Rassismus verlernen und Rassismuskritik erlernen!

Der Mord an George Floyd durch gewalttätige Polizisten löste in den USA und weltweit Empörung, Wut und Proteste aus. Auch in Deutschland demonstrierten allein am 6. Juni 2020 über 150.000 Menschen in 25 Städten, um ihrer Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung Ausdruck zu geben und sich gegen Polizeigewalt und Rassismus zu positionieren. In den letzten Monaten wurde auch mit Blick auf den rassistischen Terroranschlag auf eine Shisha-Bar in Hanau viel über Rassismus gesprochen, doch ging damit oft eine Selbstvergewisserung einher, dass es hier nicht so schlimm sei. 


In Deutschland demonstrierten allein am 6. Juni 2020 über 150.000 Menschen in 25 Städten, um ihrer Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung Ausdruck zu geben und sich gegen Polizeigewalt und Rassismus zu positionieren – darunter auch zahlreiche Schwarze Menschen/People of Color, die aus eigener Erfahrung wissen, dass dies kein ausschließlich die USA betreffendes Problem ist. Obwohl in den letzten Monaten mit Blick auf die Ermordung George Floyds und den rassistischen Terroranschlag auf eine Shisha-Bar in Hanau am 19. Februar 2020 viel über Rassismus gesprochen wurde, ging damit häufig eine Selbstvergewisserung einher, dass es hier nicht so schlimm sei.

Rassismus im Alltag zu thematisieren, fällt nicht leicht. Gerade in Deutschland bestehen aus historischen Gründen besondere Berührungsängste mit dem Begriff. Auf die Thematisierung von Rassismus folgen daher häufig heftige Abwehrreaktionen nach dem Motto „Ich bin doch kein Nazi“. Dahinter steht letztlich die falsche Vorstellung, Rassismus sei ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte oder ein Alleinstellungsmerkmal von Rechten. Rassismus wird leider immer noch auf eine individuelle Haltung reduziert und nicht als das erkannt, was es ist: ein historisch gewachsenes und die Gesellschaft strukturierendes Ordnungsmerkmal, das Ausdruck von Machtstrukturen und Unterdrückungsverhältnissen ist, die alltäglich und institutionell reproduziert und aufrechterhalten werden.


Rassismus verletzt die Würde von Menschen



Es fehlt oft an Bewusstsein, dass Rassismus sowohl gesamtgesellschaftliches als auch (stets) aktuelles Problem ist, das sich alltäglich in der Sprache, im Kindergarten, in der Schule, im Beruf und in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigt. Rassismus verletzt die Würde und die Rechte von Menschen. Menschen werden aufgrund bestimmter (zugeschriebener) Merkmale wie Fluchthintergrund, Hautfarbe, Religion und/oder Kultur hierarchisiert und homogenisiert. Je nach Positionierung wird Individuen und Gruppen ein unterschiedliches Maß an Anerkennung, Wertschätzung und Handlungsmöglichkeiten zugestanden. Die grundlegende Unterscheidungsform beruht auf der Gegenüberstellung eines natio-ethno-kulturellen „Wir“ und „Ihr“, die durch gesellschaftliche und strukturelle Praktiken aufrechterhalten wird. Die entsprechenden Zuschreibungs- und Ausgrenzungspraktiken führen zu sozialer Ungleichheit und Benachteiligung von Individuen und Gruppen auf individueller, struktureller, kultureller und institutioneller Ebene (vgl. Benbrahim 2015).

Das postnationalsozialistische Rassismusverständnis stellt für rassismuskritische Ansätze immer noch eine große Herausforderung dar, denn es verknüpft Rassismus mit dem Nationalsozialismus und beruft sich auf lediglich individuelle Einstellungen bzw. Verhaltensmuster von Menschen am sogenannten Rand der Gesellschaft. Bei einer Analyse dessen sind besonders die historischen, sozial-strukturellen und gesetzlichen Kontexte zu durchleuchten. Begriffe wie „Rasse“, die ihre Hochkonjunktur im Nationalsozialismus hatten, werden heute zwar vermieden, jedoch durch andere Begriffe wie „Kultur“ oder „Identität“ oder „Ethnie“ ersetzt. „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“ (Adorno 1955/1997: 277). Wie sehr das postnationalsozialistische Rassismusverständnis fehlgeht, zeigt sich besonders in Zeiten der Verunsicherung und starken Polarisierung, wie wir sie heute erleben und in denen Ungleichheiten, Nationalismus und Ungleichwertigkeitsdenken in unserer Gesellschaft stärker zutage treten. Wir erleben mit der weltweiten Verbreitung der Lungenkrankheit Covid-19 einen Krisenzustand in unserer Gesellschaft, dessen Ausmaß wir noch nicht wirklich weitreichend erfassen können.

Laut der Politikwissenschaftlerin Liya Yu (2020) führen Krisenzeiten wie die Corona-Pandemie dazu, dass marginalisierte Gruppen noch stärker ausgegrenzt und entmenschlicht werden. Man könne in der Gesellschaft oft zwei Reaktionen beobachten: „Entweder verhalten sich Menschen so, als gäbe es die Pandemie nicht, oder sie suchen eine Personifizierung der Gefahr, die vom Virus ausgeht“. Die rassistische Logik dahinter ermögliche es, dass Asiat*innen für die Krise verantwortlich gemacht würden – es könne aber auch andere marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete, Rom*nja oder Schwarze Menschen mit Behinderung treffen, wie vielerorts schon geschehen. Die Vermischung von diffuser Angst mit rassistischen Stereotypen lässt sich auch in den Medien beobachten. So warf die Bild-Zeitung (30.1.2020) die Frage auf, ob man Glückskekse noch essen oder Pakete aus China annehmen könne. DER SPIEGEL (Nr. 6/2020) wählte als Titelbild eine Person in roter Schutzkleidung, vermummt mit Atemmaske und Schutzbrille: „Corona-Virus. Made in China. Wenn die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird“. Die Beispiele markieren nicht nur die gesamte chinesische Bevölkerung als Ursache und Verbreiterin des Virus. „Made in China“ suggeriert außerdem, dass das Virus in China „hergestellt“ und „exportiert“ wurde – eine Argumentation ähnlich der, die sich in machtvollen rassistischen und antisemitischen Verschwörungserzählungen wiederfindet, wie sie in den so genannten „Hygiene-Demos“ wieder eine Hochkonjunktur erlebt. Dies sind nur einige Aspekte, die zeigen, dass die Corona-Krise uns noch lange aus rassismuskritischer Perspektive beschäftigen wird.

Rassismuskritik als Aufgabe der politischen Bildung
Durch die immer stärker in allen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar werdenden Realitäten einer Migrationsgesellschaft und die Zuwanderung geflüchteter Menschen insbesondere in den Jahren 2014/2015 ist in vielen Kommunen, Verbänden und Organisationen ein neuer Bedarf sichtbar geworden, sich mit Rassismuskritik und Migrationspädagogik nicht nur auf individueller, sondern auch auf institutioneller Ebene auseinanderzusetzen und die eigenen Angebote auf eine rassismuskritische bzw. migrationsgesellschaftliche Öffnung der eigenen Institutionen hin zu überprüfen. Insbesondere Prozesse rassismuskritischer Öffnung werden angefragt, die nicht nur individuelle, sondern institutionelle und strukturelle Praktiken von Rassismus reflektieren, d. h. über das Bildungsangebot hinausgehend auf eine Sensibilisierung für Rassismus ausgerichtet sind, da es kaum rassismuskritische Angebote auf organisationaler Ebene gibt.

Seit der Aufdeckung der NSU-Morde und der rechtsterroristischen Netzwerke in den Sicherheitsbehörden gewinnt institutioneller und struktureller Rassismus im gesellschaftlichen Diskurs mehr an Bedeutung. Doch auch in der Bildungsarbeit muss sich der Blick auf die Strukturen und Rahmenbedingungen in den eigenen Institutionen und Organisationen richten, in denen teils eine prämigrantische Realität und weiße Dominanzkultur herrscht, die von weißen, christlichen und heterosexuellen Männern geprägt ist, wie sie Birgit Rommelspacher (vgl. 2006) beschrieben hat. Charlotte Wiedemann konkretisiert dieses Konzept:

„Doch ungeachtet der Diffusität von Sprache und Erscheinung ist in der deutschen Mehrheits­gesellschaft, besonders im Bildungsbürgertum, ein spezifisches Weißsein tief verankert, ein Bewusstsein, das den Nachkommen der Kultur von Expansion und Kolonialismus eingeschrieben ist bis ins Unbewusste. Dass nämlich Weiß keine Farbe ist, sondern die Grundform von Menschsein, neutral und voraussetzungslos. Farbig waren immer die anderen; sie bilden Ethnien, wir haben Ethnologen. Wir verkörpern die Norm, setzen Begriffe, definieren Fortschritt und Moderne. Wenn ein ,weißes Privileg‘ einen Vorteil bezeichnet, den ich unverdient erlangt habe, weil ich in eine Kultur hinein­geboren wurde, die Weiße begünstigt, dann ist dies in meinem Fall: Als Auslandsreporterin profitiere ich von der lange kultivierten Anmaßung, weiße Westler könnten alle Kulturen der Welt erklären. Kritisches Weißsein bedeutet also Normkritik, Ideologiekritik, Rückbau von Wissens­monopolismus – kurz: geistige Dekolonisierung. Das ist eine langwierige Angelegenheit, die eigene Lebenszeit mag dafür nicht reichen.“ 
Wiedemann 2020

Weißsein gilt als Norm und bleibt häufig als Dominanzkultur in der Gesellschaft unmarkiert und unbenannt. Weißsein beschreibt dabei keine äußerlichen Zuschreibungen, sondern eine gesellschaftlich wirkungsvolle Kategorie, wie Charlotte Wiedemann zutreffend schreibt.

Weiße Menschen besitzen per se durch diese Zugehörigkeit Privilegien, die ihnen nicht bewusst sind. Peggy McIntosh (vgl. 1988) spricht davon, dass weiß zu sein bedeutet, mit einem unsichtbaren Rucksack gesellschaftlicher Privilegien ausgestattet zu sein. In diesem Rucksack befinden sich Pässe, Arbeitsplätze und Wohnungen. Diese Privilegien sind nicht erarbeitet worden, sondern durch eine gewaltsame Dominanzstruktur gesichert. Diese Privilegienreflexion setzt jedoch voraus, dass weiße Menschen, die von Rassismus nicht betroffen sind, erkennen, dass sie per se Privilegien besitzen und auch davon profitieren.

Diese Erkenntnis führt zu Irritationen und Unsicherheiten, die schwer auszuhalten, aber für einen rassismuskritischen Lernprozess notwendig sind. Auch wenn wir bisweilen trotz erhöhter Aufmerksamkeit und Sensibilität problematisch handeln, indem wir in schwer durchschaubaren Situationen, bspw. in einem pädagogischen Setting oder Beratungskontext, auf Stereotype zurückgreifen, um die Perspektiven der Zielgruppen bzw. Teilnehmer*innen zu erklären, ist es wichtig, die Konstellation erneut rassismuskritisch zu überdenken. Dies bietet die Möglichkeit, das Gesagte zu überdenken, es reflexiv einzuholen.

Wenn weiße Menschen als solche benannt und markiert werden, entsteht häufig ein abwehrendes Verhalten. Die Sozio­login Robin DiAngelo (vgl. 2018) forscht seit Jahren zu Kritischem Weißsein und beobachtet in Workshops mit weißen Menschen zum Thema Rassismus immer wieder dieselben abwehrenden Reaktionen. Diesem Handlungsmuster hat sie den Begriff white fragility (weiße Zerbrechlichkeit) gegeben. Rassismus kann weiße Menschen nicht betreffen – aber betroffen machen. Daher muss die Beschäftigung mit Rassismus an alle Menschen gerichtet werden (vgl. Benbrahim 2019).


Rassismuskritik ist herausfordernd



Rassismuskritik ist herausfordernd und anspruchsvoll zugleich, da man in einem ständigen Prozess ist, die eigene Haltung aufs Neue zu reflektieren. Rassismus ist ein gesellschaftliches System, welches den Rahmen dafür bildet, dass Menschen aufgrund verschiedenster zugeschriebener oder tatsächlicher Merkmale besser oder schlechter behandelt werden. Diese rassistischen Zustände wirken in allen gesellschaftlichen Bereichen und müssen zwangsläufig reflektiert und verändert werden. Annita Kalpaka und Nora Räthzel (vgl. 2017) beschreiben dieses Dilemma als „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“. Das Sich-Einlassen auf den Prozess einer kritischen Selbstreflexion bedeutet, sich aus dem Gewohnten herauszubewegen, sich von dem eigenen hegemonialen Selbstbild, den angeeigneten Weltbildern und unhinterfragten Selbstverständlichkeiten in eine Distanz zu begeben, um eigene Routinen im Denken und Handeln zu hinterfragen. Für Organisationen der politischen Bildungsarbeit, die einer pluralen Migrationsgesellschaft gerecht werden wollen, besteht die Aufgabe darin, Rassismuskritik zu institutionalisieren und Powersharing auf allen Ebenen zu praktizieren. Dabei geht es darum, bspw. die Personalauswahl, die Arbeitsbereiche, die Zielgruppen und Angebote rassismuskritisch und migrationspädagogisch zu überprüfen und zu gestalten. Ich glaube, es ist enorm wichtig zu verstehen, dass gerade für weiße Institutionen die Thematisierung und Selbstreflexion von Rassismus und Powersharing ein zentraler Bestandteil für eine rassismuskritische Öffnung ist, da es darum geht, Machtungleichheiten in Form der Umverteilung von Ressourcen und Zugängen auszugleichen. Empowerment sollte somit als eine Konsequenz aus einer rassismuskritischen Haltung gegenüber Menschen mit Rassismuserfahrung verstanden werden, da Rassismus den Lebens- und Arbeitsalltag strukturiert und durch empowermentorientierte Angebote und Räume thematisiert und überwunden werden kann. Em­powerment schafft für Menschen mit Rassismuserfahrungen Orte des Krafttankens und des Widerstandes, welche besonders in weiß-dominierten Strukturen notwendig und unabdingbar sind, um Rassismus benennen, verstehen und überwinden zu können.

Literatur
Adorno, Theodor W. (1997) [1955]: Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 9.2. Frankfurt/M., S. 121–324.

Benbrahim, Karima (2015): „EmPowerment als Handlungsstrategie gegen Rassismus und Diskriminierung“. In: Knieper, Rolf (Hg.): Der NSU und seine Auswirkungen auf die Migrationsgesellschaft. Düsseldorf, S. 96–99.

Benbrahim, Karima (2019): Rassismus (be)trifft uns ALLE – Rassismuskritische Perspektiven in der Bildungsarbeit. https://t1p.de/k684

DiAngelo, Robin (2018): Die meisten Weißen sehen nur expliziten Rassismus. https://t1p.de/hqlr

Kalpaka, Annita/Räthzel, Nora/Weber, Klaus (2017): Rassismus: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Hamburg.

McIntosh, Peggy (1988): White privilege and male privilege. A personal account of coming to see correspondences through work in women’s studies. Working paper No. 189. Wellesley, Massachusetts.

Wiedemann, Charlotte 2020: Im Gehäuse des Weißseins. https://t1p.de/d1j9

Yu, Lia (2020), zitiert nach: Amnesty International Deutschland: Coronavirus: Keine Rechtfertigung für Rassismus! https://t1p.de/9qyu

Alle Internetquellen abgerufen am 17.11.2020.


Zitation:
Benbrahim, Karima  (2021). Rassismus verlernen und Rassismuskritik erlernen! Die Notwendigkeit einer rassismuskritischen politischen Bildung, in: Journal für politische Bildung 2/2021, 4-7, DOI https://doi.org/10.46499/1669.1802.

Die Autorin

Karima Benbrahim ist Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW). Ihre Schwerpunktthemen sind Rassismus(kritik) und Rechtsextremismus, Critical Diversity und Empowerment in der politischen Bildungsarbeit sowie rassismuskritische und diversitätsbewusste Öffnungsprozesse in Institutionen.

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