Macht- und Rassismuskritik in der politischen Bildung – Orte der Begegnung schaffen, aber auf wessen Kosten?

Rassismuskritik ist spätestens seit den Black-Lives-Matter-Demonstrationen des letzten Jahres in aller Munde und erfährt eine deutlich merkbare, fast schon verwunderliche Aufwertung in politischen und öffentlichen Diskursen. Das weiße cis-geschlechtliche Individuum, das etwas auf sich hält und mitreden will, kommt dieser Tage nicht umhin, sich dem R-Wort und seinen vielfältigen Implikationen im Modus der Selbstreflexion sowie durch Anschaffung zahlreicher einschlägiger Literatur oder kompakt aufbereiteter Podcasts zu nähern. 

Angesichts der fortschreitenden rechtspopulistischen Radikalisierung weiter Teile der bundesdeutschen Gesellschaft scheint dieser Tage nichts das moderne Selbst so zu bedrohen wie die Gefahr, als rassistisch gebrandmarkt oder abgestempelt zu werden. Fleißig werden anti-rassistische Social-Media-Beiträge re-postet, über queer-feministische Memes gelacht und von Rassismus betroffene Freund*innen – in purer reinherziger Absicht, versteht sich – behelligt, um genauer zu verstehen, was es bedeutet, auf dieser Welt nicht-weiß zu sein. Auch in der politischen Bildungslandschaft kommt allmählich und erfreulicherweise die notwendige Einsicht an, Rassismus als ein zentrales und weiterhin aktuelles Unterdrückungsverhältnis unter die Lupe zu nehmen und Begegnungsräume zu schaffen, die die weiß- und nicht-weiß-markierten Mitmenschen unserer Gesellschaft in einen Dialog treten lassen.

Hier wollen wir einige Fragen aufwerfen, die uns im Zuge unserer täglichen Arbeit an der Schnittstelle von anti-rassistischer Herrschaftskritik und politischer Bildung begegnen und die es unserer Ansicht nach zu erörtern gilt, bevor sich politische Bildungsträger*innen vielleicht zu voreilig ein anti-rassistisches Bildungsziel auf ihre Fahnen schreiben.

Mehrfachdiskriminierung unter die Lupe nehmen
Als eine Selbstorganisation von Schwarzen, Indigenen und of-Color Lesben, Schwulen, Trans*-, Inter*- und queeren Menschen (kurz QT*I*-BIPoC) ist GLADT e. V. seit über 20 Jahren im Berliner Umfeld aktiv und engagiert sich auf unterschiedliche Weise für Themen von Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität, d. h. den Überschneidungen und Wechselwirkungen verschiedener Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus, Homo-, Trans*- und Inter*-feindlichkeit sowie Klassismus und weiteren Formen der Ungleichbehandlung. Trotz dieses langjährigen Engagements sowie der unermüdlichen Problematisierung weißer Dominanz und ihrer komplexen sozialen, kulturellen, rechtlichen und medialen Auswirkungen und institutionellen Verflechtungen ist unser Verein bei Weitem nicht die erste Organisation, die in diesem Diskurs- und Politikfeld unterwegs ist. 

Schwarzer, (post-)migrantischer, jüdischer Widerstand und damit einhergehende emanzipatorische Kämpfe existierten schon immer und haben sowohl im ostdeutschen als auch im bundesdeutschen Kontext weitreichende Spuren hinterlassen. Rassismus wollen wir dabei selbsterklärend nicht als ein Phänomen der Nachkriegszeit verstanden wissen, welches im Zuge der neueren Migrationsbewegungen der letzten 70 Jahre entstanden ist, sondern als jahrhundertealte Kontinuität kolonialer und imperialer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, die unsere Welt und unser aller In-der-Welt-Sein bis heute prägt.

Betrachtet man rassistische Gesellschaftsstrukturen also in ihrer historischen und globalen Gewordenheit, mag der aktuelle „Trend“ hin zu mehr anti-rassistischer Sensibilisierung ein wenig verwundern und man mag nach seinen bedingenden Ursachen fragen. Es ist aber auch danach zu fragen, warum und auf welche Art und Weise die zahlreichen Kämpfe von Rassismus betroffener Personen um mehr Gleichstellung, um gleichen Lohn und um soziale sowie kulturelle Anerkennung solange ungehört und unerwidert geblieben sind. Mit jeder neuen Migrationsbewegung scheint sich ein ganz neues, vorher noch nie dagewesenes Phänomen, ein akutes Bedrohungsszenario für die gesamtgesellschaftliche Ordnung aufzutun, so als wäre erst vorgestern noch die deutsche Bevölkerung eine einheitliche gewesen, deren universal gültige Errungenschaften, wie die stets hoch gehaltenen Menschenrechte, es jetzt vor den als fremd wahrgenommenen bzw. markierten Einflüssen zu verteidigen und zu beschützen gilt. Wir finden, dass eine ehrlich gemeinte Rassismuskritik sich zunächst dieser Geschichtsvergessenheit in dominanten Narrativen bewusst werden muss, um in seiner Wirkung transformatorisches Potenzial entfalten zu können.

Wer ist für Aufklärung und Reflexion verantwortlich?
Eine weitere Frage, die uns in diesem Zusammenhang Unbehagen bereitet, ist die nach der Verantwortung für die pädagogische Aufgabe, Wissen über rassistische Unterdrückung in all seinen unterschiedlichen Facetten an die weiße Person heranzutragen. Nicht selten wird diese Verantwortung denen zugetragen, die Rassismus erfahren, was grundsätzlich zu befürworten ist. Doch worauf wir hier zu sprechen kommen wollen, ist die unreflektierte Erwartungshaltung an jede*n einzelne*n BIPoC, die Rolle der Vermittler*in einzunehmen, d. h. in einen sachlich-emotionsfreien und zugewandten Dialog mit der weißen Mehrheitsgesellschaft zu treten, um gegenseitiges Verständnis und Austausch zu fördern. Begegnungen schaffen, lautet das Mantra, als würden Menschen jeder Coleur nicht jeden Tag auf den Straßen unserer Städte aufeinandertreffen.

Ein Aspekt, der dabei häufiger zu kurz kommt, ist die Frage, auf wessen Kosten diese Begegnungen und der gegenseitige Austausch stattfinden. Als eine Person, die tagtäglich Rassismus erfährt, ist diese Mammutaufgabe nicht selten mit Irritation, mit Schmerz und Verletzungen verbunden. Der anderen Person zu erklären, was Rassismus in seiner alltäglichen Dimension bedeutet, und damit die eigene Menschlichkeit auf den Verhandlungstisch zu setzen, kann ein hohes Maß an Geduld und teilweise wiederholter Traumatisierungen erfordern. Diese emotionalen Aspekte sollten sowohl auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als auch in der politischen Bildungsarbeit wesentlicher Bestandteil rassismuskritischer Aushandlungen sein. Rein rational-wissenschaftliche Annäherungen und Methodenaufbereitungen reproduzieren unseres Erachtens westliche Überlegenheitsmomente und werden dem Phänomen in seiner Gänze nicht gerecht. Bestehende Gegensätze zwischen Körper und Geist, Vernunft und Emotion, Subjekt und Objekt gehören in der anti-rassistischen Bildungsarbeit zumindest hinterfragt. Auch die Etablierung langfristiger Strukturen, welche migrantische Selbstorganisationen stärken und schützen, ohne sie zu bevormunden, die Schaffung von empowernden Rückzugsräumen sowie der Zugang zu institutionellen Ressourcen sind unserer Einschätzung nach unbedingt notwendig, damit die immer poröser werdende Brandmauer zu rechtsextremistischen Lagern uns BIPoCs nicht irgendwann auf die Füße fällt und Rassismuskritik schnell wieder durch „Rasse“ ersetzt wird.

Mit diesem Punkt einher geht auch die Verantwortung aufseiten der weißen Mehrheitsgesellschaft, die eigene Verstricktheit in ungerechte Herrschaftsverhältnisse genauer zu betrachten. Scham- und Schuldgefühle, das unangenehme Eingeständnis der eigenen Privilegierung in diskriminierenden Strukturen sind keine leichten Unterfangen. Doch die Reflexion der eigenen Rolle aus einer weißen Positionierung heraus – egal ob als politischer Bildungsträger oder Workshop-Teilnehmer*in – sind unumgängliche Bestandteile, um die mit Rassismuskritik(en) einhergehende Hinterfragung bestehender Machtverhältnisse zu ermöglichen und letztlich ein solidarisches und demokratisches Miteinander auf Augenhöhe zu etablieren. Will politische Bildungsarbeit rassismuskritisch sein, darf sie sich nicht nur als Wohlfühlprogramm verstehen, das gerade auf Twitter trendet und bei dem Mitmachen sich nur für die Selbstvermarktung lohnt. Mit (Mit-)Gefühl und entsprechender Verantwortung rassismuskritisch denken zu lernen, lautet daher unsere Devise, wenn wir uns wirklich endlich begegnen wollen.

www.gladt.de

Zitation:
Tunc, Can (2021). Macht- und Rassismuskritik in der politischen Bildung – Orte der Begegnung schaffen, aber auf wessen Kosten? In: Journal für politische Bildung 2/2021, 56-57,DOI https://doi.org/10.46499/1670.1959.

Die Autor*innen

Can Tunc koordiniert das Projekt „Diskriminierungsfreie Szenen für Alle!“; Nazila Karimy ist Koordinatorin des Projekts „Macht- und Rassismuskritische Perspektiven auf Strukturen der politischen Bildungsarbeit“, das im Verbund mit dem „Archiv der Jugend­kulturen e.V.“ von GLADT e.V. durch­geführt wird.

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