Plädoyer für einen Dialog zwischen Politikwissenschaft und Politikdidaktik

Hans-Jürgen Bieling, Benjamin Ewert, Michael Haus, Monika Oberle, Alexander Wohnig (Hg.): Politikwissenschaft trifft Politikdidaktik. Stand und Perspektiven der politikwissenschaftlichen Lehrerbildung. Wiesbaden (Springer VS) 2022, 229 S., 59,99 € 

Der hier diskutierte Sammelband geht auf eine Tagung zum Thema „Fachwissenschaft trifft Fachdidaktik – Stand und Perspektiven der politikwissenschaftlichen Lehrerbildung“ zurück, die von der Sektion für Politische Wissenschaft und Politische Bildung (der DVPW) und der Heidelberg School of Education gemeinsam ausgerichtet wurde. 22 Autor*innen haben, teilweise im originellen „Tandem-Format“ mit jeweils fachwissenschaftlichem und fachdidaktischem Schwerpunkt, Beiträge zur Inbeziehungsetzung politikwissenschaftlicher und politikdidaktischer Erkenntnisse und Perspektiven beigesteuert. Im Kontext dieses Dialogs werden Synergieeffekte zum Gewinn beider Disziplinen erzeugt. So fungiert etwa die Fachdidaktik als Multiplikatorin fachwissenschaftlicher Inhalte, die die Politikwissenschaft generiert und leistet relevante Impulse für die politikwissenschaftliche Hochschullehre. Neben den vier „Tandem-Beiträgen“, u. a. zur Politischen Ökonomie des globalisierten Kapitalismus und zur Europäischen Integration, versammelt der Band diverse Einzelbeiträge zu den Themenkomplexen politikwissenschaftliche Lehrkräftebildung im politischen Reformprozess, Politikwissenschaft als Bezugsdisziplin der politischen Bildung sowie Politikunterricht im gesellschaftlichen Kräftefeld.

Hans-Jürgen Bieling und David Salomon skizzieren in ihrem „Tandem-Beitrag“ zunächst die wissenschaftliche Rezeption der Politischen Ökonomie und Kapitalismusforschung im Kontext der Bedeutung der Globalisierung im deutschsprachigen Raum. Sie erläutern zentrale Schwerpunkte der (Internationalen) Politischen Ökonomie als politikwissenschaftliche Teildisziplin und grenzen sie von „Economics“ ab, die „sich überwiegend auf neoklassische Konzepte (stützt, R.B)“ (19). Bieling und Salomon plädieren für eine Politische Ökonomie des Alltags, welche die drängenden gesellschaftlichen Probleme thematisiert. Dabei geraten Globalisierungskonflikte in den Blick. Im Folgenden beschreiben die Autoren die marktliberale Form der Globalisierung sowie die Perspektive der globalisierungskritischen Bewegung(en). Eine neuere (diskursive) Konfliktlinie bei der Beurteilung der Globalisierung habe sich zwischen dem im Kern die marktradikale Globalisierung bejahenden (neo-)liberalen Kosmopolitismus und dem die Globalisierung kritisierenden populistischen Nationalismus herausgebildet, der vor allem andere Ethnien und als nicht-zugehörig deklarierte Gruppen exkludiere. Die Autoren betonen aus fachdidaktischer Perspektive, die politische Ökonomie des globalisierten Kapitalismus und deren Transnationalisierungsprozesse „als Kernelement sozialer Auseinandersetzungen um Gesellschafts- und Weltordnungskonzepte“ (24) zu begreifen, da sie sich auf alle gesellschaftlichen Probleme auswirke. Im Sinne der Ermöglichung eines kritischen Kosmopolitismus plädieren sie für eine integrative fachdidaktische Perspektive, „die das Politische im Ökonomischen ebenso scharf akzentuiert, wie die Abhängigkeit des politisch Möglichen vom jeweilig geltenden Wirtschaftssystem“ (24). Das Erkennen der Interdependenz von Politik und (kapitalistischer) Ökonomie sei im Kontext politischer Bildungsprozesse zu betonen.

Rolf Frankenberger und Gudrun Heinrich setzen sich in ihrem Aufsatz mit dem Problem des Rechtsextremismus auseinander, indem sie zunächst die „Entwicklungslinien der Rechtsextremismusforschung in Deutschland skizzieren“ (48 ff.). Über Definitionen des Begriffs werde in der Forschung kontrovers diskutiert. Kern des Rechtsextremismus seien in jedem Fall „Einstellungsmuster, dessen verbindendes Zeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen“. (49) Zentrale Themen der sich ausdifferenzierten Rechtsextremismusforschung seien z.B. die Einstellungsforschung und Analysen rechtsextremer Weltanschauungen im internationalen Vergleich. In den Studienordnungen der politikwissenschaftlichen Studiengänge sei die Rechtsextremismusforschung bedauerlicherweise kaum verankert. Der Einfluss der schulischen politischen Bildung „auf rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen von SchülerInnen“ (52) sei ein Forschungsdesiderat, dem es ich zu widmen gelte. Als eine besondere Herausforderung betonen die Autor*innen den Umgang mit (tendenziell) rechtsextrem eingestellten Schüler*innen. In ihrem Resümee machen Heinrich und Frankenberger deutlich, dass in der Lehrer*innenbildung für die Fächer der politischen Bildung eine interdisziplinäre Vermittlung des Phänomens Rechtsextremismus gewährleistet werden müsse, um den Studierenden umfassende und tiefergehende Erkenntnisgewinne zu ermöglichen.

Hannes Fuchs, Matthias Heil und Alexander Wohnig spüren in ihrem Beitrag der Frage der Relevanz von Gesellschaftstheorien und -diagnosen für die politische Bildung nach, indem sie vor allem ihre Bedeutung in der und für die Politikdidaktik untersuchen. Im Kontext der politikdidaktischen Konzeptionsentwicklung, die eine Antwort darauf gibt, „was, warum und wie gelernt werden kann und soll und wie die Voraussetzungen des Lehrens und Lernens ausgestaltet sind“ (145), sei die Bezugnahme auf Gesellschaftstheorien und -diagnosen essenziell. Dabei gelte es, neben lerntheoretischen Grundlagen, die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Am Beispiel von Gieseckes politikdidaktischer Konzeption illustrieren die Autoren exemplarisch die Bedeutung von Gesellschaftstheorien in der Politikdidaktik ohne die die Kernaufgabe politischer Didaktik unerfüllt bliebe – nämlich, Zitat Gieseckes, die „real und ideologisch fortschrittlichen Tendenzen der vorgegebenen Wirklichkeit herauszufinden und im Sinne zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung weiterzutreiben“ (146). Gesellschaftstheorien und -diagnosen seien aus diversen Gründen für die politische Bildung relevant: Je nach konkretem Bezug resultieren daraus bestimmte Ziele, Inhalte und Methoden sowie Definitionen von Aufgaben. Sie sind auch Lehr- und Lerninhalte, und geben Erklärungen für die Subjektwerdung. Zur Illustration deklinieren die Autoren anhand ausgewählter Gründe die Relevanz von aktuellen Gesellschaftsdiagnosen für die politische Bildung durch, exemplarisch an der Diagnose der Abstiegsgesellschaft und der Resonanztheorie, durch. Fuchs, Heil und Wohnig betonen im Fazit überzeugend die Notwendigkeit des Dialogs zwischen Gesellschaftstheorie und Politischer Bildung.

Der Band versammelt zahlreiche instruktive Beiträge, welche die Relevanz eines Dialogs zwischen Politikwissenschaft und Politikdidaktik zum Gewinn beider Disziplinen plausibilisieren. Ein Verdienst des Bandes besteht insbesondere darin, dass er dokumentiert, dass nicht nur die Politische Bildung von der Politikwissenschaft profitiert. Auch die Politikdidaktik vermag wichtige Impulse, nicht nur als Multiplikatorin, für die Politikwissenschaft zu leisten, so dass eine fruchtbare Interdependenz beider Disziplinen zu konstatieren ist. Kritisch anzumerken ist, dass die durchaus sinnvolle Struktur, insbesondere in Form der Tandems, sich nicht im Inhaltsverzeichnis widerspiegelt und sich dadurch nur bei einer genauen Lektüre der Einleitung erschließt. Auch für außerschulische politische Bildner*innen ist der Sammelband empfehlenswert, da er zahlreiche Beiträge enthält, die politikwissenschaftliche Themenfelder im konkreten Dialog mit der Politikdidaktik fokussieren, die in der außerschulischen politischen Bildung eine zentrale Rolle spielen. Abschließend ist so zu konstatieren, dass der Band seine Zielsetzung erreicht, indem er den geforderten Dialog mit wichtigen Impulsen anstößt und so hoffentlich zu seiner Verstetigung anregt.

Der Rezensent

Ralph Blasche ist Studienrat für die Fächer Politik & Wirtschaft, Philosophie, Ethik und Deutsch an einem Oberstufengymnasium in Frankfurt/M. und Lehrbeauftragter an der Universität Siegen.

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