Rechtsextreme Szene und Terrorwelt in Hessen

Sascha Schmidt, Yvonne Weyrauch (2023): Rechter Terror in Hessen. Geschichte, Akteure, Orte. Frankfurt/M. (Wochenschau Verlag), 400 S., 29,90 €

Die durchaus umfängliche wissenschaftliche und journalistische Literatur zum rechten Extremismus wird durch einen Band ergänzt, der mit seinem Themenzentrum und seiner Systematik neu und erkenntniserweiternd ist. Es bietet eine historische und inhaltlich zentrierte Rekonstruktion und Auseinandersetzung mit den konkreten Vorfällen, den Netzwerken und Milieus, der Militanz und Gewaltbereitschaft sowie dem Terror, der von der extremen Rechten in Hessen ausgegangen ist und weiter ausgeht. Exemplarisch für ein Bundesland wird die Geschichte des rechten Terrorismus in der bundesdeutschen Geschichte ab 1945 materialreich rekonstruiert. Nach den rassistisch motivierten Morden in Hanau 2020 und Wolfhagen 2019 sowie vielen weiteren Mordversuchen und Gewalttaten kommt dem Buch eine besondere aktuelle sowohl wissenschaftliche als auch politische Bedeutung zu.

Das Inhaltsverzeichnis spiegelt die chronologische Vorgehensweise wider. In sieben Kapiteln werden anschaulich die Epochen der Republik von der Nachkriegszeit bis Ende der 2010er Jahre mit den jeweiligen „Wellen“ von rechter Gewalt und rechtem Terror vermessen. Die ersten militanten Kleingruppen entstehen Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre, mit Akteuren, die in der NS-Zeit sozialisiert wurden. Vorgestellt wird vor allem der paramilitärische und antikommunistische Kampfverband „Bund Deutscher Jugend/Technischer Dienst“, der dann verboten wird.

Es folgen die 1970er Jahre als ein „Jahrzehnt der Radikalisierung“ der Szene. Neben der 1964 gegründeten NPD handelt es sich dabei um zahlreiche neonazistische und terroristische Kleingruppen wie die „NSDAP/AO“, „Wehrsportgruppen“, sogenannte „Befreiungsbewegungen“, die „Aktion Widerstand“ oder den „Bund Heimattreuer Jugend“ und die später verbotene „Wiking-Jugend; verbunden mit bekannten Namen wie Busse, Hofmann und Röder. Von der fanatisierten und verjüngten NS-Szene in Hessen und im Rhein-Main-Gebiet gehen u. a. Überfälle, Angriffe auf Personen, Friedhofsschändungen und Wehrsportübungen aus.

In den 1980er Jahren erlebt die Republik eine Welle neonazistischer Gewalt mit zahlreichen rassistisch motivierten Mordtaten, Anschlägen, Waffen- und Sprengstofffunden. Vor dem Hintergrund der Asyldebatte gibt es wiederholt Gewalt gegen Geflüchtetenunterkünfte. Die Akteure und die sich wandelnde Szene sind u. a. die „Deutschen Aktionsgruppen“, die „Hepp-Kexel-Gruppe“, die FAP und gewaltbereite rechte Skinheadgruppen sowie Hooligans.

Die 1990er Jahren sind vor allem von rassistisch motivierten und fremdenfeindlichen Gewalttaten und Terror – Brandstiftungen, Körperverletzungen und Propagandadelikte gegen Asylsuchende und Migrant*innen und deren Unterkünfte – geprägt. Es geht geradezu eine „Welle“ durch Deutschland mit einem Erstarken der rechtsextremen Milieus wie der Musikkultur, den rechten Skinheads und gewaltbereiten Hooligans, von Kameradschaften und neonazistischen Kleingruppen sowie Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien.

Die 2000er Jahre werden als „Sommer der Gewalt, NSU-Terror und ,Autonome Nationalisten‘“ überschrieben und zeigen Ausmaß und Anstieg sowie die Debatte um rassistisch motivierte Gewalt in der Bundesrepublik und auch in Hessen. Der Mord an Halit Yosgat in Kassel verweist vor allem auf die Szene, die sich in Nordhessen entwickelt hat. In den 2010er Jahren verändert sich die rechtsextreme Szene in eine Vielfalt lokaler und regionaler aktionistischer und gewaltbereiter Gruppen. Mit der AfD und deren Wahlerfolgen verändert sich die Parteienlandschaft und sie beeinflusst den Diskurs über Migration, Flucht und Asyl. Die Gewaltphänomene aus dem rechtsextremen Lager sind antimuslimisch-rassistisch motiviert und richten sich darüber hinaus gegen Linke, Einrichtungen demokratischer Parteien und demokratiepolitisch engagierter Gruppen und Personen. Eine „dritte Hochphase“ der Gewalt- und Mordtaten gibt es ab 2014 und dann 2018; in den Jahren 2019 und 2020 „kulminierte der rechte Terror schließlich in drei Mordversuche und den Morden in Wolfhagen und Hanau“ (254).

Die Durchmessung des rechten Terrors in Hessen mit seinen Kontinuitäten und unterschiedlichen Formen wird abschließend in drei „Hochphasen“ und den zugehörigen Kontexten systematisch zusammengefasst: zwischen 1970 und 1972 mit Anschlägen durch klassische neonazistische Kleingruppen; die frühen 1990er Jahre mit einer Welle rassistischer Gewalttaten bundesweit und auch in Hessen vor dem Hintergrund der Asyldebatte; schließlich ab 2014 mit antimuslimischem Rassismus auf Unterkünfte von Geflüchteten und den Morden an Walter Lübcke und in Hanau.

Sascha Schmidt und Yvonne Weyrauch ist es gelungen, eine akribische Aufarbeitung der rechten Gewalt und des Terrorismus vorzulegen, die auf einer Auswertung vielfältiger Quellen basiert. Dabei nehmen sie die unterschiedlichen Deliktformen, Ausmaße und Strukturen, die Vielzahl der Orte und Täter in den Blick und dokumentieren eine geradezu unglaubliche Fülle von gewaltförmigen Vorfällen und Ereignissen. Die empirisch angelegte Studie wird mit zeitbezogenen gesellschaftlichen Kontexten und analytischen Hinweisen sowie Entwicklungen in der gesamten Republik gerahmt und kommentiert; und sie ist allgemein verständlich geschrieben. 

Am Beispiel eines Bundeslandes wird eine militante Szene- und Terrorwelt bilanziert, die sowohl im weitesten Sinne fachlich interessant ist als auch politisch mit Blick auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit rechter Gewalt und rechtem Terrorismus von Bedeutung.

Der Rezensent

Prof. em. Dr. Benno Hafeneger lehrte und forscht an der Philipps-Universität ­Marburg zu Jugend und außerschulischer Jugendbildung und ist Mitglied der Journal-Redaktion.

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