Migrant*innenselbstorganisationen als Lern- und Bildungsorte
Lange Zeit galten Migrant*innenorganisationen (MSO) als Indikatoren und Katalysatoren einer Parallelgesellschaft. Diese Einschätzung änderte sich fundamental. Wie zwei aktuelle Forschungsprojekte zeigen, haben sich die MSO mit ihren vielfältigen Angeboten in den vergangenen Jahren zu wichtigen Lern- und Bildungsorten entwickelt, die jenseits der klassischen Bildungsstättenarbeit einen ebenso wichtigen Beitrag zur Infrastruktur der politischen Bildung leisten.
Innerhalb der gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen
geraten Migrant*innenselbstorganisationen (MSO)
erneut in den Fokus. Durch die Politik und Verwaltung, die
Zivilgesellschaft, die geflüchteten und migrierten Menschen
selbst sowie deren Angehörigen werden MSO mit vielfältigen
Erwartungen konfrontiert. Sie sollen das Ankommen im
neuen Land erleichtern, indem sie wichtige Informationen
zugänglich machen und einen Ort der Gemeinschaft und
Solidarität bereitstellen. Darüber hinaus wird in diesen
Organisationen Hilfe und Unterstützung für das Herkunftsland
und den dort lebenden Angehörigen organisiert.
Während des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine
zeigte sich erneut, wie schnell auf MSO zurückgegriffen
werden konnte und wie diese Unterstützungsstrukturen
aufbauten. Aber auch jenseits dieser aktuellen Entwicklungen wird
MSO eine hohe Bedeutung in der Bildungs- und Sozialarbeit
sowie in der (Integrations-)Politik zugeschrieben. Eine Migrationsgesellschaft
wie die der Bundesrepublik Deutschland
ist auf sie angewiesen. Sie arbeiten flexibel und bedarfsorientiert,
sind lokal bis transnational organisiert und kooperieren
vielfach mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft
und staatlichen Institutionen.
Dennoch brauchen sie als bedarfsorientierte Lernorte
eine gewisse Autonomie und Dezentralität. Denn ein zu
starker Anschluss an klassische Institutionen kann zu einer
Abkopplung der (vielfach informell organisierten) Basisstrukturen
und zu einem Rückgang der Innovationsfähigkeit und
Flexibilität führen. MSO sind offene und flexible Organisationen,
die schnell auf migrationsspezifische Bedürfnisse reagieren
können und auf den Bedarf der Migrant*innen abgestimmte
Angebote bereitstellen oder in die MSO holen.
Innerhalb der Organisation gibt es eine Vielzahl von Formaten
und thematischen Angeboten, die in der Lage sind, auch
verschiedene Migrant*innen innerhalb der Organisation zu
bedienenden bzw. zusammen zu bringen. Eine ausschließlich
standortbezogene Ausrichtung an nur einer Bildungsstätte
wäre kontraproduktiv für die Arbeit; es bedarf einer dezentralen
Ausrichtung.
Die Bedeutung von (integrations-)politischen
Bedingungen für MSO
Nachdem MSO jahrzehntelang eine integrationshemmende
Funktion zugeschrieben wurde, setzte sich in den 1990er
Jahren innerhalb der Politik und Verwaltung die Einsicht
durch, dass Integration auf diese Selbstorganisationen…
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Die Autor*innen
Dr. Iva Hradská arbeitet als wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik der
Sekundarstufe an der Goethe-Universität
Frankfurt.
Dr. Nils Klevermann arbeitet als
wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in am Institut
für Erziehungswissenschaft der RWTH Aachen
und in der Migrationsberatung.