Klärungsversuche: Zum Begriff „politische Bildung“ im 16. Kinder- und Jugendbericht

Politische Bildung ist der zentrale Begriff im 16. Kinder- und Jugendbericht. Dies ist bemerkenswert, da die Bundesregierung den Berichtsauftrag mit „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“ überschrieben und zudem betont hatte, dass sie den Terminus „demokratische Bildung“ für die Beschreibung der Bildungsgelegenheiten im Bericht und als Bezeichnung des Feldes präferiere. Die Sachverständigenkommission hingegen argumentiert, dass der Bericht auf einem „Selbstverständnis von Politischer Bildung als Demokratiebildung“ (BMFSFJ 2020: 129) basiere. 

Die Kommission definiert auf der Ebene der Profession Politische Bildung (im Folgenden wird die Profession groß- und die Praxis kleingeschrieben) als Demokratiebildung. Als Argument für ein solches Selbstverständnis wird herangezogen, dass Lernen für die Demokratie immer politisches Lernen sei. Die Konflikthaftigkeit der Demokratie sowie die Offenheit demokratischer Prozesse würden in mündigkeitsorientierten Konzepten der politischen Bildung gefunden (vgl. BMFSFJ 2020: 118; alle Seitenangaben verweisen, wenn nicht anders angegeben, auf den 16. Kinder- und Jugendbericht). Politische Bildung beinhalte Demokratie als Bildungsgegenstand, als Bildungsstruktur sowie als Erfahrung und finde folglich auf allen Ebenen des Lernens – formal, non-formal und informell – statt (vgl. 130 ff., 118 f.). Mithilfe einer solchen Definition vertritt die Kommission das Anliegen, eine Zweiteilung von demokratischer Bildung auf der einen und politischer Bildung auf der anderen Seite aufzulösen. Politische Bildung sei vielmehr ein Ort für kognitives Lernen und demokratische Erfahrung. Die Kommission definiert somit auf der Ebene der Praxis politische Bildung als demokratische Bildung.

Es lässt sich also bereits bei der Begriffsklärung zeigen, dass zwischen Auftrag und Intention der Bundesregierung sowie dem Verständnis von politischer Bildung, das die Kommission beschreibt, ein Konflikt liegt. Der Fokus der Bundesregierung liegt auf der von ihr als zentral angesehenen Vermittlung demokratischer Haltungen als Kernaufgabe der demokratischen Bildung. Dieser Fokus muss in einem engen Zusammenhang mit der durch die Bundesregierung betriebenen Schwerpunktsetzung auf Prävention und Demokratieförderung gesehen werden. Die Kommission hingegen bezieht sich, zumindest in Teilen des Berichtes, auf einen kritischen Begriff politischer Bildung, der Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse fokussiert, auch wenn diese sich nicht scharf von der Präventionsanrufung distanziert, sondern vielmehr die Schwerpunktsetzung auf Prävention kritisiert.


Konflikt als Motor gesellschaftlicher Entwicklung



Die Definition von Politischer Bildung als Demokratiebildung (im Sinne einer Profession) und politischem Lernen als demokratischem Lernen (im Sinne der Praxis) bringt aber auch Unklarheiten mit sich, die, so ist zu vermuten, dem beschriebenen Konflikt zugrunde liegen. Denn in der wissenschaftlichen Diskussion steht eine Verständigung über den Kern von „Politischer Bildung“ und „Demokratiebildung“ sowie über deren Verhältnis, Chancen der Vermittlung zwischen ihnen, Gefahren der Vereinnahmung und Kolonialisierung noch aus. In ersten Versuchen, die Konzepte und damit auch die Begriffe zu bestimmen, wird deutlich, dass Politische Bildung und Demokratiebildung (vgl. Sturzenhecker 2013) jeweils auch einen Eigenwert haben. Die im 16. Kinder- und Jugendbericht genannte demokratische Bildung nimmt Anleihe am Konzept der „Demokratiebildung“. Gleichzeitig besteht durch die Gleichsetzung – P(p)olitische Bildung (als Profession und Praxis) ist Demokratiebildung – die Notwendigkeit, die Begriffe und Konzepte klar zu bestimmen. Im Folgenden soll daher geklärt werden, welches Verständnis politischer Bildung aus dem 16. Kinder- und Jugendbericht produktiv gemacht werden kann. Gleiches kann aufgrund des Umfangs und der Fragestellung dieses Beitrages nicht für den Begriff und das Konzept der Demokratiebildung geleistet werden (vgl. dazu Sturzenhecker/Wohnig 2019; Wohnig 2019).

Politik als Konflikt um Macht und Herrschaft
Die Kommission bestimmt politische Bildung mit Bezug zu einem sozialwissenschaftlich fundierten Politikbegriff. Der Politikbegriff wird zum einen auf der Basis klassischer Lektüre der Theorie- und Ideengeschichte entwickelt. Zum anderen nimmt er Anleihen an aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussionen, was besonders in der Betonung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die im politischen Prozess reproduziert oder erlangt werden, sichtbar wird. Genau hier ist der von der Kommission entfaltete Politikbegriff für die Bestimmung politischer Bildung hilfreich, da es sich um einen konfliktorientierten Politikbegriff handelt. „Dass es im politischen Prozess dabei auch um den Gewinn und Erhalt von Macht geht, soll dabei ausdrücklich nicht ausgeblendet werden. Ebenso wie die Bestimmung dessen, was das Gemeinwohl sein soll, umstritten ist, ringen die Akteurinnen und Akteure im politischen Prozess um die Durchsetzung ihrer Interessen. Politik bedeutet daher immer auch die Bearbeitung sozialer Konflikte“ (108). Der Begriff ist anschlussfähig an konfliktorientierte Konzepte politischer Bildung (vgl. Giesecke 1997), die auch in der außerschulischen politischen Bildung Verwendung finden (vgl. Wohnig 2021) und die den Konflikt als positiv und als Motor gesellschaftlicher Entwicklung beschreiben. Den Ausgangs- und Mittelpunkt konfliktorientierter politischer Bildung bildet die Analyse aktueller politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Konflikte, die die Bildungssubjekte betreffen, um diesen eine fundierte Urteilsbildung zu erlauben und sie zu politischer Partizipation zu befähigen.

Besonders ergiebig ist zudem die im Bericht vorgenommene zeitdiagnostische Einbettung politischer Bildung in Krisenphänomene, die aus aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen entstehen. Diese Krisenphänomene werden als gesamtgesellschaftliches Aufgabenportfolio für die junge Generation vorgestellt (vgl. 45; 85) und sind sogenannte „Megatrends“. In Bezug auf die Konfliktorientierung im Speziellen und die politische Bildung im Allgemeinen ließen sich diese Mega­trends – Globalisierung, Klimawandel, Umweltzerstörung, Corona-Pandemie, Flucht, Migration, Digitalisierung, demografischer Wandel, Aufrüs­tung, Krieg(sgefahr) – mit dem Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki (vgl. 1996) als epochaltypische Schlüsselprobleme beschreiben, die zum Ausgangspunkt und Gegenstand konfliktorientierter politischer Bildung werden.


Wer ist (nicht) repräsentiert?



Gleichzeitig bezieht sich die Kommission auf ein Verständnis von Politik, das die Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen schon dort berücksichtigt, wo darüber verhandelt und entschieden wird, was als politisch gilt: „Was politisch ist und damit als regelungsbedürftig betrachtet wird, ist vielmehr selbst Gegenstand von Aushandlungsprozessen“ (108). Wir haben es hier mit einem ungleichheitssensiblen und subjektorientierten Bildungsverständnis zu tun, das im Kern besagt: In politischen Bildungsveranstaltungen sollten die Teilnehmenden selbst Gelegenheit bekommen, ihren Politikbegriff zu reflektieren, und dabei auch erkennen, dass Prozesse, Entwicklungen und Probleme des Alltags auf politische Strukturen und damit auf politische Prozesse, Probleme und Konflikte verweisen. Das Politikverständnis der Kommission ist in Bezug auf den Begriff und das Verständnis politischer Bildung also mit Fokus auf die zwei didaktischen Prinzipien der Konfliktorientierung und Subjektorientierung relevant. Mit einer solchen Perspektive geraten (Re)Produktionsmechanismen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die politischen Dimensionen von Alltagsphänomenen und die von Ungleichheit beeinflussten Aushandlungsprozesse über die Frage, was als politisch gelten kann, in den Blick. Von daher ist es zentral, Phänomene gesellschaftlicher Ungleichheit in der Bestimmung eines Begriffs und Verständnisses politischer Bildung zu reflektieren, denn diese rahmen die Beteiligungsmöglichkeiten an der Aushandlung zu der Frage, was politisch ist, und hierarchisieren verschiedene Praxen, Handlungen, Denkweisen.

Dies geschieht bspw. durch die Präferenz eines herrschenden Geschmacks oder Habitus, beeinflusst durch die ungleiche Verteilung von Kapitalien (Bourdieu). Die Kommission reflektiert diese Mechanismen: „Politische Kompetenz wird somit in einem subjektorientierten Bildungsverständnis […] in diesem Bericht nicht allein als (a) Befähigung, d. h. als Aneignung von Wissen und Können verstanden. Sondern diese Befähigung steht immer auch in einer sozialen Wechselwirkung mit Kompetenz als (b) Berechtigung und Befugnis, d. h. mit den Fragen nach den Voraussetzungen, Zugängen und Möglichkeiten der Teilhabe an Bildung sowie sozialem und kulturellem Kapital“ (129).

Vor diesem Hintergrund kann politische Bildung wie folgt beschrieben werden: Sie bezieht sich auf einen konfliktorientierten Politikbegriff, der Macht- und Herrschaftsverhältnisse bei der Herstellung, Durchsetzung und Infragestellung allgemein verbindlicher und öffentlich relevanter Regelungen in und zwischen Gruppierungen von Menschen reflektiert und dabei subjektorientiert vorgeht, u. a. um die Frage, was politisch ist, möglichst offen mit den Teilnehmenden zu reflektieren. Dabei gilt es, Ungleichheitsverhältnisse bei der Herstellung ‚des Politischen‘ und der Diskussion über ‚das Politische‘ zu reflektieren, um auch Ein- und Ausschlussprozesse zu identifizieren und zu bearbeiten: Wer ist (nicht) repräsentiert? Wer ist (nicht) auf der politischen Bühne vertreten?

Demokratie, Konflikt und Ungleichheit
Auch die Bestimmung des Demokratiebegriffs weist deutliche Bezüge zu einem konfliktorientierten Begriff auf, bspw. durch die Betonung in der formalen Dimension: „Die formale Dimension der Demokratie umfasst die Art, wie allgemein verbindliche Regeln aus dem Konflikt verschiedener Interessen durch Partizipation, Repräsentation, den Wettbewerb verschiedener Konzepte und Diskursivität hergestellt, durchgesetzt und infrage gestellt werden“ (110). Auch werden diese Bezüge durch den prozesshaften Charakter, der der Demokratie zugesprochen wird, deutlich: „Die prozesshafte Dimension bezeichnet die Tatsache, dass Demokratie in ihrer konkreten Erscheinungsform historisch geworden ist und immer neu ausgehandelt wird“ (110). Hier zeigt sich die Wandelbarkeit, Offenheit und Konfliktträchtigkeit der Demokratie, d. h. auch der Hinweis darauf, dass Menschen Demokratie machen, indem sie sich an der Gestaltung der his­torisch gewordenen Demokratie beteiligen und in Konflikt miteinander treten. Die zentrale Leitidee der politischen Bildung, Mündigkeit, wird im Verhältnis zu der Konflikthaftigkeit der Demokratie bestimmt: „Die Konflikthaftigkeit demokratischer Politik sowie die Offenheit und Gestaltbarkeit politischer Prozesse und Entscheidungen finden ihre Entsprechungen in Konzepten Politischer Bildung, die auf Mündigkeit, d. h. auf politische Analyse-, Urteils- und Handlungsfähigkeit, ausgerichtet sind“ (118). Der Mündigkeitsbegriff wäre noch zu ergänzen durch den Begriff und das Konzept der Kritik (vgl. Wohnig 2017: 71 ff.). An späterer Stelle (131) greift der Bericht den Moment der Kritik auf, wenn betont wird, dass aus der dauerhaften Entwicklungsaufgabe, die der Demokratie innewohnt, geschlossen werden kann, dass es zwei Kernaufgaben politischer Bildung in Bezug auf die politische Selbstbildung und auf kollektive Lernprozesse der Bildungssubjekte gebe: erstens die Analyse und Kritik der bestehenden Verwirklichung der Demokratie, zweitens die Reflexion und Weiterentwicklung der demokratischen Wertegrundlagen. Auf dieser Basis ist es möglich, Mündigkeit, Demokratie und Kritik bei der Bestimmung von politischer Bildung enger zusammenzudenken und gleichzeitig auf das dialektische Bildungs- und Erziehungsverhältnis von Anpassung und Widerstand zu verweisen.


Lernziel: Partizipation



Gleichzeitig wird auch auf der Ebene des Demokratiebegriffs, und damit der Bestimmung von Mündigkeit, der Faktor der Ungleichheit reflektiert: „Der Begriff ist offen für einen breiten Blick auf unterschiedliche Formen der politischen Teilhabe von der Wahrnehmung formaler Partizipationsrechte bis hin zu sozialen Bewegungen und Protest und einer kritischen Auseinandersetzung damit, wie Partizipationsformen real genutzt werden und so Einflusschancen und Einflussnahmen in der Gesellschaft ungleich verteilt sind“ (110). In Bezug auf Partizipation, das zentrale Ziel Politischer Bildung, das gleichzeitig auch ein zentrales didaktisches und pädagogischen Prinzip darstellt (vgl. Widmaier 2013), wird reflektiert, dass Einflusschancen in der Demokratie ungleich verteilt sind. Gleichzeitig will der Demokratiebegriff offen sein für plurale Partizipationsformen und rückt damit das politische Handeln in den Mittelpunkt. So lässt sich abschließend für den Begriff der politischen Bildung festhalten: Diese befähigt Teilnehmende, an der konflikthaften Gestaltung der Demokratie teilzuhaben, indem politische Partizipationsfähigkeit vermittelt und erfahrbar gemacht wird. Mit Bezug auf das Problem, dass gesellschaftliche, politische und ökonomische Einflusschancen ungleich verteilt sind, ergeben sich zwei Handlungsaufforderungen für politische Bildung: erstens die Sichtbarmachung dieser Ungleichheiten durch eine konfliktorientierte Analyse, zweitens das Empower­ment von Individuen und Gruppen, indem das Bewusstsein hergestellt und die Erfahrung ermöglicht wird, dass jede*r ein Recht auf Beteiligung und Partizipation hat. 

Literatur
BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin.

GEMINI (Hg.) (2021): Außerschulische politische Jugendbildung im 16. Kinder- und Jugendbericht: Begriffe, Konzepte, Herausforderungen. Expertise zum 16. Kinder- und Jugendbericht „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugend­alter“. Wuppertal.

Giesecke, Hermann (1997): Kleine Didaktik des politischen Unterrichts. Schwalbach/Ts.

Klafki, Wolfgang (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim u. a.

Sturzenhecker, Benedikt (2013): Demokratiebildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden, S. 325–337.

Sturzenhecker, Benedikt/Wohnig, Alexander (2019): Begriffsvielfalt, Entgrenzung, Aufmerksamkeitskultur. Stellungnahmen zur neuen Unübersichtlichkeit auf dem Arbeitsfeld der politischen Bildung. In: Journal für politische Bildung, Heft 2, S. 10–15.

Widmaier, Benedikt (2013): Partizipation und Jugendbildung. In: Hafeneger, Benno (Hg.): Handbuch außerschulische Jugendbildung. Grundlagen, Handlungsfelder, Akteure. Schwalbach/Ts., S. 455–472.

Wohnig, Alexander (2017): Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Analyse von Praxisbeispielen politischer Bildung. Wiesbaden.

Wohnig, Alexander (2019): Was ist politische Bildung? Eine begriffliche Annäherung über verschiedene Zugänge. In: Außerschulische Bildung, Heft 3, S. 11–17.

Wohnig, Alexander (2021): „Im Konflikt kommt die Pluralität und Offenheit der Demokratie zu Tage und in diesem eröffnen sich reale Möglichkeiten für politische Mitbestimmung und Demokratisierung, zentrale Ziele politischer Bildungsarbeit.“ In: Hufer, Klaus-Peter/Oeftering, Tonio/Oppermann, Julia (Hg.): Positionen der politischen Bildung 3. Frankfurt/M., S. 231–244.


Dieser Beitrag basiert auf einer Expertise (GEMINI 2021), die der Autor für die Gemeinsame Initiative der Träger Politischer Jugendbildung (GEMINI) im Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e. V. verfasst hat und die hier vollständig eingesehen werden kann: https://tinyurl.com/4ndv8pyc


Zitation

Wohnig, Alexander (2021). Klärungsversuche: Zum Begriff „politische Bildung“ im Bericht, in: Journal für politische Bildung 3/2021, 14-19, https://doi.org/10.46499/1671.2093.


Der Autor

Dr. Alexander Wohnig ist Juniorprofessor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Siegen und Mitglied der Journal-Redaktion.

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