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Erzählcafés – Methode der politischen Bildung

Gert Dressel, Johanna Kohn, Jessica Schnelle (Hg.): Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie. Weinheim (Beltz Juventa) 2023, 317 S., 26,00 € 

Zu den wiederholten Themen und Diskussionen in der politischen Bildung gehört, über ihre Formate, Orte und Zeiten nachzudenken; vor allem wenn es um Überlegungen geht, wie neue bzw. weitere Zielgruppen erreicht werden können. Hier ist der vorgelegte Sammelband, der aus anderen Kontexten bzw. Handlungsfeldern und als theoretisch durchdachtes und niedrigschwelliges Format entstanden ist, interessant und anregend. Kern des Formates ist das moderierte biografische Erzählen in Gruppen, das gemeinsame Zuhören, aufeinander Eingehen in Erzählräumen und organisierten Erzählzeiten. Von einem Schweizer und Wiener Autorenteam bzw. Netzwerk ausgehend wurden Autor*innen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich eingeladen, von ihren Erfahrungen zu berichten. Das Buch hat drei Teile mit den Überschriften: Überblicke, Einblicke und Durchblicke. Zunächst werden die Anfänge und ersten Erfahrungen sowie die gegenwärtige Landschaft und die Handlungsfelder des biografischen Erzählens skizziert.

Das erste Kapitel beginnt mit einem Interview mit Hartmut Rosa, dessen Theorie der Resonanz zum Bezugsrahmen der Erzählcafes gehört. In zwei Beiträgen und einer Bildstrecke wird dann deutlich, dass es ein relativ junges Format ist und sich in den 1970er/80er Jahren unter dem Motto „Grabe wo Du stehst“ vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entwickelt hat. Weiter wurde das Format durch die Tradition in der Biografiearbeit und des biografischen Erzählens in Gruppen sowie von den Erfahrungen in der Bildungs- und Kulturarbeit inspiriert. Es hat sich dann mit den unterschiedlichsten Themen in den Handlungsfeldern der Bildung, Gesundheit, Kultur und Sozialen Arbeit etabliert. Im umfänglichen zweiten Kapitel werden in vierzehn Beiträgen vielfältige Einblicke in eine interessante Praxiswelt gegeben. Es sind Erfahrungen aus „interkulturellen Erzählcafes“ und mehrere zum „Frauenleben“, mit Frauen mit verschiedenen Muttersprachen und zu gendersensibler Biografie- und Erinnerungsarbeit. Hier werden anschaulich Frauengeschichten und Geschlechterverhältnisse hör- und sichtbar. Dann sind es Themen und soziale Konstellationen wie „Geburt“ und „Gesundheitskompetenz“, Alltags- und Stadtgeschichte, Diversität und Vertrauen in einem heterogenen Stadtquartier oder auch ein Dialogangebot für Gehörlose und Hörende, bei dem diese in Laut- und Gebärdensprache miteinander kommunizieren. Gezeigt wird die besondere Herausforderung, wie in einem Museum Wohnungs- und Obdachlose – in einem für sie nicht vertrauten Ort – für einen Gesprächskreis gewonnen wurden. Ähnlich sind die Herausforderungen für niedrigschwellige intergenerationelle Erzählcafes oder das Angebot für betagte Menschen, ihre lebensgeschichtlichen Erinnerungen zu erzählen.

Die letzten vier Berichte sind Erzählrunden mit sozial prekären Jugendlichen in einem Jugendzentrum. Hier ist es gelungen aus den Erfahrungen ein Buch zu machen. Ein weiteres bildungszentriertes Beispiel aus der Offenen Jugendarbeit zeigt die Erfahrungen von jungen Männern mit Antisemitismus und wie diesem und Extremismus vorgebeugt werden kann. Das Projekt „Communicare“ zeigt eine Bahnfahrt als Medium des Erzählens. Zudem wird anschaulich, welche Erzählmöglichkeiten das Format ehemaligen Heimkindern bietet und wie kollektive Geschichten „von unten“ erzählt werden können. Im Kapitel Durchblicke werden in sechs Beiträgen vor allem sechs Fragen systematisch reflektiert. Dabei blicken Vertreter*innen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen auf die Frage, was Biografie und biografisches Erzählen ist. In mehreren Praxisbeiträgen geht es um die sorg- und achtsame Rolle der Moderator*innen, verbunden mit der Herausforderung im Erzählprozess eine vertrauensvolle Atmosphäre herzustellen. Dies meint den Spannungsbogen, was erzählt wird auf der einen Seite und auf der anderen Seite was in den Köpfen der Zuhörenden als „stumme Angelegenheit“ (262) vor sich geht. Weiter geht es um den organisationalen Rahmen, die Kooperationen mit Institutionen und Gastgebern sowie um die Erfahrungen in Erzählcafes, die für die eigenen Biografie sensibilisieren. Dann wird auf die kommunikative Bedeutung des informellen Geschehens vor und nach dem Erzählcafe hingewiesen.

Das Buch ist auf einem anspruchsvollen und gut lesbaren Niveau verfasst, es ist anregend und lädt von Text zu Text zum Weiterlesen ein. Einige Erzählcafes sind in Kooperation mit Bildungsträgern als politische Bildung und Lernen im Dialog von- und miteinander angelegt und zeigen, wie politische Bildung mit solchen Settings gelingen kann. Es ist ein anregendes Format, dem in der Praxis wie in den Konzeptdebatten der politischen Bildung ein größerer Stellenwert zu wünschen wäre. Das gilt auch für die Reflexion der Profession, der in den Settings der Erzählcafes eine moderierende Rolle zukommt.

Der Rezensent

Benno Hafeneger lehrte und forscht an der Philipps-Universität Marburg zu Jugend und außerschulischer Jugendbildung und ist Mitglied der JOURNALRedaktion.

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