Klaus-Peter Hufer: Replik auf den Beitrag von Korfkamp/Steuten „Fridays for Future oder die Faszination des Unterkomplexen“ in Journal 3/2020

Mit – gelinde gesagt – Erstaunen habe ich in der Ausgabe 3/2020 des Journal für Politische Bildung den Beitrag von Jens Korfkamp und Ulrich Steuten gelesen, in dem sie sich mit der Bewegung Fridays for Future (FFF) auseinandersetzen. Schon der Titel zeigt, was sie von FFF halten: „Fridays for Future oder die Faszination des Unterkomplexen“. Die beiden Autoren wissen also, was in der Klimafrage komplex ist und was nicht. Ich hätte entsprechende Argumente erwartet. Diese wurden jedoch nicht geliefert, statt dessen kanzeln sie m. E. auf den zwei Seiten ihres Textes das Engagement der FFF-Aktivist*innen ab: „Trotzreaktion einer schwedischen Schülerin“, „Infantilisierung von Politik“, Verkündung „vom Idealismus verklärten Weltrettungswahrheiten und -ambitionen“, „unterkomplexe Sehnsucht nach elementaren Gewissheiten und Orientierungen“, „Einfachheit ihrer Botschaften“, „Faszination des Unterkomplexen“, „intellektueller Unterbietungswettbewerb in symbolischer und emotionalisierter Politik“ (Korfkamp/Steuten 2020: 75). Mitgemeint ist der „mediale Hype sowie das Verhalten von Politiker*innen im Umgang mit den Fridays for Future-Aktivist*innen und ihrem Idol Greta Thunberg“ (ebd.).

 Mein Eindruck ist, dass auch die Lebensphase, in der sich die Autoren befinden, ihren Blick auf FFF beeinflusst. Viele Ältere, die vielleicht noch eine Lebenszeit von drei, höchstens vier Jahrzehnten vor sich haben, betrachten wahrscheinlich den Klimawandel aus einer anderen Position als Jugendliche. Die jungen Aktivist*innen von FFF jedoch werden viel länger leben, vielleicht noch 60 oder 70 Jahre. Deren Perspektive auf das, was kommt, ist deswegen eine andere als die der Älteren. Ihnen droht „eine von Dürre, Waldbränden und Überflutung geprägte Zukunft“ (Meade 2020: 91). Wissen­schaft­ler*innen weisen auf das folgende Szenario hin: „The daunting math of climate change means that in the next 12 years, climate change impacts could push another 100 million people into extreme poverty. Climate change and poverty are a process and a condition that are interrelated. Climate change increases poverty rates globally. Increased poverty means increased war, crime, violence, displacement, famine and disease” (https://www.scientistswarning.org/2020/06/06/939/, aufgerufen am 19.9.20). Diese beklemmende Perspektive, und was sie bewirkt, wird im Beitrag von Korfkamp/Steuten nicht berücksichtigt.

In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass „sich in einer Erklärung von März 2019 knapp 27.000 Wissenschaftler*innen hinter die FFF-Proteste“ gestellt haben (Meade 2020: 92). „Scientist for Future“ (S4F), ein überinstitutioneller, unabhängiger und interdisziplinärer Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, erklärt, dass sie Gruppen und Einzelpersonen von Fridays for Future [beraten]“ (Scientist for Future 2020). Das ist bestimmt kein Ausdruck von Infantilisierung.


An der Klimafrage wird exemplarisch Politik gelernt



Die in dem zitierten Szenario beschriebene Interdependenz der Ereignisse kennen auch die FFF-Aktivist*innen. Dennoch meinen Korfkamp und Steuten, politische (Jugend-)Bildung sollte eine „Infantilisierung von Politik durch die bewusste Herstellung von Zusammenhängen dekonstruieren“ (Korfkamp/Steuten 2020: 76). Als Referenz wird dazu ein aus dem Kontext gerissenes Zitat von Oskar Negt angeführt (ebd.). Damit endet der Beitrag. Fruchtbar wäre es jedoch gewesen, wenn die beiden Autoren weitergelesen hätten, z. B. indem sie Negts Ansatz vom exemplarischen Lernen aufgegriffen und gleichzeitig die in der Jugend- und Erwachsenenbildung zentralen Schlüsselkategorien Subjekt- und Lebensweltorientierung damit in Verbindung gebracht hätten. An der Klimafrage wird nämlich exemplarisch „Politik gelernt“, wobei der unmittelbare Ausgang von der Veränderung der eigenen Lebenswelt und deren subjektive Erfahrung einer guten Bildung zugrundeliegende „Betroffenheit“ (Hilligen 1973: 195) auslöst. Unklar bleibt zudem, was die beiden Verfasser unter der „politische[n] (Jugend-)Bildung“ verstehen, einem Subjekt, dem sie einen normativen Auftrag zuweisen. Es liegt die Vermutung nahe, dass sie damit die klassischen Institutionen meinen, von denen die FFF-Teilnehmer*innen „gebildet“ werden sollen. Hier tritt ein hierarchisch-patriarchalisches Verständnis von „Bildung“ zu Tage. Wer hat da die Kompetenz und die Legitimation, das Engagement und das Bild zu „dekonstruieren“, das Jugendliche von der Welt und von ihrer Zukunft haben? Was den beiden vorschwebt, ist keine Bildung im Sinne von Subjektbildung (vgl. Meueler 1998), sondern Erziehung. Zudem ist es längst gesichertes Wissen, dass aus der politischen Handlung heraus auch facettenreiches politisches Wissen entsteht und damit konsistente Bildung stattfindet (Hufer 2017: 87 f.).

Da ich die beiden Autoren als reflektierte Erwachsenenbildner kennengelernt habe, stellt sich mir die Frage, warum sie FFF so schroff und massiv kritisieren. Befürchten sie einen Verlust an Deutungshoheit und dass sie sich auf Lebenswelten und -empfindungen einlassen müssen, die ihre kognitiven Selbstgewissheiten erschüttern könnten? Ich meine das ohne Polemik und will auf ein Phänomen hinweisen, das in der wissenschaftlichen Rezeption zwar noch nicht breit wahrgenommen wird, mir aber dennoch plausibel ist: Adultismus. Damit ist das Bedürfnis von Erwachsenen gemeint, „Menschen anhand des Merkmals ‚Alter’ zu markieren, ihnen bestimmte Kompetenzen zuzuordnen und sich von ihnen abzugrenzen – ob bewusst oder unbewusst. Die dahinterliegenden Prozesse beruhen auf gesellschaftlichen Diskriminierungs-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen zwischen ‚vollwertigen’ Menschen (Erwachsenen) einerseits und ‚werdenden’ Menschen (Kindern oder Jugendlichen) andererseits“ (Meade 2020: 87). Aus meiner Sicht kann der Beitrag von Korfkamp/Steuten als plausibles Beispiel für einen so definierten Adultismus gelesen werden.

Ich war mehrfach mit Vertreter*innen von Fridays for Future zusammen, auch auf Podien und Kundgebungen. Immer wieder war ich beeindruckt von deren Intelligenz, ihrem Wissen, den klugen Zukunftsvisionen und dem phantasievollen und couragierten Engagement. Ein Beleg ist, wie Schü­ler*innen des Berufskollegs in Kempen am 24. September 2020 auf die bedrohliche Situation hingewiesen haben (siehe Foto auf S. 73). Solche jungen Menschen werden nach der Lektüre dieses Artikels möglicherweise noch weniger als bisher Lust verspüren, politische Bildungsveranstaltungen zu besuchen, um sich belehren zu lassen, was das richtige „Orientierungswissen“ (Korfkamp/Steuten 2020: 76) sei. Ein Rundumschlag wie den, den die beiden Autoren vorgenommen haben, verhindert m.   E. einen produktiven Dialog mit jugendlichen Klimaaktivist*innen.

Der Philosoph Markus Gabriel, der sicherlich nicht im Verdacht steht, einer „Faszination des Unterkomplexen“ anzuhängen, sieht in den Aktivitäten von FFF einen „Prozess moralischen Fortschritts“ (Gabriel 2020: 244). Diese Einschätzung teile ich. 

Literatur
Gabriel, Markus (2020): Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Berlin.

Hilligen, Wolfgang (1975): Zur Didaktik des politischen Unterrichts I. Opladen.

Hufer, Klaus-Peter (2016): Politische Erwachsenen­bildung. Plädoyer für eine vernachlässigte Disziplin. Bielefeld.

Korfkamp, Jens/Steuten, Ulrich (2020): Fridays for Future oder die Faszination des Unterkomplexen, in: Journal für Politische Bildung, H. 3/2020, S. 74–76.

Meade, Philip (2020): Reaktion auf Schüler*innen­rebellion: Adultismus im Diskurs von Greta Thunberg und die „Fridays für Future“-Bewegung. In: Rebecca Budd/Urszula Markowska-Manista (Hg.): Childhood and Children´s Right between Research an Action. Wiesbaden, S. 85–119.

Meueler, Erhard (1998): Erwachsene lernen. Stuttgart.

Scientist for Future (2020): Charta, in: https://www.scientists4future.org/about/charta/ (aufgerufen am 19.9.2020).

Zitation:
Hufer, Klaus-Peter (2021). Klaus-Peter Hufer: Replik auf den Beitrag von Korfkamp/Steuten „Fridays for Future oder die Faszination des Unterkomplexen“ in Journal 3/2020 , in: Journal für politische Bildung 1/2021, 72-74.

Der Autor

Prof. Dr Klaus-Peter Hufer ist Politik- und Bildungswissenschaftler und lehrt an der Universität Duisburg-Essen.

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