Familiale Resilienzen in der Corona-Zeit

Wir leben in einer Risikogesellschaft – diese zentrale Einsicht, die Ulrich Beck schon 1986 in seinem Hauptwerk behandelte, wird heute gern verdrängt. Die Corona-Krise zeigt aber unübersehbar, dass die Moderne mit unwägbaren Risiken verbunden ist, die jederzeit auftreten und alle treffen können. Daher ist es notwendig, sich mit Resilienzen zu beschäftigen: Abwehrpotenzialen, die dabei helfen, Krisen zu überwinden, nicht an ihnen zu zerbrechen, sondern möglichst an ihnen zu wachsen. 


Die Resilienzforschung, die in den 1950er Jahren entstand, interessierte sich zunächst für die individuelle Ebene: Mit pädagogischen Mitteln sollte die Resilienz bei Kindern, die unter „extrem ungünstigen Lebensbedingungen“ aufwachsen, gestärkt werden (vgl. Wieland 2011: 180 f.). Der US-Soziologe Reuben Hill rückte dagegen das Vermögen der Familie in den Mittelpunkt, Probleme gemeinsam zu bewältigen: „Die Familienresilienz umfasst Einstellungen, Eigenschaften, Kompetenzen und Strategien […] von einzelnen Familienmitgliedern und Familien insgesamt, die dazu beitragen, widerstands- und anpassungsfähig in Anbetracht von Krisensituationen zu sein“ (Sonnenmoser 2016).

In der Corona-Krise sind nun Millionen von Familien gleichzeitig mit einer beispiellosen Ausnahmesituation konfrontiert. Mitte März 2020 schlossen in ganz Deutschland die Schulen, gleichzeitig mussten Homeoffice und Homeschooling organisiert werden. Die Kinder konnten ihre Freund*innen nicht mehr besuchen, die gewohnten Freizeitangebote nicht wahrnehmen. Welche familialen Resilienzen und Anpassungsstrategien waren in dieser Zeit zu beobachten und wie lassen sich diese gezielt fördern?

Die Methode
Das Deutsche Jugendinstitut hat zwischen dem 22. April und dem 21. Mai 2020 eine Onlinebefragung mit 12.628 Eltern durchgeführt, um herauszufinden, wie Kinder die Corona-Krise erleben und bewältigen. Interviews mit 22 Kindern zwischen 6 und 14 Jahren und ihren Eltern ergänzen diese. Das Ziel der Gespräche, die Ende Mai und Anfang Juni 2020 geführt wurden, war es, herauszufinden, welche Auswirkungen die Krise auf die Stimmung in der Familie und das Wohlbefinden der Kinder hat.


Beispielloses Aufbrechen gewohnter „Normalität“



Die Analyse folgte dem Verfahren der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2018: 97 ff.). Aufgrund der Verbreitung der Umfrage vor allem über pädagogische Netzwerke ergab sich ein deutlicher Bias hin zu einer höheren Bildung und einer besseren finanziellen und räumlichen Situation. Die Interviews zeichnen somit überwiegend die Lage in Familien nach, in denen relativ gute Ausgangsbedingungen bestanden. So lässt sich im Rahmen dieser Analyse vor allem in Erfahrung bringen, wie Anpassungen unter diesen relativ günstigen Bedingungen gelingen können.

Die Stimmung in der Familie
Die Interviews zeichnen die komplexen Dynamiken einer Zeit nach, die von einem beispiellosen Aufbrechen gewohnter „Normalität“ gekennzeichnet ist, und zeigen große Belastungen. Die Stimmung in den befragten Familien kann im Großen und Ganzen als wechselhaft, aber stabil bezeichnet werden. Es besteht das Bewusstsein einer immensen Herausforderung, die gemeinsam bewältigt werden muss. Sowohl die Eltern als auch die Kinder berichten von Stimmungsschwankungen. Kinder erleben diese eher als diffus. Die Eltern reflektieren klarer die Ursachen, sehen sich durch Homeschooling und Homeoffice belastet, gleichzeitig führen sie sich aber auch die schönen Momente des intensiveren Zusammenlebens in der Familie vor Augen.

„Ähm so, also meine Stimmung ist gut, manchmal aber auch nicht so; und [längere Pause], hm, manchmal bin ich auch so ganz traurig, ganz fröhlich, manchmal auch so maulig, und manchmal auch ganz müde […]. Äh, vor Corona war’s auch manchmal so, aber jetzt ist das ein bisschen mehr.“ Malte, 8 Jahre

„Also die Stimmung war äh wechselhaft [lacht]; wir hatten gute Zeiten, auch als Familie, wir sind ganz viel Fahrrad gefahren, das waren auch wirklich schöne, schöne Momente, die wir hatten, wir haben viel Zeit zu viert verbracht, wir haben viel im Garten geschafft [lacht], was sonst nicht gegangen wäre; genau, sind aber beide vor allem dann an unsere Grenzen gekommen, wenn einer von uns arbeiten musste und die Kinder eben zu Hause waren.“ Mutter von Birgit, 6 Jahre

Die Kinder berichten auch von der Unsicherheit, die durch die ständigen Nachrichten über Corona entsteht. Sie reden in der Familie über das Thema und haben Angst, dass auch Angehörige, vor allem die Großeltern, gefährdet sein könnten.

„Also ähm ich fand’s jetzt halt schon erschreckend, dass das halt auch wirklich so tödlich ist, also im Fernsehen, da kommt ja sehr viel darüber, und äh da hat man auch gesehen, dass die Krankheit wirklich gefährlich ist, dass halt gesunden Menschen das halt auch schaden kann.“ Benny, 11 Jahre

Für die Kinder war das mit Abstand größte Problem das Kontaktverbot – besonders zu Beginn, während des strikten Lockdowns. Die Trennung von Freund*innen und Großeltern wurde als besonders belastend empfunden. Die Familien mussten in kurzer Zeit für Ausgleich sorgen. Treffen mit anderen Kindern oder den Großeltern wurden unter Berücksichtigung des „Social Distancing“ ermög­licht. In einigen Fällen wurden Gruppen mit sich nahestehenden Kindern gebildet – auch für das Homeschooling. In vielen Fällen aber blieb mediale Kommunikation die einzige Möglichkeit, miteinander in Verbindung zu bleiben. Die Eltern stellten die Technik zur Verfügung und lockerten die Regeln zur Beschränkung der Nutzungszeit. Damit der Medienkonsum allerdings nicht ausuferte, förderten sie verstärkt auch andere Aktivitäten.

„Dadurch ist dann auch die Medienzeit – meine Mutter ist bei so was ja streng – halt natürlich deutlich hochgegangen. Damit wir jetzt nicht quasi die ganze Zeit rumliegen, haben die Eltern gesagt: raus – und zu verschiedenen Orten.“ Benny, 11 Jahre

Während Stress bei den Eltern und Ängste bei den Kindern präsent sind, beherrschen sie aber nicht die Stimmungslage. Nur vereinzelt nehmen in den von uns befragten Familien die Probleme überhand. In einem Fall erzählt eine Mutter von Wutausbrüchen und von Weinanfällen des Kindes. Eine andere berichtet von Schlafproblemen und vom Bettnässen. Insgesamt aber pendeln sich bald wieder ein funktionierendes Miteinander und ein verhaltener Optimismus ein.

Ein wesentlicher Stressfaktor: Homeschooling
Am häufigsten wurde das Homeschooling als Ursache von Stress identifiziert – besonders von den Eltern. Das Gelingen war in hohem Maß von den Rahmenbedingungen abhängig. Die Familien reagierten flexibel auf die Vorgaben und meist gelang es dabei, ein zumindest für die Kinder erträgliches Vorgehen zu etablieren.

„Wie soll ich die ganzen Aufgaben schaffen, und so, das war am Anfang ein großes Problem; da haben ich und meine Mutter dann aber auch entsprechende Lösungen gefunden mit Apps, wo wir Zeit anzeigen, dass ich jeden Tag drei Stunden und 30 Minuten gearbeitet habe. […] Und ich bin morgens immer noch mal eine Runde raus­gegangen, bevor ich angefangen habe, einfach um frische Luft zu schnappen, und dann ging’s auch deutlich besser.“ Benny, 11 Jahre

In den meisten Familien wurden feste Lernzeiten mit den Kindern vereinbart, die oft variabel gehandhabt wurden. Insgesamt erfolgt das Homeschooling eher in Form eines Abarbeitens vorgegebener Aufgaben mit lockerer Betreuung durch die Eltern – und nicht als traditioneller „Unterricht“. Je älter die Kinder sind, desto größer sind ihre Freiräume. Die stärksten Belastungen wurden von Eltern geschildert, die sich von der Schule und den Lehrkräften im Stich gelassen fühlten. Es lag dann an den Eltern, die Kinder in dieser schwierigen Situation anzuleiten und zu motivieren.

„Also wir haben Lehrer erlebt, wo man wirklich den Eindruck hat, da wird ein Schwung Arbeitsblätter gemailt, ohne irgendeine Anweisung, Erklärung, Hilfe, und auch ohne eine Rückmeldung einzufordern. Also mir gelang es dann […] nicht, sie [die Kinder] noch zu motivieren, nur mit viel Süßigkeiten und irgendwelchen Versprechungen.“ Mutter von Jan, 14 Jahre, und seiner Schwester, 11 Jahre

Aktivitäten zur Entspannung der Situation
Die Familien resignieren aber nicht im Angesicht dieser Herausforderungen – dies zeigen die Interviews klar –, sondern sorgen aus eigener Initiative für Entlastung. Einen entscheidenden Einfluss auf die Stimmungslage und das subjektive Bewusstsein der Belastungen haben gemeinsame Aktivitäten. Einhellig wurde berichtet, dass mehr Zeit miteinander verbracht, Neues ausprobiert wurde, um die Lage zu entspannen. Ganz oben auf der Liste standen dabei Ausflüge und sportliche Aktivitäten, insbesondere Radtouren, Federball und Inline-Skating. Dies ist zum einen ein Ersatz für andere Aktivitäten, die nun wegfallen. Auf der anderen Seite schafft es auch einen Ausgleich für die vermehrten „sitzenden“ und medialen Beschäftigungen wie Homeoffice und Homeschooling.

„Ja, wir waren ja eigentlich in der Regel um die zwei Stunden mindestens draußen und waren Fußball spielen, oder [sind] Fahrrad gefahren oder spazieren gegangen oder Ähnliches.“ Vater von Bernd und Benny, 6 und 11 Jahre

„Dass wir mehr Sport gemeinsam machen, was wir vorher gar nicht gemacht haben, da hatte ja jeder so seine Hobbys [lacht]; und dann machen wir auch mehr gemeinsame Ausflüge, so kleine Fahrradtouren. […] Und die Kinder haben tatsächlich auch mal zusammen musiziert [lacht]!“ Mutter von Beate, 9 Jahre

Häufig erfolgen nun gemeinsame Aktivitäten, die bei den Kindern besonders beliebt sind, für die aber sonst zu wenig Zeit ist. Dazu zählen Vorlesen, Brettspiele und das gemeinsame Nutzen von medialen Angeboten. Oft wird gemeinsam gekocht und gebacken. Die Eltern nutzen auch die Chance, um mehr über die Themen und Aufgaben zu lernen, die die Kinder bewegen.

„[Wir] haben dann auch regelmäßig Familienfilmabende gemacht, also haben dann eben versucht in der Familie viel, viel aufzufangen. Clone Wars haben wir jetzt mal zusammen angeguckt. Und wir haben das jetzt mal so angenommen als Herausforderung, wir müssen die Filme mal kennen [lacht].“ Mutter von Thomas, 14 Jahre

In einigen Fällen wird auch berichtet, dass die Zeit für Umgestaltungen im Haus genutzt wird, auch im Garten wird viel getan, die Umgebung erforscht. So entsteht bald ein ganzes Spektrum von Aktivitäten, die den Alltag neu strukturieren und Belas­tungen minimieren.

„Also wir haben schon versucht, glaub ich, das Beste draus zu machen und haben dann zum Beispiel, als kleines Highlight aus Kinder-Sicht, die beiden Kinderzimmer renoviert. […] Oder mit dem großen Sohn einfach mehr Kartenspiele zu machen, was man sonst vielleicht eher nicht macht, weil er mit Freunden unterwegs ist. Oder ich habe der Tochter mal wieder vorgelesen.“ Mutter von Jan, 14 Jahre, und seiner Schwester, 11 Jahre

Die Wirksamkeit von Anpassungs­strategien
Unsere Interviews zeigen, dass während der Corona-Krise familiale Resilienzen wirksam aktiviert werden, wobei vielfältige Strategien zum Einsatz kommen. Dabei werden nicht nur Einzellösungen für drängende Probleme gefunden, sondern vielmehr neue Strukturen und Abläufe etabliert, die Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen bündeln. Dabei ist es besonders wichtig, sich gegenseitig Halt zu geben.

„Ich habe dann einfach mal gesagt, jetzt fängste mal an zu backen [lacht]. Oder man hat tief durchgeatmet, dann ist man rausgegangen, und dann ist man halt durch die Stadt und hat sich halt, ja, mit Abstand eine Riesen­portion Eis geholt, und dann ging’s vielleicht auch wieder. […] Man hat sich gegenseitig aufgebaut und hat gesagt: Ja, es wird wieder, wir sehen uns alle wieder, und es wird kein Dauerzustand sein. Solche Sachen. Man hat versucht, sich gegenseitig aufzubauen.“ Mutter von Marcus, 10 Jahre

Schon die reine „Familienzeit“, das pure Zusammensein, das Spielen, Unterhalten und Vorlesen, ist eine wertvolle Erfahrung, die sonst zu kurz kommt. Das Mehr an Miteinander kann als wichtige Resilienz-Ressource angesehen werden, die viele Belastungen abfedert und – bei guten Rahmenbedingungen – in hohem Maß zur Verfügung steht. Im besten Fall überwiegen sogar die positiven Erfahrungen die Belastungen. In vielen Familien wird der Vorsatz gefasst, die neuen Aktivitäten auch nach der Corona-Zeit fortzusetzen. Sie erleben, dass es auch Alternativen zu verinnerlichten Lebensentwürfen gibt, bei denen Eltern und Kinder hauptsächlich mit Beruf und Schule beschäftigt sind und nur wenig Zeit füreinander haben.

„Und äh ich glaub, die Kinder haben das sehr genossen, dass sie auch bei uns sind im Moment. Also genau genommen habe ich nicht das Gefühl, dass denen was fehlt [lacht], und die das eigentlich sehr, sehr schön finden, zu Hause zu sein.“ Mutter von Hannelore, 6 Jahre

Fazit
Unsere Interviews geben einen aufschlussreichen Einblick in die familiale Situation in der Corona-Zeit. In den meisten der befragten Familien werden effizient Resilienzen aktiviert, neue funktionierende Strukturen geschaffen und die Belastungen minimiert. Als wichtigste Ressource erscheint dabei das Miteinander selbst, erscheinen die vielfältigen Aktivitäten und Interaktionen in der Familie, die sonst zu kurz kommen.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass wir vor allem mit Familien sprachen, die sich in einer relativ guten Situation befanden: Man verfügte i. d. R. über eine relativ hohe Bildung und eine gute Wohnsituation, konnte Homeoffice in Anspruch nehmen und wurde beruflich nicht direkt von der Krise bedroht. Dies zeigt, dass Resilienzen vor allem unter günstigen Rahmenbedingungen wirksam werden. Familiale Resilienz bedeutet, sich auch in schwierigen Lagen bestmöglich anpassen zu können: Tagesabläufe, Rollenverteilungen und Aktivitäten autonom und souverän zu strukturieren, gemeinsame Strategien zu finden.


Leidtragende sind die Kinder



Dazu sind, neben günstigen Rahmenbedingungen, gute und konstruktive Kommunikationsstrukturen innerhalb der Familie nötig. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass Familien, in denen diese Bedingungen nicht gegeben sind, von Krisen ungleich härter getroffen werden. Ist es nicht möglich, die Belastungen durch familiale Resilienzen abzufedern, dann sind vor allem die Kinder die Leidtragenden. Daraus folgt: Investitionen in stabile Familienstrukturen, Bildung und kommunikative Kompetenzen zahlen sich immer aus und fördern Resilienzen. Dazu ist es auch notwendig, auf breiter Basis für Sicherheit, gute materielle Bedingungen und berufliche Stabilität zu sorgen.

Literatur
Kuckartz, Udo (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim.

Langmeyer, Alexandra u. a. (2020): Kindsein in Zeiten von Corona. Ergebnisbericht zur Situation von Kindern während des Lockdowns im Frühjahr 2020. DJI, München.

Sonnenmoser, Marion (2016): Resilienz in Familien. Gemeinsam Krisen überwinden. In: Deutsches Ärzteblatt PP 15, H. 4, S. 170.

Wieland, Norbert (2011): Resilienz und Resilienzförderung – eine begriffliche Systematisierung. In: Zander, Margherita (Hg.): Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden, S. 180–207.

Zander, Margherita (Hg.) (2011): Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden.


Zitation:
Urlen, Marc (2021). Familiale Resilienzen in der Corona-Zeit, in: Journal für politische Bildung 1/2021, 38-43, DOI https://doi.org/10.46499/1669.1808.

Der Autor

Dr. Marc Urlen ist Medienwissenschaftler am Deutschen Jugendinstitut e. V. in München und arbeitet im Forschungsprojekt „Kindsein in Zeiten von Corona“. Seit 2016 betreute er das Projekt „Apps für Kinder“, das pädagogische Bewertungskriterien für Kinder-Software entwickelte und eine Datenbank für Eltern und Fachkräfte zur Verfügung stellte.

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