Grundlagen für eine Auseinandersetzung ­ mit Antisemitismus in Jugendkulturen

Jakob Baier, Marc Grimm (Hg.) (2022): Antisemitismus in Jugendkulturen. Erscheinungsformen und Gegenstrategien. Frankfurt/M. (Wochenschau Verlag), 248 S., 29,90 €


In dem 2022 von Jakob Baier und Marc Grimm herausgegebenen Sammelband „Anti­semitismus in Jugendkulturen. Erscheinungsformen und Gegenstrategien“ befassen sich die Autor*innen mit verschiedenen Jugendkulturen in Deutschland und den darin vorkommenden Formen von Antisemitismus. 

 Die Autor*innen betrachten damit einen bisher weitgehend unerforschten Bereich in der Antisemitismusforschung. Diese hat sich in den letzten Jahren besonders mit der Perspektive auf ‚Jugend‘ und Antisemitismus im Bereich der Schule angenähert. Hier sind unbedingt die Studien von Julia Bernstein an Schulen zu nennen. Die Leser*innen erlangen Einblicke in Jugendkulturen, die auch außerhalb des Mainstreams verlaufen.

In einer kurzen Einführung schildern Baier und Grimm, warum es notwendig ist, sich mit Antisemitismus in Jugendkulturen zu beschäftigen und leiten diese aus verschiedenen gesellschaftlichen Ereignissen, wie der Verleihung des ECHO Musikpreises im Jahr 2018 her. Zudem werden Jugendlichen, wenn sie sich einer bestimmten Jugendkulturszene zugehörig fühlen, mit verschiedenen Identifikationsangeboten konfrontiert, die gleichzeitig als Symbol der jeweiligen Szene fungieren. Jugendkulturen und was in diesen an Inhalten kommuniziert wird, so die Autoren, beeinflussen nachhaltig die Ausbildung eines Normen- und Wertesystems und sind daher nicht zu unterschätzen. 

Im Bereich der musikbezogenen Jugendkulturen wird in den ersten beiden Beiträgen des Bandes auf den deutschsprachigen Rap und Hip-Hop eingegangen. Dieser steht seit den Vorkommnissen der ECHO-Preisverleihung rund um das Album „JBG3“ (Jung, Brutal, Gutaussehend) von Farid Bang und Kollegah, besonders im Fokus. Während sich der Beitrag Baiers auf die Entstehungsgeschichte und die aktuellen Kommunikationsformen antisemitischer Inhalte in Rap-Texten und über weitere Plattformen ausdrückt, wird im Beitrag von Jäger, Gross und Méndez ein Bezug zu den Erfahrungen der Autor*innen in der Arbeit mit Jugendlichen in Zusammenhang mit Hip-Hop bzw. Rap hergestellt. Die fehlende jüdische Perspektive wird dabei als Problem herausgearbeitet, gleiches gilt für die Betonung der Unwissenheit und Unsicherheit der Pädagog*innen im Umgang mit antisemitischen Inhalten. Im Beitrag von Kirstein und Eisheuer wird das wesentlich weniger populäre Genre des Punks und Hardcores betrachtet. Dabei zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis der Szene und dem Äußern antisemitischer Inhalte, der durch Pädagog*innen nur schwer aufzuarbeiten ist. Dieser Umstand ergebe sich aus der Tatsache, dass Pädagog*innen als staatliche Akteur*innen und somit als eine Art von Autoritäten wahrgenommen werden, welche grundsätzlich abzulehnen sind. 

Im Rahmen der jugendrelevanten Medien widmen sich Hunold und Penke dem sogenannten „gameifizierten Antisemitismus“ auf der Gamer-Plattform „Steam“. Dabei wird ein Einblick in die Funktionsweise der Plattform gegeben, wie Nutzer*innen diese verwenden und wie über versteckte und offene Kommunikationsformen Antisemitismus verbreitet wird. Besonders die Kommunikation über Memes beschäftigt die Autoren. Diese übersetzten „alte Bilder und Vorurteile in neue mediale und ästhetische Kontexte“ (130). Auf diese Kommunikationsform geht ebenfalls der folgende Beitrag von Stevanović genauer ein. Hier wird die Gemeinsamkeit der Anpassungsfähigkeit der Kommunikation über die sogenannten Memes auf der einen Seite sowie der Inhalte des Antisemitismus auf der anderen Seite herausgestellt. Ebenso wird die den Memes und dem Antisemitismus inhärente Dynamik betont. 

Der Themenschwerpunkt Politik und Religion beginnt mit der genaueren Betrachtung der Organisation der ‚Identitären Bewegung‘ durch Ackermann und Haarfeldt. Ziel des Beitrages ist es, die neu gewählten Kommunikationsmodi rechter Akteur*innen zu untersuchen. Diese Kommunikationsformen, aber auch weitere Identifizierungsangebote, werden am Beispiel der ‚Identitären Bewegung‘ dargelegt und dekonstruiert. Die Autoren beschreiben die Reaktion auf antisemitische Aussagen als besonders wichtig, sodass diese nicht unwidersprochen im Raum stehen. Die Befähigung zur Reaktion gründet sich dabei auf ein fundiertes Wissen über Antisemitismus und dessen Funktionsweisen. Die Organisation, Struktur und Selbstidentifikation des Jugendwiderstandes werden von Poensgen genauer betrachtet. Dieser arbeitet die maoistische Orientierung der Gruppierung und deren Verbindung zu Sexismus und antisemitischen Inhalten heraus und beschreibt die daraus resultierenden Probleme für die Bildungsarbeit. Der letzte Themenschwerpunkt rückt den Vereins-Fußball in den Blick. Hier wird zum einen darauf verwiesen, dass besonders Jüdinnen und Juden sich im Vereinsfußball allein gelassen fühlen. Zum anderen wird erklärt, dass Antisemitismus bei jüngeren, sportaffinen Menschen weiterverbreitet sei als im Vergleich zur Gesamtgesellschaft. Die beiden Beiträge von Beer, Grimm und Viso als auch von Delto und Zick verweisen auf eine doppelte Belastung jüdischer Vereinsmitglieder durch stattfindende antisemitische Äußerungen und durch fehlende Unterstützung und Rückhalt in den Vereinen bei antisemitischen Vorfällen. 

Der Sammelband bietet einen sehr breiten Einblick in verschiedenste für Jugendliche relevante Kulturen. Die bereits im Titel des Bandes angekündigten Gegenstrate­gien für Antisemitismus sind jedoch nicht in jedem der Beiträge zu finden. Die Leistung des Bandes besteht vielmehr darin, dass die Leser*innen in die ihnen unbekannten Jugendkulturen eingeführt werden. Es wird auf die in den unterschiedlichsten Szenen geltenden Regeln und Verhaltensweisen sowie die Selbstverständnisse hingewiesen und diese rekonstruiert. Positiv ist die Benennung von verantwortlichen Akteur*innen zur Sanktionierung antisemitischen Verhaltens und Prävention vor diesem, in den beiden letzten Beiträgen zur Thematik des Vereins-Fußballs zu werten. Ackermann und Haarfeldt sehen stattdessen in der Freiwilligkeit von Pädagog*innen zu einer Workshop-Teilnahme eine Option, um diese hinsichtlich antisemitischer Vorfälle und den entsprechenden Reaktionen und Sanktionen zu schulen. Es wird jedoch außer Acht gelassen, dass die Teilnehmer*innen eines solchen Workshops zumeist bereits über ein Problembewusstsein hinsichtlich des Antisemitismus verfügen und dadurch keine Ansprache derjenigen erfolgt, die über keinerlei Problembewusstsein verfügen.

Insgesamt bietet der Band politischen Bildner*innen dank seiner exemplarischen und verschiedenen Darstellungen eine Grundlage, sich weiter und vertieft mit Antisemitismus in Jugendkulturen auseinanderzusetzen sowie für dessen Funktionsweise, Dynamik und Anpassungsfähigkeit ein Gefühl zu entwickeln.

Die Rezensentin

Anna Carla Heinen (M. Ed.) ist Studien­referendarin am Städtischen Gymnasium Kreuztal und war zuvor an der Universität Siegen als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl „Politische Systeme und vergleichende Politikwissenschaft“ tätig.

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