Digitalisierung und Demokratie
Bis vor Kurzem galt die digitale Welt – nicht zu Unrecht – in vielerlei Hinsicht als „Neuland“. Zugleich gilt, dass keine Innovation der vergangenen Jahrzehnte sich so direkt und vielfältig auf die verschiedenen Bereiche unseres Lebens ausgewirkt und zu solch maßgeblichen Veränderungen geführt hat wie die Digitalisierung. Arbeit, Gesundheitsvorsorge und Kommunikation sind nur einige Bereiche, an denen sich dies deutlich beobachten lässt. Die notwendige Regulierung, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen können mit diesem Wandel indes kaum Schritt halten und hinken dem technischen Fortschritt zum Teil eklatant hinterher. Viele Menschen tasten sich nur äußerst vorsichtig oder gar skeptisch in die für sie neue digitale Welt vor. Dabei scheint für den Umgang mit der fortschreitenden Digitalisierung wenig zielführend, von getrennten analogen und digitalen Sphären auszugehen.
Schließlich handelt es sich dabei nicht um „entkoppelte Parallelwelt[en, sondern um für viele bereits] alltäglich gewordene Erweiterung[en] von Handlungsräumen“ (Schmitz 2018: 69). Aus der Perspektive politischer Bildung spielt dabei besonders das Zusammenspiel von Digitalisierung und Demokratie eine Rolle, auf das wir uns im Folgenden konzentrieren werden. Während sich immer mehr Beispiele dafür finden lassen, dass sich der digitale Wandel auf Demokratie auswirkt, ist es indes nach wie vor schwierig, eine generelle Bewertung dieser Entwicklung vorzunehmen. Angesichts in die Kritik geratener Experimente wie Liquid Democracy und konfrontiert mit demokratiebremsenden oder gar -hemmenden Entwicklungen wie der starken Verbreitung von Fake News, Hate Speech, Social Bots und vielem mehr kann der einst überschäumende Optimismus inzwischen als naiv abgetan werden (vgl. Schünemann 2018). Übertriebene Schwarzmalerei scheint allerdings ebenso wenig angebracht. Beispiele wie die #MeToo-Kampagne oder Portale wie FragDenStaat.de zeigen, dass digitale Tools durchaus Demokratie beleben, Politik transparenter machen und Kommunikation vereinfachen können.
Die netzrealistische Perspektive, die aus dieser Abwägung hervorgeht, erscheint gerade im Zusammenhang mit politischer Bildung sinnvoll (vgl. Buchstein 1996): So gilt es, Probleme und Hemmnisse im Zusammenspiel von Digitalisierung und Demokratie zu erkennen und Ideen zum Umgang mit diesen Schwierigkeiten zu entwickeln. Gleichzeitig sollten aber auch Chancen und Potenziale dieser Verbindung identifiziert und für die einzelnen Bürger/-innen und ihre Rolle im Staat fruchtbar gemacht werden. Daraus ergibt sich nicht nur fast zwangsläufig der Ruf nach politisch digitaler Medienkompetenz, sondern auch die Notwendigkeit, sich „im Netz“ reproduzierende Machtstrukturen zu hinterfragen und weitere gesellschaftliche Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Zudem schließt sich der Bedarf an, die wichtigsten netzpolitischen Themen auszuhandeln – diese reichen z. B. vom weiten Feld des Datenschutzes über technische und ethische Fragestellungen im Bereich künstlicher Intelligenz bis hin zur Frage nach Deutungsmacht sowie Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten im Internet.
Das Beispiel „Gamergate“
Ein Beispiel dafür, wie sich gesellschaftliche Fragestellungen im Netz widerspiegeln, gar an Schärfe gewinnen, ist eine unter dem Schlagwort „Gamergate“ bekannt gewordene Auseinandersetzung über die Rolle von Frauen in der Welt der Computerspiele. Im August 2014 veröffentlichte ein Ex-Freund der US-amerikanischen Spieleentwicklerin Zoë Quinn eine Reihe sehr detailreicher und intimer Blogeinträge über Quinn und die vermeintlichen Gründe für die Trennung des Paares. Quinn habe mit Spielejournalisten geschlafen, um so die Berichterstattung über ihre Tätigkeit als Spieledesignerin zu beeinflussen. Sowohl Quinn als auch einer der namentlich genannten Journalisten bestreiten das.
Die Posts wurden bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung auf Twitter, u. a. mit eigens angelegten Fake-Accounts, weiterverbreitet – vorgeblich um auf einen vermeintlichen Missstand in der Branche hinzuweisen. Beleidigungen, Vergewaltigungsfantasien und Morddrohungen folgten. Als kurze Zeit später weitere höchst private Informationen über Quinn – u. a. ihre Adresse und Nacktbilder – veröffentlicht wurden, schaltete diese die Polizei ein und floh aus ihrer Wohnung. Die Drohungen waren so detailreich und elaboriert, dass im weiteren Verlauf das FBI die Ermittlungen übernahm. Symptomatisch für dieses misogyne Verhalten: Der involvierte Journalist wurde von den selbst ernannten „Aktivisten“ weitgehend in Ruhe gelassen.
Was hat das mit uns zu tun?
Nun kann man sich fragen: Was hat das Ganze mit mir zu tun? Der Gedanke, das Internet hebele gesellschaftliche Machtstrukturen aus und es handele sich hier folglich um einen neutralen Raum, in welchem sich „Freie und Gleiche“ auf Augenhöhe begegneten, ist schon seit geraumer Zeit widerlegt (Barber 2001: 210). „Gamergate“ steht symptomatisch für die Tatsache, dass sich gesellschaftliche Machtverhältnisse auch im Internet fortsetzen und in manchen Fällen sogar potenzieren. Während sich daran einerseits die unterschiedlichen Maßstäbe zeigen, an denen Männer und Frauen nach wie vor gemessen werden, ist es andererseits auch ein typisches Beispiel dafür, wie sich u. a. rechte Kreise und Medien gesellschaftlicher Themen bemächtigen und sie in ihrem Sinne interpretieren: in diesem Fall als die strukturelle „Bevorzugung“ von Frauen.
Das Internet kann auch Ort positiven zivilgesellschaftlichen Engagements sein
Für viele Menschen alltäglicher und sichtbarer manifestieren sich Probleme digitaler Kommunikation beim Thema Hate Speech. Laut einer Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (2018: 2) gaben 78 Prozent der Befragten an, online bereits Hasskommentaren begegnet zu sein, die wiederum 34 Prozent Angst bereiteten. Dies ist umso erschreckender, wenn man weitere aktuelle Forschungsergebnisse betrachtet: Demnach wird der Diskurs online von einigen wenigen, dafür aber besonders „lauten“ Akteur/-innen geprägt (vgl. Kreißel u. a. 2018: 12). Ihnen gelingt es z. B. über Hasskommentare und Fake News, den Umgangston zu bestimmen und damit eine ganze Kommunikationsart in Verruf zu bringen. Angesichts erster Studien (s. o.), die nachweisen, dass digitale Gewalt sich auch analog auswirkt, erscheint die strikte Differenzierung zwischen „online“ und „offline“, zumal im Smartphone-Zeitalter, immer weniger sinnvoll – einen Stecker zu ziehen oder einzustecken, ist längst keine relevante Handlung mehr.
Digitale Zivilgesellschaft
Nicht zuletzt führt die fortschreitende Verquickung von analoger und digitaler Welt jedoch auch dazu, dass sich im digitalen Raum zivilgesellschaftliche Initiativen wie „LOVE-Storm“ oder #ichbinhier gründen. Sie sind Beispiele dafür, dass das Internet auch Ort politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements sein kann. Denn neben formalen Beteiligungsformaten wie der Bundestagspetitionsplattform bietet die digitale Welt zahlreiche weitere Möglichkeiten, um politische Aktivierung, Meinungsbildung und Mobilisierung zu unterstützen. Dies hat sich zu Beginn der französischen Gelbwesten-Proteste gezeigt, die sich zunächst offenbar führungslos über Soziale Medien organisierten.
Andere Beispiele wie „Black Lives Matter“ oder die #MeToo-Debatte verdeutlichen eindrucksvoll, dass dank digitaler Plattformen virulente gesellschaftliche Missstände wie Gewalt gegenüber schwarzen Menschen und People of Color oder sexualisierte Gewalt sichtbar gemacht und Debatten angestoßen sowie weiterentwickelt werden können (vgl. Hecht 2018). Wird angesichts digitaler Beteiligungswege zwar häufig der Vorwurf des „clicktivism“ geäußert, zeigen die meistgenutzten Twitter-Hashtags 2018 die Bedeutung digitaler Kommunikationswege für die großen gesellschaftlichen Fragen und Auseinandersetzungen – und für die Betroffenen selbst. So habe bspw. #MeToo eine globale und „epochemachende Diskussion“ (Bernard 2018) über das Verhältnis von Mann und Frau ausgelöst.
Auch im Hinblick auf die Transparenz und Kontrolle formaler Politik wohnt dem Internet eine große Chance inne. Vor allem erleichtert es – die entsprechenden Kompetenzen (s. u.) vorausgesetzt – die Beschaffung und den Vergleich von Informationen. Alle können – zumindest im Prinzip – auf viele Informationen zugreifen, die sich dank digitaler Möglichkeiten zudem verständlich und nachvollziehbar aufbereiten lassen. Bekanntestes Beispiel für solche Informationsquellen ist wohl die Enthüllungsplattform wikileaks.
Allerdings ist mit mehr zugänglichen Informationen nicht zwangsläufig auch mehr Überblick und Einsicht in Zusammenhänge verbunden; stattdessen sehen sich viele Nutzer/-innen einer unüberschaubaren Menge nicht kontextualisierter Informationen gegenüber. Während an dieser Stelle zu Recht auf die Risiken bewusst publizierter und unkontrolliert verbreiteter Fake News hinzuweisen ist, organisieren sich im Netz gleichzeitig auch Gegeninitiativen wie mimikama.at, um bei der Überprüfung von Informationen zu helfen.
Zudem lässt sich mithilfe des Internets die Legitimität politischer Entscheidungen erhöhen, da die Menschen über digitale Methoden intensiver in politische Prozesse einbezogen werden können. Beispiele hierfür sind digitale Beteiligungsplattformen auf kommunaler Ebene, Portale, die sich der Nachvollziehbarkeit des parlamentarischen Geschehens widmen, wie abgeordnetenwatch.de, oder Seiten wie FragdenStaat.de, die politische Entscheidungen oder Verwaltungshandeln darstellen und erläutern. Digitale Tools wie der „Wahl-O-Mat“ erlauben Millionen von Menschen, sich in Wahlkampfzeiten intuitiv und spielerisch, aber auf Basis seriöser Quellen mit der oftmals schwierigen Wahlfrage auseinanderzusetzen (vgl. die Rubrik ÜberGrenzen in dieser Ausgabe des Journal).
Politisch digitale Medienkompetenz
Damit jedoch nicht nur einige Wenige in derartige digitale Prozesse eingebunden werden und um zu verhindern, dass sich soziale Ungleichheiten im Netz weiter verstärken, bedarf es intensiver Bemühungen. Ein Ansatz hierfür kann die Förderung politischer digitaler Medienkompetenz sein. Hier steht der Anspruch im Mittelpunkt, Menschen Fähigkeiten zu vermitteln, sich im Internet zu informieren, Informationen einzuordnen, sich eine Meinung zu bilden und diese Kenntnisse und Positionen für eigene politische Aktivitäten fruchtbar zu machen. Mit anderen Worten: Es geht um die Entwicklung von „digital literacy“.
#MeToo hat eine globale und epochemachende Diskussion über das Verhältnis von Mann und Frau ausgelöst
Einige Aspekte sind dabei sowohl für die digitale Welt als auch für die politische Sphäre besonders relevant: Beispielsweise gilt es, den Wahrheitsgehalt von Informationen und Medien zu hinterfragen und zu bewerten, eigene Inhalte zu platzieren oder sich anderweitig an der Gestaltung relevanter Themenbereiche zu beteiligen. Dazu zählt auch das Wissen über das Internet: Wer hat welche Interessen? Wieso ist ein Dienst kostenlos? Und was passiert mit meinen Daten? Schließlich ist mitzudenken, dass Digitalisierung zudem die Art des Lernens verändert, neue Methoden ermöglicht und bislang unbekannte Perspektiven eröffnet.
Ausblick
Digitale Entwicklungen wirken sich auf häufig in die Kritik geratene Kernaspekte des demokratischen Lebens wie Beteiligungsmöglichkeiten, Transparenz, Legitimität und Responsivität aus. Jedoch sollte das Internet keineswegs als Allheilmittel gesehen werden. Vielmehr bedarf es unterschiedlicher Ansätze, um das Zusammenspiel von Digitalisierung und Demokratie zum Nutzen möglichst vieler zu gestalten. Neben der staatlichen Regulierung netzpolitischer Herausforderungen wie Datenschutz ist dabei aus Sicht der politischen Bildung vor allem ein gesellschaftlicher Begleitprozess unverzichtbar. Dieser dreht sich besonders um Fragen nach dem Zugang zur digitalen politischen Welt und der Fähigkeit, diese Sphäre individuell zu nutzen und auszugestalten – und mit jener der analogen Politik zu kombinieren.
Literatur
Barber, Benjamin R. (2001): Which Technology for which Democracy? Which Democracy for which Technology? In: Holznagel, Bernd/Grünwald, Andreas/Hanßmann, Anika: Elektronische Demokratie. Bürgerbeteiligung per Internet zwischen Wissenschaft und Praxis. München, S. 209 – 217.
Bernard, Andreas (2018): Das Diktat des Hashtags. Wie Schlagwörter unser Denken beeinflussen. In: ZEIT ONLINE, 30. Oktober 2018, https://tinyurl.com/bernard-jpb
Buchstein, Hubertus (1996): Bittere Bytes: Cyberbürger und Demokratietheorie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4, S. 583 – 608.
Dewey, Caitlin (2014): The only guide to Gamergate you will ever need to read. In: The Washington Post, 14. Oktober 2014, https://tinyurl.com/dewey-jpb
Friesike, Sascha (2018): Digitalisierung gestalten – eine Momentaufnahme. Auszüge der Keynote auf der Tagung der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung am 15.10.2018. In: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, https://tinyurl.com/friesike-jpb
Hecht, Patricia (2018): Endlich drüber reden. In: die tageszeitung, 6. Oktober 2018, https://tinyurl.com/hecht-jpb
Kreißel, Philip/Ebner, Julia/Urban, Alexander/Guhl, Jakob (2018): Hass auf Knopfdruck. Rechtsextreme Trollfabriken und das Ökosystem koordinierter Hasskampagnen im Netz. London u. a.
Landesanstalt für Medien NRW (2018): forsa-Befragung zur Wahrnehmung von Hassrede im Internet. Ergebnisbericht. In: Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, https://tinyurl.com/forsa-jpb
Schmitz, Christopher (2018): Stilbruch als Stilmittel. In: INDES, Heft 2, S. 68 – 75.
Schünemann, Wolf J. (2018): Internet und Digitalisierung als Gefahren für die Demokratie? In: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, https://tinyurl.com/schuenemann-jpb
Alle Internetquellen abgerufen am 15.12.2018.
Zitation:
Mechnich, Joanna & Kallinich, Daniela (2019). Digitalisierung und Demokratie. Eine Momentaufnahme, in: Journal für politische Bildung 1/2019, 42-46.
Die Autorinnen
Joanna Mechnich (M.A.) studierte Friedensforschung und Internationale Politik an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist Mitarbeiterin der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Zuvor war sie u. a. freiberuflich für das Netzwerk für Demokratie und Courage und die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg tätig.
Dr. Daniela Kallinich studierte Diplom-Sozialwissenschaften in Göttingen und Caen und ist Mitarbeiterin der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Nach dem Studium hat sie am Göttinger Institut für Demokratieforschung zu Parteien, Politik und Gesellschaft in Frankreich und Deutschland geforscht und sich theoretisch und praktisch mit dem Thema Demokratiebildung mit Kindern beschäftigt.