Soziale Medien und die (politische) Meinungsbildung Jugendlicher

Soziale Medien wurden in den letzten Jahren als wichtige Faktoren des öffentlichen Diskurses erkannt. Grund dafür ist zum einen, dass sich zivilgesellschaftliche Akteur*innen und politische Parteien ihrer in zunehmendem Maße zur Kommunikation bedienen. Zum anderen sind soziale Medien zu einem wichtigen Kanal für populistische Diskurse und zur Verbreitung extremistischer Inhalte geworden. 

Die Frage, inwiefern soziale Medien die Meinungsbildung von Jugendlichen beeinflussen, ist bisher weitgehend unerforscht. Der vorliegende Text möchte deswegen in der genannten Reihenfolge auf folgende Fragen eingehen: Wo genau liegt der Unterschied zwischen Meinungen, Einstellungen und Werten? Welche Entwicklungen sind für das Verständnis aktueller Meinungsbildungsprozesse relevant? Wo genau liegt der begriffliche Unterschied zwischen Meinung, Einstellungen und Werten? Inwieweit verändern soziale Medien den öffentlichen Diskurs und damit die Art und Weise, wie medial über meinungsrelevante Informationen diskutiert wird? Und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die pädagogische Behandlung von Meinungsbildungsprozessen in und mit sozialen Medien?

Meinungsbildung, Einstellungen und Werte
Eine Meinung bezeichnet „die Bewertung eines Objekts durch eine Person, die diese auf der Basis ihres Wissens über das Objekt und vergleichbare Objekte trifft“ (Schweiger 2017: 113). Da sich der Begriff Meinung – wenn er so allgemein gefasst wird – auf sehr verschiedene Objekte bezieht, ist es hilfreich, Objektbewertungen nicht nur als Meinungen zu beschreiben, sondern von Einstellungen und Werten zu unterscheiden.

Meinungen werden gemeinhin zu konkreten Objekten wie Personen, Handlungen oder politischen Forderungen geäußert. In ihrer Bewertung ändern sich Meinungen in Abhängigkeit von der Informationslage und der subjektiven Perspektive relativ schnell. Einstellungen sind im Vergleich dazu konstanter und beziehen sich auf die Bewertung abstrakter Objekte wie zum Beispiel der freien Marktwirtschaft oder dem Umgang mit Migration. Hier hängen Bewertungen nicht an einzelnen Informationen zu Personen oder Handlungen, sondern es werden größere Zusammenhänge und Gruppen betrachtet. Werte beziehen sich als dritter Begriff auf sehr abstrakte Klassen von Objekten. Sie bezeichnen „bewusste oder unbewusste Vorstellungen [des] Wünschenswerten“ (Peuckert 2006: 352), zum Beispiel in Bezug auf Gerechtigkeit, Freiheit oder Liebe. Sie beziehen Einstellungen und Meinungen mit ein, gehen aber über diese hinaus, indem sie konstant bleiben können, während sich gleichzeitig Meinungen und Einstellungen ändern (vgl. Schweiger 2017: 114).


Soziale Medien verändern Kommunikation



Die Unterscheidung zwischen Meinungen, Einstellungen und Werten ist wichtig, um besser zu fassen, was im Kontext von Diskursen um soziale Medien und (politische) Meinungsbildung verhandelt wird. Denn betrachtet man diese genauer, dann umfassen die entsprechenden Zeitdiagnosen neben Meinungen auch Einstellungen und gesellschaftliche Werte (vgl. Pörksen 2018). Mit Blick auf die Aufmerksamkeit, die das Thema im öffentlichen Diskurs genießt, ist jedoch überraschend, dass ein umfassender Ansatz zur Untersuchung von Meinungsbildung fehlt. Das hängt mit der Komplexität der Aufgabe zusammen, aber auch mit der Dynamik gegenwärtiger Entwicklungen, wie zum Beispiel dem Wandel von Öffentlichkeit durch soziale Medien.

Soziale Medien und der Wandel von Öffentlichkeit
Die Nutzung sozialer Medien verändert die Art unserer Kommunikation. Soziale Medien ermöglichen neue Vergemeinschaftungsformen und haben einen wichtigen Einfluss auf öffentliche Aushandlungsprozesse. Im Fachdiskurs unterschieden werden vier unterschiedliche Formen sozialer Medien, die alle gemeinsam haben, dass ihre Nutzer*innen die Inhalte anderer konsumieren, gleichzeitig aber auch problemlos eigene Inhalte produzieren und für andere öffentlich bereitstellen können:

  • Netzwerkplattformen zielen darauf, Verbindungen zwischen ihren Nutzer*innen zu ermöglichen und eigenen Content zu teilen. Zu ihnen gehören unter den Jugendlichen stark genutzten Formate wie YouTube oder TikTok, aber auch soziale Netzwerke wie Facebook.
  • Personal Publishing hat einen stärkeren Fokus darauf, nutzergenerierte Inhalte zu publizieren. Hierzu gehören persönliche Weblogs, aber auch Podcast- und Videocastformate. Ebenso zählen Microblogs wie Twitter oder Instagram dazu.
  • Instant Messaging-Dienste ermöglichen die synchrone Kommunikation zwischen ihren Nutzer*innen. Sie sind mit Anwendungen wie WhatsApp oder Snapchat bei Jugendlichen sehr beliebt.
  • Wikis machen es ihren Nutzer*innen möglich, gemeinsam Inhalte zu gestalten.

Mit sozialen Medien können Menschen in nie dagewesener Leichtigkeit eigene mediale Inhalte produzieren und veröffentlichen. Damit verändern sie den bis zum Ende der 2000er Jahre vor allem von den Massenmedien bestimmten öffentlichen Diskurs. Das wird deutlich, wenn man das „klassische“ Modell von Öffentlichkeit betrachtet, das drei Ebenen von Öffentlichkeit unterscheidet: die Begegnungsebene, die Versammlungsebene und die Ebene der massenmedialen Öffentlichkeit (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990). Öffentlichkeit konnte auf allen drei Ebenen hergestellt werden, allerdings war die Reichweite von Begegnungen und Versammlungen stark eingeschränkt. Das lag zum einen daran, dass Begegnungs- und Versammlungsöffentlichkeiten kaum öffentlich sichtbare mediale Inhalte produzierten, und zum anderen an der Auswahllogik von Inhalten durch Journa­list*innen, die in Massenmedien arbeiteten. In die Massenmedien und damit in den veröffentlichen Diskurs kam meist nur, was Journalist*innen selbst beschrieben, fotografierten oder filmten.


Abscheuliches wird bewusst inszeniert



Letzteres ändert sich durch soziale Medien fundamental. Zum Beispiel werden über die Microblogs vieler Nutzer*innen individuelle Begegnungen und kleinere Versammlungen – je nach Accounteinstellungen – für eine ausgewählte oder breite Öffentlichkeit sichtbar. Damit entstehen persönliche oder intimisierte Öffentlichkeiten, die als Räume beschrieben werden können, in denen ihre Nutzer*innen verschiedene Identitäten ausprobieren und Kontakte mit Peers pflegen (vgl. z. B. Wagner 2019). Gleichzeitig können die einzelnen Inhalte dieser Microblogs über Messengerdienste und Videoplattformen weiterverbreitet und von den Massenmedien aufgegriffen werden. Die Accounts und Inhalte einzelner Personen können auf diese Art viele Millionen von Menschen erreichen – in Ausnahmefällen sogar, ohne dass diese Personen vorher prominent gewesen sind. Das gilt besonders für mediale Inhalte von Ereignissen wie Naturkatastrophen, Skandalen, Krisen oder Gewaltausbrüchen, die viele Menschen betreffen bzw. interessieren.

Dieses dynamische Zusammenspiel von Inhalten aus sozialen Medien und ihrer massenmedialen Verwertung wird teilweise von populistischen und extremistischen Akteur*innen instrumentalisiert, indem sie Skandale, Gesetzesbrüche und Abscheuliches bewusst inszenieren und über soziale Medien verbreiten (vgl. Dittrich u. a. 2020). Jour­na­list*innen fiel es in der Vergangenheit nicht immer leicht, den richtigen Umgang mit diesen oftmals quotenträchtigen Inhalten zu finden. Sie aufzugreifen bedeutete, ihre Reichweite zu befördern; sie gar nicht zu thematisieren, widersprach ebenfalls dem öffentlichen Interesse. Diese Entwicklungen führen dazu, dass der öffentliche Diskurs dynamischer und unbestimmbarer wird und schneller als krisenhaft wahrgenommen werden kann. 


Herausforderungen für die Meinungsbildung
Für jugendliche Mediennutzer*innen und pädagogische Fachkräfte führen diese Entwicklungen zu unterschiedlichen Herausforderungen, von denen ich hier drei beschreiben möchte.
  • Im öffentlichen Diskurs werden soziale Medien gegenwärtig schnell für gesellschaftliche Konflikte und Polarisierung verantwortlich gemacht. Häufig genutzt werden dafür Begriffe wie Filterblase oder Echokammer, denen die Argumentation zugrunde liegt, dass die Nutzer*innen sozialer Medien aufgrund algorithmischer Sortierungen nur noch auf Inhalte und Kontakte stoßen, die ihre Meinung bestätigen. Diese technikdeterministische Sicht – soziale Medien = Polarisierung – ist jedoch nicht durch empirische Ergebnisse bestätigt (vgl. Bruns 2019).
Wenn eine polarisierende Wirkung sozialer Medien festgestellt werden kann, dann vor allem für die Anhänger*innen extremistischer Gruppierungen, die ihre Kontakte auch realweltlich eingeschränkt haben. Pädagogische Fachkräfte sollten soziale Medien deswegen nicht pauschal kritisieren, sondern die Funktionen betrachten, die ihre unterschiedlichen Formen und Anwendungen für die jeweiligen Jugendlichen einnehmen. Dadurch können subjektive Bedürfnisse, aber auch gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick kommen, die unabhängig von einem Fokus auf Medien problematisch sein können – sich aber gleich­zeitig in der Mediennutzung widerspiegeln und von dieser teilweise auch Verstärkung erfahren.
  • Eine große Herausforderung in sozialen Medien ist die Menge an vorhandenen Informationen, mit deren Hilfe sich Jugendliche eine Meinung bilden. Psychologogische Forschungen weisen darauf hin, dass Individuen dieser Fülle im Regelfall so begegnen, dass sie die Komplexität an Informationen entsprechend ihren Neigungen und Voran­nahmen reduzieren und nicht versuchen, Informationen sachlich gegeneinander abzuwägen. Auf diese Weise können sich Polarisierungstendenzen bei den entsprechenden Personen verstärken (vgl. Hannon 2020).
Aus kommunikationswissenschaftlicher und medienpädagogischer Perspektive muss jedoch ergänzt werden, dass Informationen nicht nur subjektiv bewertet werden, sondern die Bewertung von Medieninhalten sozialen Aushandlungsprozessen unterliegen (vgl. Griese u. a. 2020, 13 ff.). Pädagogische Fachkräfte können sich das zunutze machen, indem sie Geschehnisse des Zeitgeschehens, auf die Jugendliche in sozialen Medien stoßen, anhand der entsprechenden Inhalte aufgreifen und gemeinsam mit ihnen und ihren Peers diskutieren.

  • Soziale Medien werden in pädagogischen Projekten teilweise als Mittel verstanden, mit denen Jugendliche stärker am politischen Diskurs partizipieren können. Die Idee entspringt dem Ideal einer deliberativen Demokratie, in der Entscheidungen von möglichst vielen Personen beraten und dadurch legitimiert werden sollen. Jugendliche mit dieser Motivation zur Partizipation in sozialen Medien befähigen zu wollen, erweist sich jedoch als herausfordernd. Qualitative Forschungsergebnisse zeigen, dass Jugendliche sehr zurück­haltend sind, eigene Inhalte zu politischen Themen öffentlich zu posten. Gleichzeitig nutzen sie aber geschützte Räume in sozialen Medien, um über die verschiedensten Themen zu diskutieren (vgl. Materna/Lauber/Brüggen 2021, Kap. 6).
Zwischen öffentlichen und geschützten Räumen navigieren Jugendliche sehr bewusst und passen ihr Medienhandeln den verschiedenen Räumen an. Für (medien-)pädagogische Fachkräfte, die das Ziel der Förderung von Partizipation in sozialen Medien verfolgen, ist diese Unterscheidung wichtig, um bewusst abwägen zu können, in welchem Ausmaß sich die Jugendlichen ­in öffentlichen oder geschützten digitalen Räumen einbringen sollen.

Literatur
Bruns, Axel (2019): Are filter bubbles real? Cambridge u. a.

Dittrich, Miro/Jäger, Lukas/Meyer, Claire-Friederike/Rafael, Simone (2020): Alternative Wirklichkeiten. Monitoring rechts-alternativer Medienstrategien. Berlin.

Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen modernen Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze. Berlin.

Griese, Hannah/Brüggen, Niels/Materna, Georg/Müller, Eric (2020): Politische Meinungsbildung Jugendlicher in sozialen Medien. Zugänge, ausgewählte Befunde und aktuelle Einblicke in ein interdisziplinäres Forschungsfeld. München.

Hannon, Michael (2020): Are Smarter Voters Better Voters?, https://philpapers.org/rec/HANASV (abgerufen am 20.02.2021)

Materna, Georg/Lauber, Achim/Brüggen, Niels (2021): Politisches Bildhandeln. Der Umgang Jugendlicher mit politischen, populistischen und extremistischen Inhalten in sozialen Medien. München.

Peuckert, Rüdiger (2006): Werte. In: Schäfers, Bernhard/Kopp, Johannes/Lehmann, Bianca (Hg.): Grund­begriffe der Soziologie. Wiesbaden, S. 352–355.

Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München.

Schweiger, Wolfgang (2017): Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern. Wiesbaden.

Wagner, Elke (2019): Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf Facebook. Bielefeld.


Eine ausführliche Fassung dieses Textes erscheint in: Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben DGB/VHS e. V. (Hg.) (2021): Vernetzt? Verstrickt? Verloren? Meinungsbildung Jugendlicher und digitale Medien. Wuppertal. 



Zitation:
Materna, Georg (2021). Soziale Medien und die (politische) Meinungsbildung Jugendlicher. Schlaglichter auf ein dynamisches Arbeitsfeld, in: Journal für politische Bildung 2/2021, 22-27, DOI https://doi.org/10.46499/1670.1952.

Der Autor

Dr. Georg Materna ist wiss. Mitarbeiter am JFF – Institut für Medien­pädagogik in Forschung und Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Politische Bildung und Extremismusprävention in und mit (sozialen) Medien, Meinungs­bildung Jugendlicher ­im Kontext sich wandelnder Öffentlichkeiten.

Ein Beitrag aus