
Friedenspädagogik als Wahrnehmungsschule
Angesichts von Krieg und Gewalt wird einmal mehr deutlich, dass das Wahrnehmen von Bedeutungsvollem, von Werten und Normen, von Schönem und Hässlichem, Gutem und Schlechtem kein Automatismus ist. Wir nehmen grundsätzlich verkürzt wahr und das ist unvermeidlich. Trotzdem muss die bedeutungserschließende Aufmerksamkeit dem anderen und Fremden gegenüber immer wieder neu eingeübt werden, sodass das fremde Gegenüber nicht mit unseren Vorurteilen verwechselt wird.
Selbstwerdung statt Selbstbehauptung – ein Leitmotiv in der Geschichte der politischen Philosophie
Im sogenannten ‚Deutschen Idealismus‘ reformuliert sich ein anthropologisches Leitmotiv der politischen Philosophie – der Mensch als mit Würde und Vernunft ausgestatteter unverfügbarer Selbstzweck – in mehreren berühmten Fassungen. Kants kategorischer (Rechts-)imperativ fordert, das Vernunftwesen „Mensch“ sei als „Zweck an sich selbst“ (Kant 2020 [1785]: 61 (BA 66)) zu begreifen: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 2020 [1785]: 61 (BA 66,67)) Warum? Weil der Mensch „nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde“ (ebd.: 68 (BA 76,77)) besitzt. Diese Würde, so Wilhelm von Humboldt wenig später (1809) in seinem Entwurf einer neuen Konstitution für die Juden, ist die Würde des unverfügbaren, nicht im Staat, in Religion oder Rasse aufgehenden Individuums. Humboldt fordert die Gleichstellung der Juden in Preußen und fordert vom Staat, „dass er keinen Unterschied zwischen Juden und Christen mehr anerkennt.“ (Humboldt 2010 [1809]: 97). Der Staat müsse
„die inhumane und vorurtheilsvolle [sic!] Denkungsart [...] aufheben, die einen Menschen nicht nach seinen eigenthümlichen [sic!] Eigenschaften, sondern nach seiner Abstammung und Religion beurtheilt [sic!] und ihn, gegen allen wahren Begriff der Menschenwürde, nicht wie ein Individuum, sondern wie zu einer Race [sic!] gehörig und gewisse Eigenschaften gleichsam nothwendig [sic!] mit ihr theilend [sic!] ansieht“ (ebd.: 98)
Prominenter noch als Humboldts Forderung, dass nur jemand und nicht ein Vertreter von etwas Würde besitzen kann, ist die folgende Formulierung G. W. F. Hegels. Er schreibt in § 209 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewusstsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, – nur dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen.“ (Hegel 1989a [1821]: 360f. (Hervorh. i. O.)) Hegels Vorschlag in jener Rechtspflege, dass das „Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind“ (ebd.: 360), erfährt bis heute mannigfaltige philosophische…
Weiterlesen mit JOURNAL+
Lesen Sie diesen und alle weiteren Beiträge aus dem Journal für politische Bildung im günstigen Abonnement.
Mit Ihrem Abonnement erhalten Sie die vier gedruckten Journal-Ausgaben im Jahr sowie vollen Zugriff auf alle Journal+ Beiträge des Online-Angebots.
Jetzt abonnieren
Sie haben das Journal für politische Bildung bereits abonniert?
Jetzt anmelden

Der Autor
Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedensinstituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt
er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie.