Jung und rechts

Die Arbeit mit jungen Menschen, die undemokratische Haltungen aufweisen, sich an den Grenzen der neonazistischen Szene bewegen oder in völkisch-nationalistischen Mobilisierungen ansprechen lassen, ist herausfordernd. Noch dazu, wenn sie demokratische Bildungsarbeit sein soll. Möglichkeiten eröffnen sich, wenn die politischen Posi­tionierungen Jugendlicher als Interaktion mit ihren sozialen Bezügen und gesellschaftlichen Formationen aufgegriffen und Sequenzen emanzipatorischer Bewältigung erschlossen werden. 

Öffnung nach „rechts“
Was rechtsoffene Jugendliche ausmacht und wie viele dieser Jugendlichen vor Ort zu diesem Spektrum gezählt werden, wird von Fachkräften der Jugend- und Sozialarbeit, Lehrer*in­nen sowie Engagierten der Zivilgesellschaft sehr unterschiedlich eingeschätzt. Gründe dafür sind abweichende fachliche Perspektiven, praktische Erfahrungen und auch die eigenen politische Positionierungen der Beteiligten.


Wenig demokratische Gegenerfahrungen



In Regionen, in denen eine hohe lebensweltliche Dichte an neonazistischen Strukturen und Versatzstücken völkisch-nationalistischer Ideologien (vgl. Keil 2015) vorhanden ist und in denen im Anschluss daran nur wenig demokratische Gegenerfahrungen gemacht werden, steigt auch die Offenheit junger Menschen, sich entsprechender Sichtweisen zu bedienen oder bewusst „rechts“ zu verorten. Es entsteht ein spezifisches Ansprachefeld aus antidemokratischen Bilderwelten in Verbindung mit alltäglichen, sozialen Kontakten, zu dem junge Menschen sich verhalten müssen.

Jugendarbeit als Raum für demokratische Bildung birgt das Potenzial, hier entwickelte Haltungen wieder zu verflüssigen und neue Beziehungen zu sich, zu anderen und zur Gesellschaft entstehen zu lassen. In spezifischen Settings können Jugendliche beraten und begleitet werden, die sich aus Szenebezügen und -umfeldern lösen wollen. Belastbare, demokratische ‚Brandmauern‘ gegen allgemeine, autoritaristische gesellschaftliche Dynamiken und politische Diskurse lassen sich allein aus der Jugendarbeit heraus nicht aufrichten. Hierfür benötigt es tragfähige, demokratische Strukturen der Zivilgesellschaft vor Ort und emanzipatorisch handlungsfähige, soziale Bewegungen in der Breite.

Aufwachsen im rechtsoffenen Alltag
Wie lässt sich der Begriff „rechtsoffen“ empirisch fassen? „Rechtsoffen“ kann in jugendlichen Lebenswelten beispielweise bedeuten, offen für heterosexistische Haltungen zu sein, rassistische Sprüche zu teilen, einer Messenger-Gruppe anzugehören, in der neben der Partyorganisation auch NS-Memes geteilt werden, offen für rechte Freund*innen zu sein oder Sticker lokaler rechter Gruppen zu verkleben. Je höher die Präsenz „rechter“ Akteur*innen, Begegnungen und Bilder im Alltag ist, desto schwieriger wird es, sich diesen zu entziehen. Im Zuge dessen entstehen neben aktiven Anschlüssen auch passive Öffnungen. Sie ereignen sich dort, wo Konflikt und politische Auseinandersetzung entweder gar nicht stattfinden, also zivilgesellschaftliche Gegenmacht fehlt, oder autoritär und undemokratisch dominiert werden. 

Zwei Ebenen von Ansprachefeldern junger Menschen


Rippl und Seipel (2022: 97) beschreiben Jugend als „gefährdete Phase“, vor allem dann, wenn subjektive und gesellschaftliche Umbrüche zusammen fallen. Das Ansprachefeld, in dem sich junge Menschen bewegen und welches ihnen eine mögliche Öffnung nach „rechts“ nahelegt, weist dabei mindestens zwei unterschiedliche Ebenen auf, welche im pädagogischen Umgang in den Blick zu nehmen sind. Die erste Ebene umfasst die Alltäglichkeit von „rechten“ Akteur*innen und Deutungen im Rahmen jugendlicher Lebensgestaltung (vgl. Dietrich/Schuhmacher 2022, Dietrich u. a. 2019). Die zweite Ebene beinhaltet außeralltägliche Momente, die Jugendlichen spannende, machtvolle Erfahrungen und Erlebnisse versprechen – etwa im Rahmen von Szene-Events oder politischen Versammlungen (vgl. Zingel/Klaus 2022). 


Vergewisserungsräume heterosexistischer Normalität



In der Dokumentation „Jung, rechts, gewaltbereit“ des MDR (2022) wird das Gespräch einer Gruppe junger Menschen in einem Jugendclub gezeigt. Eine Jugendliche thematisiert dabei, dass sie bisexuell sei. Ein sich als „rechts“ bezeichnender Jugendlicher würdigt daraufhin die eigene sexuelle Identität seines Gegenübers deutlich herab und spricht dieser, in selbstsicherem, gewohnt scheinendem Duktus, unter Bezug auf angebliche „Unnatürlichkeit“ die Normalität ab. Was sich hier als Ansprachefeld eröffnet, ist nicht allein die politische Positionierung des Jugendlichen, sondern auch deren Wirkung. Sie umfasst die in der Gruppe der Anwesenden geäußerte Zustimmung zu seiner Position sowie das mindestens unkritische Hinnehmen. Letztlich entsteht unter den Jugendlichen ein Vergewisserungsraum, in dem der Großteil der Beteiligten die Erfahrung einer spezifisch praktizierten, heterosexistischen Normalität macht. Hier wird geteilt, was als normal gilt, was als normal gesagt werden kann und wie man praktisch mit „Anderen“ umgeht. Die Jugendliche, die sich als bisexuell geoutet hat, erfährt genau das. Sie erlebt auch, dass sie in ihrem Ausgegrenztsein in der Situation allein bleibt. 

Diese und ähnliche Mikroereignisse finden sich in einer Vielzahl jugendlicher Lebenswelten alltäglich wieder. Sie verweisen gleichzeitig über den Raum, in dem sie sich tatsächlich abspielen, hinaus auf gesellschaftliche Kontexte des Aufwachsens, in denen solche Bilder und Haltungen geteilt und verbreitet werden. Den ablehnenden und indifferenten Jugendlichen im Club sind ihre heterosexistischen Haltungen nicht ad hoc in der Situation eingefallen, sondern sie haben sie als funktionale Bilder ihrem gewohnten Alltag und damit ihrer lokalen Normalität entlehnt. Ähnliche Erfahrungen mögen geflüchtete Jugendliche in einem Kontext mit ausschließlich weißen Jugendlichen machen oder Teamer*innen der politischen Jugendbildung, denen eine gesamte Workshopgruppe auf Basis ihrer rassistischen Einstellung eine demokratische Ausgewogenheit abspricht. 


Monologisch völkisch-nationalistische Deutungen als Reproduktionsraum



Rechtsoffenheit findet dort ihren Reproduktionsraum, wo alltägliche Erfahrungen kaum ambivalent und divers sichtbar, sondern monologisch mit völkisch-nationalistischen Deutungen komplettiert werden. Wenn formale oder non-formale politische Bildung den Anspruch hat, demokratisch wirksam zu werden, muss diese „Rechtsoffenheit“ hier im Alltag dysfunktional werden.

„Rechte“ Erlebniswelten jenseits des Alltäglichen
Während eine alltägliche Öffnung nach „rechts“ vor allem dort geschieht, wo Normalität, also das Selbstverständliche, nicht mehr zu Thematisierende (vgl. Böhnisch 2005: 611), mindestens Fragmente neonazistischer und völkisch-nationalistischer Verständnisse, Haltungen und Sozialbezüge umfasst, erweitert sich das Ansprachefeld um eine zweite Ebene. Diese ergibt sich vor allem, wenn agile, handlungsfähige „rechte“ Strukturen bestehen. Hier wird nicht mehr allein in der alltäglichen Interaktion die subjektive Sicht auf die Welt vorstrukturiert, sondern die Möglichkeit bewusster, politischer Praxis angeboten. Während diese Praxis für die politischen Kader und eingeübten Szenemitglieder Alltag ihres politischen Kampfes ist, bietet sie einem Teil der Heranwachsenden die Möglichkeit, attraktive, außeralltägliche Erfahrungen zu machen. Hier stehen nicht mehr (allein) die freundschaftlichen Schnittmengen in die Szene im Vordergrund. Vielmehr werden bewusste Annäherungen an neonazistische, rassistische und verschwörungsideologische Aktivist*innen und Gruppierungen unternommen. 

Neonazistische Männlichkeit schlägt in Gewalt um


Auf einer Corona-Demonstration skandiert eine Gruppe junger Menschen: „Bambule, Randale, Rechtsradikale“. Die Szenerie ist ebenfalls in der oben angeführten Dokumentation festgehalten. Die Gruppe besteht augenscheinlich aus neonazistischen Jugendlichen und einem politisierten Umfeld junger Menschen, die sich kennen und dazugesellen. Der Auftritt soll offensichtlich martialisch und gewaltbereit erscheinen. Nicht nur den männlichen Jugendlichen verheißt er Handlungsfähigkeit und Dominanz, wenngleich sie akus­tisch deutlich stärker wahrnehmbar sind. Es entsteht ein Vergewisserungsraum neonazistischer Männlichkeit, welche einen Moment später in Gewalt gegen das Kamerateam und in der Folge auch gegen die Polizei umschlägt, die versucht, die Gruppe zurückzudrängen. Die Klärung der Situation gelingt, aber die mutmaßlichen Erwartungen als unbeirrte Kämpfer in der Szene und im öffentlichen Raum sichtbar geworden zu sein, die körperliche Auseinandersetzung nicht gescheut zu haben und Angst bei politischen „Gegner*innen“ hervorzurufen, wurden wohl erfüllt. Der Ausbruch aus einem als sozial und politisch entmündigend erfahrenen und völkisch gedeuteten Alltag scheint gelungen.

Auch wenn junge Menschen häufig nicht die Masse der Teilnehmenden stellen, sind die außeralltäglichen Erfahrungen in den vielfältigen Protestszenarien der vergangenen Jahre eine Basis jugendlicher Ideologisierungen und der weitergehenden Involvierung in neonazistische Szenen oder völkisch-nationalistische Lebenswelten geworden. So können neue Rollen ausprobiert oder ausdefiniert werden, die im Rahmen jugendlicher Selbstpositionierungsanforderungen (vgl. Deutscher Bundestag 2017: 49) auch an und in einem lokal-gesellschaftlichen Alltag stattfinden. 

Für die pädagogisch-bildnerische und politische Auseinandersetzung ist es dabei wichtig, jugendliche Positionen im lokalen Protestgeschehen näher in den Blick zu nehmen, auch um daraus Erkenntnisse über Interventionsräume und -grenzen ableiten zu können (vgl. Zingel/Klaus 2022). Übernehmen rechte Gruppen in der einen Kleinstadt im Rahmen der wöchentlichen Montagsdemonstration das „Absichern“ der Nebenstraßen und die Vertreibung von „Gegner*innen“ inklusive Medienvertreter*innen? Stellt eine Gruppe Mädchen in einer anderen Kleinstadt ihre neonazistischen Pullis zur Schau? Stehen Jugendliche beobachtend am Rande der Versammlung? Was geht ihnen durch den Kopf? Treffen sich Freundeskreise, nachdem sie an konträren Versammlungen teilgenommen haben? Solche und ähnliche Fragen sind die Grundlage, um pädagogisch mit den entsprechenden Jugendlichen oder in ihrem „rechtsoffenen“, jugendlichen Umfeld zu arbeiten und dabei an ihren alltäglichen (Bildungs-)Interessen anzuschließen. Gleichzeitig ist auch anzuerkennen, wenn Jugendliche aktuell von pädagogischen Angeboten nicht erreicht werden können. 

Emanzipationsoffen 
Die Normalisierung des Neonazismus und völkischen Nationalismus schreitet in einigen Regionen Deutschlands voran. Die Akteure können breite Bevölkerungskreise für politische Versammlungen aktivieren, erwerben Immobilien, sind mit Angeboten Teil der sozialen und kulturellen Infrastruktur vor Ort.

Das wirkt sich auf die politischen Haltungen und Positionierungen junger Menschen aus. Wo es formalisierten Angeboten politischer Bildung allein immer weniger gelingt, „rechte“ Jugendliche zu erreichen, braucht es die enge Verzahnung mit Strukturen, Räumen und Settings non-formaler politischer Bildung. Notwendig sind Beziehung, Adres­sat*innenorientierung und Niedrigschwelligkeit. 

Im erstgenannten Beispiel, der Szenerie in der Jugendeinrichtung, ergeben sich drei miteinander in Verbindung stehende Handlungsmodi (vgl. Möller u. a. 2021: 73 f.) als Interventionskorridor. Wo immer es geht, sind Fachkräfte angehalten, sich in das Gespräch einzubringen, sich zu solidarisieren und auch von Beteiligten demokratischen Widerspruch einzufordern. Darüber hinaus gilt es, diversitätsbezogene Offenheit und Solidarität in den Räumen sichtbar zu machen und Gelegenheiten zu schaffen, über die Themen proaktiv ins Gespräch zu kommen. Zusätzlich können niedrigschwellige Materialien und Angebote zur Auseinandersetzung mit dem angesprochenen Themenfeld bereitgestellt werden. So kann es gelingen, dass betroffene Jugendliche einen ansprechenden, geschützten Raum vorfinden. Klarzustellen ist in dem Zusammenhang gegenüber allen, dass der Besuch der Einrichtung auch davon abhängt, ob ich als Besucher*in selbst in der Lage bin, einen offenen Raum für alle mitzugestalten, und dieser demnach nicht offen ist, wenn es darum geht, als „anders“ markierte Besucher*innen ab- und auszugrenzen. 


Arbeitsfelder, um junge, „rechtsoffene“ Menschen zu erreichen



Mit Bezug auf außeralltägliche Erlebnisse im Rahmen „rechter“ Aktivitäten ist kritisch zu fragen, welche Arbeitsfelder in einer Auseinandersetzung mit politischen Haltungen noch zuständig sein können. Wenn Jugendliche bereits intensiv in Szene und Referenzräume integriert sind, wäre der Fokus der Arbeit von Jugendarbeiter*innen und anderen Akteur*innen stärker auf das soziale Umfeld, Freund*innen und Bekannte auszurichten. Bei jungen Menschen, die in belastbarem Kontakt mit Jugendarbeiter*innen stehen, sich aber stärker in Szene und Ideologie zu involvieren beginnen, können prozessorientierte, lebensweltorientierte Beratungen eine Möglichkeit sein, Hinwendungsmotive zur Szene zu relativieren und Räume zur Distanzierung zu ermöglichen. Auch hier ist, wie sich in den Beispielen zeigt, eine geschlechterreflektierende Analyse und Strategieentwicklung von zentraler Bedeutung, um alltägliche Anforderungen und Entwicklungsaufgaben zu reflektieren und nach Möglichkeit emanzipatorisch bewältigen zu können. 

Da Emanzipation nicht nur ein subjektiver, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess ist, können die hier benannten Vorgehensweisen nur Teil größerer, zu schaffender demokratischer Möglichkeitsräume im Rahmen langfristiger (Bildungs-)Prozesse sein. Sie brauchen breite, fachübergreifende Partnerschaften, politischen Willen und die Überwindung der fragmentierten Projektlandschaft.


Literatur
Böhnisch, Lothar (2005): Normalität. In: Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Weinheim, München. S. 611–613.

Deutscher Bundestag (2017): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. 15. Kinder- und Jugendbericht. Berlin.

Dietrich, Kai/Schuhmacher, Nils (2022): „Eigensinn“ zwischen völkischem Nationalismus und solidarischem Gemeinwesen. Alltag junger Menschen außerhalb urbaner Zentren in Ostdeutschland. In: Mullis, Daniel/Miggelbrink, Judith (Hg.): Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. Bielefeld, S. 183–200.

Dietrich, Kai/Jaruszewksi, Karola/Schuhmacher, Nils/Vetter, Willy (2019): ‚Auch wenn alle anderen dagegen sind‘. Potentiale von Jugendarbeit für Demokratiebildung und die Auseinandersetzung mit Rassismus. Chemnitz.

Keil, Daniel (2015): Die Erweiterung des Resonanzraums. Pegida, die Aktualisierung des Völkischen und die Neuordnung des Konservativismus. In: Prokla 180, Heft 3, S. 371–385.

MDR (2022): Jung, rechts, gewaltbereit. Online abrufbar: https://www.mdr.de/tv/programm/sendung-784154.html (zuletzt geprüft am 24.02.2023).

Möller, Kurt/Dietrich, Kai/Feder, Johanna/Liedtke, Simone/Nolde, Kai (2021): Erfahrungsräume öffnen – Demokratie gestalten. Die KISSeS-Strategie in der Praxis. Esslingen.

Rippl, Susanne/Seipel, Christian (2022): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Erscheinung, Erklärung, empirische Ergebnisse. Stuttgart.

Zingel, Lea/Klaus, Martina (2022): Wo es hipp ist, rechts zu sein. Eine Demonstrationsbeobachtung. In: Corax. Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen, Heft 2, S. 44–46.

Der Autor

Kai Dietrich ist Sozialpädagoge und Koordinator für den Arbeitsbereich MUT zur emanzipatorischen Bildung in der Jugendarbeit bei der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten (AGJF) Sachsen e.V. Kernthemen hier sind erfahrungsbezogene Praxen in der Auseinandersetzung mit Ablehnungs­haltungen und non-formal Bildung zu Demokratie bei jungen Menschen.

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