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Politische Online-Bildung zwischen Digital Diversity und Digital Divide

Mit der Corona-Pandemie haben sich seit Frühjahr 2020 digitale Formate in der außerschulischen politischen Bildung etabliert. Unter großem zeitlichen und ökonomischen Druck mussten politische Bildner*innen ihre Präsenzformate für den digitalen Raum umgestalten. Dabei bieten digitale Bildungsformate einerseits Chancen, bisher wenig berücksichtigte Zielgruppen anzusprechen und dabei gleichzeitig digitale Teilhabe gesellschaftlich zu fördern. Andererseits können sie zu noch mehr Ausschluss führen und so die bestehende digitale Kluft verschärfen. Basierend auf den Ergebnissen der Studie „Politische Bildung online: all inclusive?“ (Krämer 2021) wird der Frage nachgegangen, wie die Zugänge zu politischer Bildung durch digitale Bildungsangebote erweitert werden können und gleichzeitig werden Herausforderungen und Teilhabebarrieren in diesem Prozess benannt.

Der Prozess der Digitalisierung wird oftmals nicht als das bedeutsame Moment begriffen, das er tatsächlich ist: ein Epochenumbruch, vergleichbar mit der Industriellen Revolution. Alle Lebensbereiche von Bildung, Arbeit, Gesundheit bis Privatleben sind davon berührt und wer die Schritte der Digitalisierung nicht mitgeht oder nicht mitgehen kann, verliert auch in diesen Lebensbereichen Möglichkeiten zur Teilhabe. 

Auch wenn der Digitalindex 2020/21 der D-21 Initiative einen Rückgang bei den digital Abseitsstehenden auf 16 % ausmacht, so stellt er weiterhin fest, dass starke Unterschiede im Digitalisierungsgrad der Bevölkerung in Deutschland zu erkennen sind, die sich insbesondere an Alter, Geschlecht und formellem Bildungsgrad festmachen lassen (vgl. Digitalindex 2021: 42). In zwei Unterstudien kann der Digitalindex diese Schieflagen konkreter als Digital Gender Gap und Digital Skills Gap benennen (vgl. Digital Skills Gap 2021/Digital Gender Gap 2020). Aufschlussreich für Teilhabechancen und -barrieren ist hierbei die Feststellung von letzterem, dass es zwar allgemein in der Bevölkerung eine sehr gut ausgebildete Anwendungskompetenz gibt, dass aber die schon benannten Gruppen eine weit geringere Verständniskompetenz aufweisen. Das bedeutet, dass Zusammenhänge zu hinter den Anwendungen liegenden Mechanismen nicht gesehen werden und durch diese fehlende Einordnung, etwa bei Recherchen im Netz die Qualität von Quellen nicht angemessen beurteilt werden kann (vgl. Digital Skills Gap 2021: 9 ff.). 

Eine politische Bildung, die die Teilhabe aller zum Ziel hat, muss den Aspekt des Digital Divides bei der Entwicklung digitaler Bildungsangebote mitdenken. Dieses Verständnis setzt insbesondere voraus, dass gerade im Bildungsbereich Teilhabebarrieren erkannt und bearbeitet werden müssen. Damit der Anspruch nach Teilhabe aller im Kontext von digitaler politischer Bildung gelingt, müsste bei der aktuellen Konzeptarbeit Inklusion in einem breiten Sinn von Anfang an mitgedacht werden. Leider führten Zeitdruck und fehlende Ressourcen in den vergangenen zwei Jahren nach meinen Beobachtungen nicht unbedingt dazu, dass dies in der Praxis auch so umgesetzt werden konnte. Aber warum ist das so? 

Inklusionschancen politischer Online-Bildung 
Grundsätzlich bergen digitale Formate für das Feld der politischen Bildung viele Inklusionschancen (vgl. Krämer 2021: 17 ff.). Ein zentraler Aspekt ist, dass Online-Bildung nicht ortsgebunden stattfinden muss. Teilnehmende müssen nicht anreisen, was Zeit und Ressourcen spart. Das öffnet Bildungsangebote für Menschen, die sich die Anreise nicht leisten können oder deren Mobilität auf andere Art und Weise eingeschränkt ist. Menschen, die etwa einen Rollstuhl nutzen, aber auch jene, die parallel bzw. alleinerziehend Kinder betreuen oder anderen Care-Tätigkeiten nachgehen, werden mit Online-Bildungsangeboten gut erreicht. 

Politische Bildner*innen berichteten weiterhin, dass gerade im Bereich der Erwachsenenbildung Teilnehmende im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus mit digitalen Bildungsformaten angesprochen werden. Im Jugendbereich können internationale Begegnungen – auch mit Jugendlichen im Globalen Süden – mit geringem organisatorischen und finanziellen Aufwand ermöglicht werden, und auch Referent*innen und Expert*innen aus dem Globalen Süden werden aus den gleichen Gründen eher eingebunden. 


Digitalisierung für alle? 



Die Gesprächsteilnehmer*innen der Studie berichteten des Weiteren von positiven Rückmeldungen von Menschen mit Hochsensibilität, schüchternen Menschen, Menschen mit Sozialphobien und anderen Personen aus dem neurodiversen Spektrum. Hier gab es das Feedback, dass genannte Personengruppen die Teilnahme an Online-Bildungsformaten leichter falle als in Präsenz. So wurde von einer Person mit ADHS rückgemeldet, dass ihr die Konzentration online besser möglich wäre, weil es wesentlich mehr (visuellen) Input gebe als bei normalen Präsenzveranstaltungen. Damit sich die Teilnehmenden mit ihren individuellen Bedarfen wohlfühlen, kann es hingegen notwendig sein, dass Teilnehmende ihre Kamera zeitweise oder völlig abstellen und auch Pausen individuell einlegen. 

Zudem gibt es zahlreiche technikgestützte Inklusionsfaktoren. So können etwa Hör- und Sehbeeinträchtigungen durch den Einsatz von Screenreadern, Gebärdendolmetscher*innen, gute Soundqualität etc. fast besser ausgeglichen werden als in Präsenz. Auch Sprachbarrieren können online sehr gut durch Übersetzer*innen – deren Einsatz in bestimmten Konferenztools auch vorgesehen ist – überwunden werden. Dennoch stellten viele der Diskutant*innen fest, dass sie kaum davon Gebrauch machten, auch wenn ihnen die Vorteile bewusst waren. 

Herausforderungen und Teilhabebarrieren 
Bisher liegen keine belastbaren repräsentativen Zahlen dazu vor, welche Zielgruppen durch Online-Bildungsformate in der außerschulischen politischen Bildung erreicht werden. Die hier zugrunde gelegte Studie stellt aber fest, dass mit den Angeboten 2020/21 mehrheitlich eher privilegierte Zielgruppen erreicht wurden (vgl. Krämer 2021: 19ff.). Fast alle Interviewten gaben an, mehr Gymnasiast*innen und mehr erwachsene Fachkräfte erreicht zu haben als sonst und weniger Schüler*innen aus Gesamtschulen, Berufsschüler*innen und junge Erwachsene in der Berufsorientierungsphase. Auch ein Stadt-Land-Gefälle wurde aufgrund der schlechten infrastrukturellen Versorgung mit Breitbandverbindungen auf dem Land konstatiert. Allgemein wurde festgestellt, dass jenseits der offen ausgeschriebenen Seminare für Erwachsene insbesondere die Zielgruppen gut erreicht wurden, zu denen schon vor der Pandemie Kontakt bestand. Insbesondere sozial, ökonomisch und bildungsbenachteiligte Jugendliche wurden weniger erreicht. Als ein zentraler Grund hierfür wurde die Schließung von Schulen und von Einrichtungen der (offenen) Jugendarbeit genannt, deren Mitarbei­ter*innen oftmals die Bezugspersonen zu den Jugendlichen in der Akquise darstellen. 

Neben der Schließung von Einrichtungen wurden andere strukturelle Gründe dafür angeführt, warum prekär lebende Zielgruppen mit Online-Bildungsangeboten weniger gut zu erreichen seien. Hier sind Faktoren wie fehlende technische Ausrüstung, kein oder nur schlechter Internetzugang, kein ruhiger Arbeitsplatz aber auch fehlendes technisches Wissen zu nennen. Es zeigte sich, dass auch bei Jugendlichen nicht vorausgesetzt werden kann, dass sie ‚intuitiv‘ jedes Tool bedienen können. Dazu schafft die Nutzung von zu vielen Tools Hürden und schließt deshalb gerade prekarisierte Teilnehmende aus. Menschen verstummen oder verlassen den virtuellen Raum mit dem Gefühl, dass sich das Bildungsangebot nicht an sie richtet oder sie, bzw. ihre Technik, dafür nicht gut genug ist (vgl. ebd.: 21ff.). 


Mit oder ohne Kamera? 



Um die Teilhabe aller zu ermöglichen, müssen aber auch andere individuelle Bedarfe mitgedacht werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der von vielen Referent*innen mit hohem Druck durchgesetzte Wunsch, dass alle Teilnehmenden ihre Kameras anmachen, obwohl Teilnehmende von paralleler Care-Arbeit über Sozialscham bis hin zu Lookismus (Stereotypisierung bzw. Diskriminierung aufgrund des Aussehens) und Rassismus viele gute Gründe dafür haben können, sich nicht zeigen zu wollen. Indem Referent*innen auf die Kamera bestehen, gehen sie über Bedarfe hinweg und schließen schlimmstenfalls Teilnehmende aus, die an einem Präsenzseminar erst gar nicht teilgenommen hätten (vgl. ebd.: 23ff.). 

Die digitale Kluft überbrücken? 
Generell, so stellt auch der 16. Kinder- und Jugendbericht fest, ist Inklusion im Sinne der Ermöglichung einer Teilhabe aller im Feld der politischen Bildung nach wie vor nicht ausreichend verankert und muss analog und online aktiv angegangen werden (vgl. 16. Kinder- und Jugendbericht 2020: 68/341 ff.). Die Einbindung bestimmter Zielgruppen scheitert dabei oftmals schon bei der Akquise, was gerade angesichts des pandemiebedingten Ausfalls die Brückenfunktion von Schulen und (offener) Kinder- und Jugendarbeit für das Erreichen prekarisierter Jugendlicher noch verdeutlichte. 

Für eine inklusive Online-Bildung ist es nun notwendig, das in Präsenz erlernte und erprobte Wissen zu Inklusion und Awareness erneut zu überdenken und neue online-kompatible Konzepte zu entwickeln. Es gilt, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zum Zugang zu Technik und digitaler Infrastruktur, aber auch zu digitalen Skills als Privilegien zu hinterfragen. 

Um die Teilhabebarrieren gering zu halten, ist strikte Teilnehmendenorientierung gefragt. Die Auswahl der Tools ist in diesem Sinne eine Abwägung zwischen Datenschutzvorgaben, möglichst geringen technischen Anforderungen und der Ermöglichung verschiedenster Interaktionsformen, um Partizipation zu fördern. Wichtig für die Teilnehmenden ist, dass sie sich nicht anmelden und keine Anwendungen herunterladen müssen. Die alleinige Verwendung von mobilen Endgeräten muss auch mitgedacht werden oder es müssen Endgeräte bereitgestellt werden. 

Auch die Auswahl der Methoden muss sich an den Lebenswelten der Teilnehmenden orientieren oder anders ausgedrückt: Methoden sind dann barrierearm, wenn sie an ‚bekanntes‘ Userverhalten anknüpfen. Wenn die Zielgruppe viel Zeit mit Sozialen Medien verbringt, wird es für die Teilnehmenden einfach sein, mit Methoden zu arbeiten, die an das Userverhalten in Sozialen Medien anknüpfen. Kommentare im Chat oder unter Padlet-Posts erinnern etwa an die Feeds und Kommentarspalten von YouTube, Instagram und Co. und liegen damit vielleicht näher als das Melden, um etwas zu sagen, was den schulischen Alltag referiert. 

Generell gilt es zu bedenken, dass durch Online-Bildung eine neue Ebene des erfahrungsbasierten Lernens hinsichtlich von Digitalisierungsprozessen Einzug in die politische Bildung erhält. Die Komponente der Technikvermittlung und des Erlebens der Nutzung dieser Technik muss insofern immer auch Teil einer inklusiven Online-Bildung sein. Wird der Aspekt der Technikvermittlung nicht mitgedacht, werden Teilnehmende abgehängt. Hier kann die außerschulische politische Bildung einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zu digitaler Teilhabe leisten. 

Schließlich erscheint es aber auch wichtig, die Grenzen des online Machbaren für sich selbst und die Teilnehmenden auszuloten. Dafür müssen für die Realisierung einer inklusiven politischen Online-Bildung die zusätzlichen Aufgaben in der Konzept- und Seminararbeit für politische Bildner*innen durch Träger und Fördergeldgeber*innen angemessen erkannt und berücksichtigt werden.


Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin. https://t1p.de/sbloi

Initiative D21 e. V. (Hg.) (2020): Digital Gender Gap. Lagebild zu Gender(un)gleichheiten in der digitalisierten Welt. https://t1p.de/rlj5

Initiative D21 e. V. (Hg.) (2021): Digital Skills Gap. So (unterschiedlich) digital kompetent ist die deutsche Bevölkerung. Eine Sonderstudie zum D21-Digital-Index 2020/2021. https://t1p.de/pyad

Initiative D21 e. V. (Hg.) (2021): Digital Index 2020/2021. Jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft. https://t1p.de/o3y8

Krämer, Anna Maria (2021): Politische Bildung online: all inclusive? Ein- und Ausschlüsse in digitalen Formaten der außerschulischen politischen Bildung – eine Studie aus machtkritischer und intersektionaler Perspektive. Berlin. https://www.adb.de/download/publikationen/Politische_Bildung_online_Studie_Anna_Kraemer.pdf

Alle Internetquellen abgerufen am 15.2.2022

Zitation
Krämer, Anna Maria  (2022). Politische Online-Bildung zwischen Digital Diversity und Digital Divide, in: Journal für politische Bildung 2/2022, 10-13, DOI https://doi.org/10.46499/1929.2397.

Die Autorin

Anna Maria Krämer, promovierte Politikwissenschaft­lerin ist seit 2017 Referentin für politische Bildung ­in der Bildungsstätte alte Schule Anspach I basa e. V. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind diversitätssensible und diskriminierungskritische Bildung, kritisch historische Bildung sowie Digitalisierung.

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