Einführung (nur?) in die schulische politische Bildung
Peter Massing: Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Grundlagen – Kontroversen – Perspektiven. Frankfurt/Main (Wochenschau Verlag) 2021, 144 S., 16,90 €, auch als PDF – utb Band 5720
Der ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Politische Bildung/Politikdidaktik an der Freien Universität Berlin, Peter Massing, hat eine Einführung in die schulische Politikdidaktik vorgelegt. Das auf den ersten Blick bescheidene Werk widmet sich auf 144 Seiten (inkl. Literatur) der Politikdidaktik in der „alten“ und „neuen“ Bundesrepublik. Auf den zweiten Blick ist es gerade diese zeitliche, territoriale und sektorale Eingrenzung, die die Vielschichtigkeit der vorgelegten Darstellung ermöglicht.
Wie bei dem Autor zu erwarten, werden in großer kategorialer Klarheit die Begriffe von Politik und Demokratie entwickelt. Die Bedeutung einer kategorialen Bildung betont er bereits im historischen Abriss mit Bezug auf die sogenannte sozialwissenschaftliche Wende Mitte der 1960er Jahre: „Ein Politikunterricht, in dessen Mittelpunkt Kategorien stehen und der eine kategoriale Bildung anstrebt, hat zum Ziel, bei Schülerinnen und Schülern die Gewohnheit und die Fähigkeit auszubilden, generell bei der Beschäftigung mit Politik Schlüsselfragen zu stellen und in den enthaltenen Kategorien zu denken, mit ihnen konkrete Politik zu analysieren, zu beantworten und zu eigenen handlungsleitenden Werten zu kommen“ (22 f.)
Die Notwendigkeit eines geklärten Politikbegriffs ergäbe sich für die politische Bildung schon alleine daraus, dass sie sonst ihren eigenen Gegenstandsbereich nicht darlegen könne. Im Anschluss an das politikwissenschaftliche Verständnis, Politikbegriffe als Arbeitsbegriffe zu verstehen, die „je nach Erfahrung, Erkenntnisinteresse und Umstände […] Ausschnitte und Aspekte aus dem vielschichtigen und komplexen Gesamtfeld der Politik“ (32) auswählen, stellt Massing das dreidimensionale Verständnis des Politischen (polity, politics, policy) und den Politikzyklus vor und erläutert auch die kritischen Diskussionen zu diesen Ansätzen in der Politikdidaktik.
Im Abschnitt Politische Bildung und Demokratie diskutiert er deren enge Verknüpfung. Politische Bildung gehe es sowohl darum, einen Beitrag zum Erhalt des demokratischen Systems zu leisten wie auch Teil des Demokratisierungsprozesses zu sein, dessen „normativer Überschuss“ sowohl „im Hinblick auf das System auf Radikalisierung der Demokratie drängt“ und in Bezug auf das Individuum „für dieses Autonomie und Mündigkeit anstrebt“ (50). Wie von ihm bekannt, wendet sich Massing eindeutig gegen die Überhöhung von normativen Demokratievorstellungen und die Reduktion des Bezugs auf Demokratie als Erfahrung. Er hält einen solchen Demokratiebegriff für „defizitär und unterkomplex“ (64). „Die Unterscheidung zwischen normativ überhöhtem Ideal einerseits und ‚schmutziger‘ politischer Realität andererseits“ (65) wäre ja gerade durch politische Bildung aufzuheben. Zudem kritisiert er den erwarteten ‚spill over´ zwischen Lebenswelt und politischem System. Er macht deutlich, dass seiner Auffassung nach die Politikdidaktik „die normative Systemdimension in Form eines ausformulierten komplexen Demokratiemodells stärker berücksichtigen“ (66) müsste. Das Modell der „eingebetteten Demokratie“ von Wolfgang Merkel (67 f.) scheint ihm ein für die politische Bildung geeignetes Modell zu sein.
In dem folgenden Abschnitt „Herausforderungen der Demokratie, der Politikdidaktik und der politischen Bildung“ wird deutlich, warum die Debatte zu einem gehaltvollen Demokratieverständnis für die politische Bildung nicht abstrakt, sondern eine zwingende Notwendigkeit ist. Die Abschnitte zu Globalisierung und Autokratie sind die besonderen Highlights des Bandes.
Im Anschluss an Birgit Mahnkopf stellt Massing fest, dass das wesentliche Merkmal der Globalisierung darin besteht, „dass ein abstraktes Raum- und Zeitregime die soziale Zeit- und Raumbindung von Gesellschaften, Staaten und Individuen abzulösen beginnt“ (82), mit weitreichenden Konsequenzen für nationalstaatliche Politik und politische Bildung. Kurz zusammengefasst entstehe einerseits so etwas wie eine „politische Gesellschaft“: „Politische Entscheidungen sind eine Form der gesellschaftlichen Selbstregulierung geworden“ (83). Anderseits entwickelten sich „neue Grenzen in der politischen Gesellschaft“: „eine erhebliche Minderheit von Personen […], die zwar in den Grenzen eines Nationalstaats leben, die entsprechenden staatsbürgerlichen Rechte aber nicht in Anspruch nehmen können. Dies gilt vor allem für Migrantinnen und Migranten sowie für Flüchtlinge“ (84). Und weiter: „Diese inneren Grenzen spalten die Gesellschaft und stellen die Demokratie in Frage“ (85). Als notwendige politische Reaktion auf die innere Globalisierung nennt er als wesentliche Punkte einer „Demokratisierung der Migrationsgesellschaft“: Einerseits die Beseitigung bestehender administrativer und rechtlicher Grenzen wie höhere Einbürgerungsquote, Abschaffung des bundesweiten Einbürgerungstests, generelle Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaft und andererseits die Entkoppelung politischer Partizipationsrechte von der Staatsbürgerschaft wie das Wahlrecht, welches an die Aufenthaltsdauer einer Person und nicht mehr an ihre Staatsangehörigkeit geknüpft wird, so zum Beispiel die Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatenangehörige und die Kompetenzausweitung von Integrationsbeiräten (87). Für die politische Bildung hieße dies zunächst einmal die Demokratiedefizite in der Migrationsgesellschaft zum Thema zu machen, und „die damit verbundenen Ausschlussmechanismen“ zu thematisieren und zu kritisieren (88). Des Weiteren gehe es um „den Schutz von Minderheiten und das Einstehen für deren Gleichbehandlung und Gleichberechtigung in der Gesellschaft und im politischen System. […] Dies kann jedoch nur gelingen, wenn politische Bildung insgesamt gestärkt wird und schulische und außerschulische politische Bildung eng zusammenarbeiten“ (88).
Im Unterabschnitt Autokratie stellt Peter Massing klar, worin die neue Qualität der Gefährdung liegt: „Die Hauptgefahr droht der Demokratie nicht mehr dadurch, dass sie von ihren Gegnern überwunden, sondern dass sie von ihnen vereinnahmt wird“ (89). Im Anschluss an Wolfgang Merkel nennt er als Kennzeichen eines solchen autoritären Demokratieverständnisses, dass der Herrschaftsanspruch umfangreich, die Herrschaftsweise willkürlich repressiv und die Herrschaftsstruktur durch einen eingeschränkten Pluralismus geprägt ist. Dies werde „durch Verweis auf sogenannte Mentalitäten wie Patriotismus, Nationalismus, Sicherheit“ (90) legitimiert. Die Gefahr für die politische Bildung sei groß, unbeabsichtigt bei der Kritik bestehender demokratischer Defizite selbst das Geschäft der Populisten zu betreiben.
Beide vorgestellten Herausforderungen der Demokratie lassen deutlich werden, dass es erst mit einem gehaltvollen Verständnis von Demokratie als komplexem Gefüge von politischen Teilhabeverfahren (mit dem Wahlrecht als Kern), politischen Rechten und Freiheiten (wie sie in den Menschenrechten gefasst sind), von Staatlichkeit, Zivilgesellschaft und sozio-ökonomischen Grundlagen möglich ist, Konsequenzen für die politische Bildung in adäquater Weise zu diskutieren.
Im letzten Abschnitt stellt Peter Massing gekonnt die diversen Wendungen und Kontroversen der Kompetenzdebatte dar, war er doch selbst einer ihrer wesentlichen Akteure. Die Fachdidaktik habe den bildungspolitischen Impuls der Kompetenzorientierung mit dem Ziel aufgegriffen, die Politikdidaktik als eigenständige Wissenschaft zu etablieren. Im Ergebnis stellt Massing fest, dass es weder gelungen ist, ein allgemein in der Zunft geteiltes Kompetenzmodell zu etablieren, noch dieses in der schulischen Praxis zu verankern. Vielmehr dränge sich der Eindruck auf, dass die diskutierten Modelle so komplex sind und „sich einer (so) hermetischen Sprache“ (117) bedienen, dass die schulische Praxis unter der viel zu hoch gehängten Latte der fachwissenschaftlichen Ansprüche bequem hindurch laufen kann.
Ob die Politikdidaktik sich selbst als eigenständige Wissenschaft verstehen muss, mit dem spezifischen Gegenstand der „politischen Lehr-Lernprozesse sowie deren Ziele, Inhalte, Bedingungen und Wirkungen“ (12), um einen wichtigen und notwendigen Beitrag für das Fach Politik leisten zu können, mögen die Leser*innen selbst entscheiden.
Der Rezensent
Thomas Gill, Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung