Rassismus kritisch bilden und erinnern
Birgül Demirtaş: „Da war doch was!“ – Der Brandanschlag in Solingen 1993. Hintergrundwissen und rassismuskritische Materialien für die pädagogische Praxis. Weinheim (Beltz Juventa) 2023, 237 S., 30,00 € (auch als E-Book)
Am 29. Mai dieses Jahres jährte sich der
rassistische Brandanschlag von Solingen
zum 30. Mal. Bei dem Anschlag auf ein
Haus, das von türkeistämmigen Menschen
bewohnt wurde, sind fünf Mädchen und
Frauen qualvoll ums Leben gekommen.
Weitere Mitglieder der Familie Genç wurden
lebensgefährlich verletzt und leiden
bis heute an den Folgen des Brandes. Mitglieder
der Familie waren ursprünglich als
Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland
gekommen. Vier junge Männer wurden als
Täter ermittelt und vom Oberlandesgericht
Düsseldorf zu langjährigen Freiheitsstrafen
verurteilt.
Birgül Demirtaş vom Informations- und
Dokumentationszentrum für Anti-Rassismusarbeit
in Nordrhein-Westfalen (IDANRW)
hat sich gemeinsam mit Kolleg*innen
intensiv mit dem Brandanschlag auseinandergesetzt
und Materialien für eine rassismuskritische
Bildungsarbeit erarbeitet. Ein
erster Abschnitt der Publikation enthält Texte
aus der Perspektive von Betroffenen zur
Erinnerung an die Geschehnisse. Der zweite
Abschnitt besteht aus wörterbuchartigen
Hintergrundtexten zu den Themen Rassismus
und Rechtsextremismus. Im dritten
Abschnitt werden Hinweise zur Gestaltung
pädagogischer Settings für die Bildungsarbeit
gegeben und der vierte Abschnitt
beschäftigt sich mit dem Anschlag, seinen
unmittelbaren und langfristigen Wirkungen
sowie der Aufarbeitung der schrecklichen
Tat. Im fünften Abschnitt sind neun Module
für eine rassismuskritische Bildung in Schule
und außerschulischer Arbeit zu dieser Thematik
zusammengestellt.
Diese Publikation ist jedoch mehr als
ein interessantes und qualifiziertes Arbeitsmaterial
für die Bildungsarbeit. Sie ist ein
grundlegender Beitrag zur Erinnerungskultur
im post-migrantischen Deutschland.
Denn „das Erinnern an extrem rechte und
rassistische Gewalt ist eine große Herausforderung
für unsere Gesellschaft, die mit
Schmerz, Leid, aber auch mit Verdrängung
und dem Wunsch zu vergessen einhergeht –
und damit zu Konflikten und inneren Kämpfen
führt“ (10), wie es im Vorwort heißt.
Die Publikation ist von der Intention
geprägt, das Zusammenwirken von rassistischen
und extrem rechten Haltungen, die zu
dem Anschlag geführt haben, auf subjektiver
und auf gesellschaftlich-struktureller
Ebene zum Thema zu machen. Zudem ist
es ein zentrales Anliegen der Autorin, der
Perspektive der Betroffenen sowohl in den
theoretischen Texten als auch in den Modulen
für die pädagogische Praxis Geltung
zu verschaffen.
Die Hintergrundtexte im zweiten Teil des
Bandes beschäftigen sich mit den wesentlichen
Fragestellungen rassismuskritischer
Bildung. Hier nur einige der Themen: Rassismuskritik,
Definition Rassismus, Alltagsrassismus,
Rassismuserfahrungen, ‚Rassismus
gegen Weiße?‘, ‚Kritisches Weißsein‘ und
Rechtsextremismus. Die Annäherungen an
die Begriffe Rassismus und Rechtsextremismus
zeigen, dass mögliche Definitionen
unterschiedliche Aspekte hervorheben. Die
Klärung des Begriffs Rassismus bezieht
sich auf den Prozess des Othering, durch
den die Anderen erst konstruiert und kulturelle
oder genetische ‚Unterschiede‘
genutzt würden, um Andere abzuwerten
und zu diskriminieren. Rassismus wird als
ein Machsystem verstanden, das komplexe
Ausgrenzungsprozesse hervorbringe, die
Hierarchien schafften, Privilegien sicherten
und Ungleichbehandlung legitimierten.
Rassismus sei ein Effekt eines essentialistischen
Kulturbegriffs, der die Dynamik von
Kulturen, ihre Heterogenität, ihre Flexibilität
und ihre Wandlungsfähigkeit leugne. Zum
Begriff Rechtsextremismus wird auf die Differenz
einer wissenschaftlichen und einer sicherheitspolitischen Definition hingewiesen.
Während die sicherheitspolitische Definition
auf eine durch verschiedene Kriterien
abgrenzbare Gruppe der Rechtsextremen
ziele, mache die wissenschaftliche darauf
aufmerksam, dass rechte und rechtsextreme
Einstellungen bis in die Mitte der Gesellschaft
zu finden seien.
Weiter greifen die Autor*innen die Frage
auf, ob es Rassismus gegen Weiße geben
kann. In einem längeren Text wird dieser
Frage auf Basis des eigenen Verständnisses
von Rassismus nachgegangen. In den Überlegungen
wird zwischen Rassismus und Diskriminierung
unterschieden. Da Weiße auf
allen gesellschaftlichen Ebenen privilegiert
seien, könne es keinen Rassismus gegen
Weiße geben, jedoch könnten auch Weiße
diskriminiert werden. Weiter wird verdeutlicht,
dass der Begriff ‚Weiß‘ im Kontext der
Rassismusdebatte institutionell-strukturell
gedacht wird, um eine als Norm geltende
Positionierung zu kennzeichnen und gesellschaftliche
Machtverhältnisse sichtbar
zu machen. Es gehe nicht darum, einzelne
oder Gruppen anzugreifen.
Als weiteres Element einer rassismuskritischen
Bildungsarbeit wird der Ansatz
einer ‚Critical Whiteness‘ eingeführt. Dieser
Ansatz diene als Analyserahmen, um
sich über die Mechanismen der Produktion
und Reproduktion von Rassismus bewusst
zu werden und dazu, für die eigenen (unbeabsichtigten)
Beiträge zum Sichern von
Privilegien und rassistischen Verhältnissen
zu sensibilisieren.
Über den Brandanschlag und weitere
Entwicklungen informieren zahlreiche Texte.
Der Anschlag in Solingen wird in die Historie
rassistischer Gewalt im Deutschland
der 1990er Jahre eingeordnet. Die Tat selbst
wird in kleinen Schritten rekonstruiert. Kursorisch
wird auf die öffentliche Debatte um
den Anschlag eingegangen. Die Zugehörigkeit
und Verstrickung der vier Täter zur rechten
Szene wird aufgezeigt. Skizziert werden
längerfristige Auswirkungen des Anschlags
für die Betroffenen und die türkeistämmige
Community in Deutschland. Umfangreiche
Zitate aus dem Urteil des Oberlandesgerichts
Düsseldorf können nachgelesen
werden. Schließlich wird die holprige Erinnerungsarbeit
vor Ort geschildert.
Weiter enthält der Band ein Kapitel
mit neun Modulen zur rassismuskritischen
Bildungsarbeit über Rassismus und extrem
rechte Gewalt am Beispiel Solingen.
Die Module sind an Teamer*innen der Bildungsarbeit
und an Jugendliche adressiert
und altersgerecht differenziert. Für die
Teamer*innen wird jeweils das Anliegen
des Moduls erläutert und mit Hinweisen
zur Methodik ergänzt. Daran schließen sich
Fragen an, die das jeweilige Thema für die
Kinder und Jugendlichen erschließen und
mit eigenen Erfahrungen in Verbindung
bringen sollen. Aufgelistet sind weiterführende
Fragen zur Diskussion in der Gesamtgruppe.
Einzelne Module erhalten Hinweise
auf Medien (Filme, Interviews, Dokumentationen),
die exemplarisch die Themen der
Module visualisieren.
Es handelt sich um einen materialreichen,
informativen und leicht zugänglichen
Band für eine rassismuskritische Bildung.
Die Module konzentrieren sich auf die
Themen Rassismus, Rassismuserfahrungen
und Erinnerungskultur. Irritierend ist, dass
in keinem der Module das Thema Rechtsextremismus
aufgegriffen wird. Ebenfalls
spielt das Thema Arbeitsmigration weder in
den Hintergrundtexten noch in den Modulen
eine Rolle.
Der Band bietet informierende, sensibilisierende
und anregende Materialien
für Konzepte und Praxis politischer Bildung
zum Thema Rassismus. Die Module
sind zwar auf den Anschlag von Solingen
und den Umgang damit bezogen, doch
Bildungsreferent*innen der außerschulischen
Bildung können die Konzepte auf
eventuelle Ereignisse in ihrem regionalen
Umfeld und die doch deutlich an schulischen
Rahmenbedingungen orientierten
Planungen auf die eigenen Arbeitsprinzipien
beziehen.
Der Rezensent
Klaus Waldmann ist Diplompädagoge,
Coach und Prozessbegleiter in Berlin.