einmal Schleichwerbung für Online-Casinos. Und er ist wegen sexistischer und teils auch rassistischer Äußerungen wiederholt zeitweilig von der Gaming-Plattform Twitch verbannt worden. Montana Black pflegt ohne Frage sein Image als „Bad Boy“ unter den Influencern, doch ist er mitnichten der Einzige, der dieser Kategorie zuzuordnen ist. Es gibt zahlreiche weitere Influencer*innen, die sich in ihren medialen Auftritten als „Macho“ aufpumpen, sich als laszive „Bitch“ (= Luder, Miststück) inszenieren oder auch als der Männerwelt treu ergebenes „Modepüppchen“. Tatsächliche oder gespielte „Systemkritik“ wird hier in tradierte, ja, fast schon reaktionäre Rollenmuster übersetzt, immer wieder auch bezogen auf das Mann-Frau-Verhältnis in der Gesellschaft.

Dies mögen Extremfälle sein, in abgeschwächter Form sind sie aber weit verbreitet. Die Werte und Einstellungen heutiger Jugendlicher, die durch repräsentative Umfragen wie die Sinus-Jugendstudie ermittelt werden, finden sich folgerichtig nur bedingt in den Top-100-Kanälen von YouTube wieder. Hier der Versuch, durchaus vorhandene materielle Bedürfnisse in Einklang mit dem Schutz der Umwelt zu bringen, dort der blanke Konsumismus bis hin zur Prahlerei. Hier das Streben nach partnerschaftlich-gleichberechtigten zwischenmenschlichen Beziehungen, dort jede Menge Klischees über Geschlechterrollen. Präpotenz junger Männer, Glitzerwelt der Mädchen – so die Namen der sozialen Schubladen.

Conclusio: Freund oder Feind?
Influencer*innen sind in der Regel als (Allein-)Unterhalter*innen unterwegs, vor allem auf dem Feld der leichten Muse. Damit erreicht die Spitzengruppe ein Millionenpublikum. Zuschauer*innen, zumal jüngere, sehen in Influencer*innen oft nicht nur Idole, sondern auch virtuelle Freund*innen. Damit stellen sie einen ernstzunehmenden Faktor in der Sozialisierung vieler Jugendlicher dar. Die medienpädagogische Herausforderung besteht darin, noch nicht voll urteilsfähigen Medien­kon­su­ment*innen zu vermitteln, dass es sich bei den meisten Influencer*innen weniger um vermeintlich nahbare „Supertypen“ und „Superfrauen“ handelt als um werbungtreibende Kleinunternehmer*innen. Mindestens genauso wichtig: Die digitalen Mei­nungsführer*innen vermitteln gesellschaftliche Werte, die es kritisch zu hinterfragen gilt – im positiven wie vor allem negativen Sinne.


Literatur
Frühbrodt, Lutz/Floren, Annette (2019): Unboxing YouTube. Im Netzwerk der Profis und Profiteure. Frankfurt/M., https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-studien/unboxing-youtube/ (abgerufen am 20.02.2021)

Hartmann, Tilo (2017): Parasoziale Interaktion und Beziehungen. Baden-Baden.


Zitation:
Frühbrodt, Lutz (2021). Unterschwellige Botschaften. Influencer*innen als digitale Meinungsmacher, in: Journal für politische Bildung 2/2021, 16-21, DOI https://doi.org/10.46499/1670.1951.

Der Autor

Prof. Dr. Lutz Frühbrodt ist Publizist und Medienkritiker. Er lehrt als Professor für Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt.

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