‚Fortschrittskoalition‘ beschneidet politische Bildung in Deutschland – Verbände warnen vor massiven Folgen für die Demokratie

In einer Zeit, in der die AfD mit bis zu 34 % fröhlich vom Umfragethron winkt, wo Landräte mit blauem Parteibuch im Braunton gewählt werden und wo sich zunehmend Bürger*innen schwer damit tun, sich und ihre Interessen noch in der Politik wiederzufinden, sollte man erwarten, dass dies die hohe Zeit der politischen Bildung ist. Nicht die, die staatliche Organe durchführen, sondern die, die zivilgesellschaftlich verantwortet und angeboten wird, die Raum schafft zur Begegnung und zum Nachdenken, zum Selbstvergewissern und zur Stärkung einer aufgeklärten politischen Haltung, die befähigt zum autonomen Handeln auf demokratischer Grundlage. Möchte man meinen.

Nicht so aber die ‚Fortschrittskoalition’ aus SPD, Grünen und FDP. Diese legte am 5. Juli 2023, nur wenige Tage nach den spektakulären Erfolgen der AfD bei Kommunalwahlen, einen Bundeshaushalt vor, der sowohl in der politischen Kinder- und Jugendbildung als auch in der politischen Erwachsenenbildung massive Kürzungen vorsieht. Diese Kürzungen betreffen vor allem die erfahrene Trägerlandschaft, die für verlässliche und kontinuierliche Angebote in der Fläche und jenseits von Krisenkonjunkturen steht. Diese Landschaft bietet in ihren Bildungsstätten und Akademien, in ihren stationären und aufsuchenden Angeboten immer wieder neue Gelegenheiten, die Menschen zu erreichen, mit ihnen über ihre Sorgen und Nöte zu diskutieren, aber auch sie immer wieder zu autonomem Handeln zu befähigen. Diese Träger leisten damit einen sehr aktiven und erkennbaren Beitrag zur Demokratie in Deutschland.


„Diese Kürzungen widersprechen […] dem Koalitionsvertrag und sind ­eine gravierende politische Fehlentscheidung. Das im Koalitionsvertrag formulierte Erfordernis einer bedarfsgerechten Ausstattung des KJP ­hätte vielmehr eine Aufstockung des Kinder- und Jugendplans für das Jahr 2024 erfordert. Und zudem ist dies die völlig falsche Antwort auf die aktuellen politischen Herausforderungen in Deutschland. In Zeiten des Erstarkens rechtsextremistischer, demokratiefeindlicher Kräfte in Deutschland und der Wahl eines ersten AfD-Landrates sowie Bürger­meisters brauchen wir mehr politische Bildung und nicht weniger.“

Gunter Geiger, Vorsitzender der AKSB https://www.aksb.de/aktuelles/kjp-kuerzung-verhindern


Diese Träger sind mit Mühe und Not, aber auch mit staatlicher Unterstützung durch die Corona-Krise gekommen. Jetzt sind sie mit erheblichen Kostensteigerungen konfrontiert, die die Arbeit bereits deutlich erschwert haben. Statt diese Träger, die so wichtig für die Demokratie sind, die massiven Herausforderungen und Bedrohungen ausgesetzt ist, deswegen zu stärken und besser zu finanzieren, geht die Bundesregierung den gegenteiligen Weg. Die Träger sollen im nächsten Haushalt um ein Fünftel bis ein Viertel gekürzt werden. Im Kinder- und Jugendplan, über den die politische Jugendbildung finanziert wird und den die Jugendministerin Paus (Bündnis 90/Die Grünen) verantwortet, und im Etat der Bundeszentrale für politische Bildung, die zahlreiche anerkannte und qualifizierte Träger der politischen Erwachsenenbildung fördert und die der Innenministerin Faeser (SPD) zugeordnet ist, hat der Bundesfinanzminister Lindner (FDP) deutlich den Rotstift angesetzt. Die Kürzungen betreffen Träger, die in der Regel über geringe Eigenmittel verfügen, für ihre Veranstaltungen oft schon (zu) hohe Teilnahmebeiträge erheben müssen, um ihre Kosten zu decken, und deren Mitarbeiter*innen oft genug weit unterhalb jeder regulären Tarifordnung entlohnt werden. Diesen Trägern wird nun abverlangt, mit weniger Geld und bei gestiegenen Kos­ten nicht nur die gleiche Arbeit, sondern auch noch eine bessere und umfassendere Arbeit zu leisten.

Dass das nicht aufgeht, liegt auf der Hand. Es kann daher nicht verwundern, dass die Veröffentlichung dieses Entwurfes mit einer Welle des Protestes beantwortet worden ist. Die „Akademie Frankenwarte“ kritisiert diese „drastischen Kürzungen bei der politischen Bildung“ wie auch Mitgliedsorganisationen der Gesellschaft der Europäischen Akademien, die warnen, dass sich diese Kürzungen „in der Fläche deutlich bemerkbar“ machen werden. Die Arbeitsgemeinschaft Katholisch Sozialer Bildungswerke (AKSB) „warnt vor (der) Schwächung der politischen Bildung in Zeiten des Erstarkens extremistischer Kräfte“. Der Deutsche Volkshochschulverband (DVV) beklagt, dass der Haushaltsentwurf etablierte Strukturen schwächt, anstatt sie zu stärken. In das gleiche Horn bläst die Gemeinsame Initia­tive der Träger Politischer Jugendbildung (GEMINI) im Bundesausschuss politische Bildung (bap), indem sie fordert, dass die „bundeszentrale Infrastruktur (zu) bewahren und zu stärken“ sei. Der Arbeitskreis deutsche Bildungsstätten (AdB) schließlich befürchtet durch die Maßnahmen einen „Substanzverlust für die wichtige Arbeit der Demokratiebildung“.


Kürzungen am Kinder- und Jugendplan (KJP) des Bundes abwenden – bundeszentrale Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe bewahren und stärken!
 Wir stehen damit faktisch vor der Wahl zwischen dem Abbau von Leistungen für Kinder und Jugendliche oder der untertariflichen Vergütung der Fachkräfte. Einige bundeszentrale Träger werden gar in ihrer Existenz bedroht sein. […] Wird dieser Entwicklung nicht entgegen­gewirkt, führt sie ab 2024 zwangsläufig zur Aushöhlung der Jugendhilfe-Infrastruktur in Deutschland, etwa durch den Abbau von pädagogischem Fachpersonal oder Einschränkungen des Leistungsangebots und der Reichweite. […] Unser Anliegen ist ein sofortiges Umsteuern ­ in der Haushaltspolitik für das kommende Jahr.
Aufruf des AdB; https://www.adb.de/content/ keine-kürzung-des-kinder-und-jugendplans


Es bleibt abzuwarten, ob die ‚Fortschrittskoalition’ im Herbst 2023 die Kraft findet, im Bundeshaushalt die Prioritäten zu setzen, die dem Land guttun werden. Das sind natürlich Maßnahmen zur Stärkung von Familien und des sozialen Zusammenhaltes; es sind sicher auch verstärkt Ausgaben für den Klimaschutz, zur Bewältigung der multiplen Transformationsprozesse und auch, ja, zur Stärkung der (inneren und äußeren) Sicherheit erforderlich. Aber ganz sicher braucht unser Land auch mehr Geld für die politische Bildung – mehr, nicht weniger. „Ein demokratisches Land braucht eine starke demokratische Zivilgesellschaft. Und die braucht Räume zum Lernen und Wachsen. Das schaffen die anerkannten Träger der politischen Bildung. Sie zu beschneiden ist die falsche Antwort auf die aktuellen politischen Herausforderungen.“ (Bundesausschuss politische Bildung e. V., bap, 5.7.2023) Wilfried Klein, Vorsitzender bap

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Wilfried Klein, Vorsitzender bap

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