Die Vielstimmigkeit der Demokratiepädagogik

Wolfgang Beutel, Markus Gloe, Gerhard Himmelmann, Dirk Lange, Volker Reinhardt, Anne Seifert (Hg.): Handbuch Demokratiepädagogik. Frankfurt/Main (Wochenschau Verlag) 2022, 804 S., 59,90 €


Der Begriff Demokratiepädagogik begann seine Karriere um die Jahrtausendwende in Verbindung mit dem Modellprogramm „Demokratie lernen & leben“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), an dem sich 13 Bundesländer für die Dauer von fünf Jahren beteiligten. Das Modellprogramm mündete u. a. in die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe). Teilweise heftige Kon­troversen zwischen der Politikdidaktik und den Akteuren der Demokratiepädagogik begleitete diese Entwicklung, die irritierte Nachfragen, aber auch Aneignungen durch die außerschulische politische Bildung hervorrief, mitbedingt durch zunehmenden Innovationsdruck. Nun hat eine Gruppe von Herausgeber*innen ein Handbuch der Demokratiepädagogik vorgelegt und Erwartungen geweckt, einen systematischen, umfassenden und fokussierten Überblick über Grundlagen, Geschichte, Praxiserfahrungen und Perspektiven zu bieten. 

Die sieben Kapitel mit jeweils mehreren Beiträgen werden von einem Auftakt, der zwischen thesenhaften Anmerkungen zu gesellschaftlichen und globalen Krisen und einführenden Bemerkungen oszilliert, und einem programmatischen Ausblick zur Zukunft der Demokratiepädagogik gerahmt. Insgesamt 63 Beiträge bieten umfangreichen und vielfältigen Lesestoff. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Versuchen einer Eingrenzung und Definition der Demokratiepädagogik wobei – wie im gesamten Handbuch – relativ großzügig „verwandte Konzepte“ (15) einbezogen werden. Das zweite Kapitel fragt nach dem Verhältnis von Demokratie und Pädagogik und enthält Beiträge zur Geschichte dieses Ansatzes, zu grundlegenden Begriffen sowie zu historischen und aktuellen Kontroversen. Das dritte Kapitel ist Forschungsergebnissen zur Demokratiepädagogik gewidmet und Studien zu Einstellungen Jugendlicher zur Demokratie, zur Bedeutung von Partizipation für die Entwicklung demokratischer Einstellungen und zum gesellschaftlichen Engagement. Forschungen zur Demokratiepädagogik untersuchen einerseits die Entwicklung demokratischer Kompetenzen und andererseits werden die Bedingungen der Etablierung einer demokratischen Schulkultur analysiert und gefragt, welche Relevanz diese für die Stärkung demokratischer Kompetenzen hat. 

Im vierten Kapitel nehmen die Autor*inn­en eine internationale Perspektive ein. Hier finden sich kurze Reportagen und Einschätzungen zur Demokratiebildung in Österreich, zur Citizenship Education in England, zu Teaching Democracy in Nordamerika und zum Sustaining Democracy in Australien. Ebenfalls enthält dieses Kapitel einen Beitrag zum Referenzrahmen „Competences for Democratic Cultures“ des Europarates und zu den Impulsen des Europarats für die ‚Demokratiebildung‘. Die Beiträge vermitteln informative Impressio­nen zur Frage, wie in den verschiedenen Ländern Heranwachsenden die Grundlagen von Demokratie nähergebracht werden. Deutlich wird die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Ansätze und dass zudem große Differenzen dahingehend bestehen, welchen Stellenwert sie in offiziellen Schulprogrammen haben. 

Das fünfte Kapitel trägt die wenig präzise Überschrift „Schnittmengen“. Es besteht aus kurzen, überwiegend informativen Darstellungen verschiedener pädagogischer Handlungsfelder. Es geht um Global Citizen­ship Education, Inklusion, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Menschen- und Kinderrechtsbildung, Friedenspädagogik, interkulturelles Lernen, antirassistische Bildung, Rechtsextremismusprävention,­ moralisches Lernen, Medienbildung, Gender-Didaktik und sozio-ökonomische Bildung. Man mag sich über die jeweiligen Benennungen streiten, aber es wäre z. B. zu diskutieren, ob diese Schnittstellen quasi als inhaltliche Erweiterung oder Anreicherung der Demokratiepädagogik gedacht sind. Unübersehbar ist jedenfalls, dass viele aktuelle Themen der Bildungsarbeit an die Demokratiepädagogik angedockt werden. 

Das sechste Kapitel bietet einen Durchgang durch die Orte der Demokratiepädagogik von der Kindertagesstätte, über unterschiedliche Schulformen, die Hochschule, die Jugendbildung bis hin zur Erwachsenenbildung. Die Beiträge zu „Schulleitung als demokratisches Investment“ und „Demokratische Schulen“ verdeutlichen, dass eine grundlegende Schulreform ein zentrales Anliegen der Demokratiepädagogik ist. 

Das siebte Kapitel wendet sich unter der Überschrift „Formen“ den eher methodischen Ansätzen der Demokratiepädagogik zu. Themen sind Deliberation, Rhetorik, Philosophieren, Projekte, Service-Learning, Partizipation, Klassenrat, Schüler*innenvertretung, partizipative Leistungsbeurteilung und Wettbewerbe für Schüler*innen und Schüler. Gezeigt wird, mit welchen Ansätzen in der Praxis die Anliegen der Demokratiepädagogik erreicht werden sollen, auch wenn diese kein exklusiver Bestandteil der Demokratiepädagogik sind.

Noch einmal zurück zum ersten und zweiten Kapitel des Handbuchs. Im ersten Kapitel wird eine Eingrenzung des Begriffs versucht. Dabei beziehen sich Beutel, Gloe und Reinhardt auf eine Definition von Wolfgang Edelstein, der Demokratiepädagogik als „pädagogische, insbesondere schulische und unterrichtliche Aktivitäten zur Förderung von Kompetenzen, die Menschen benötigen, um an Demokratie als Lebensform teilzuhaben und diese aktiv in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu gestalten; um sich für Demokratie als Gesellschaftsform zu engagieren und sie durch partizipatives Engagement in lokalen und globalen Kontexten mit zu gestalten; um Demokratie als Regierungsform durch aufgeklärte Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zu erhalten und weiterzuentwickeln“ (26). Damit scheint ein orientierender Rahmen für die weiteren Beiträge des Handbuchs gegeben. Doch die Lektüre der Texte zeugt von einer beeindruckenden Vielstimmigkeit. Da ist von „Demokratie-Lernen als erfahrungsbasierter und individueller Prozess“ (539) die Rede, von Civic-Education oder Citizenship Education – um an internationale Debatten anzuschließen, von „demokratischer politischer Bildung“ (155), von Demokratiebildung (62) oder davon, dass „politische Jugendbildung immer auch Demokratiebildung“ (612) ist, um nur einige der Sprachspiele zum Begriff zu erwähnen. Demokratiepädagogik wird dann als Sammelbegriff qualifiziert oder als anerkannter Ergänzungsbegriff zum breiten Diskurs- und Forschungsfeld der politischen Bildung (34). Andere Texte sehen den Begriff der Demokratiebildung als übergeordnet. Zwar scheinen alle Autor*innen irgendwie das Dach des Demokratiebegriffs zu akzeptieren, jedoch wird eine vertiefende Debatte nicht als notwendig erachtet. Im Handbuch wird diese Situation damit erklärt, dass es sich bei der Demokratiepädagogik um ein beweglichen Arbeits-, Entwicklungs- und Forschungsfeld handelt, „einem Feld voller innovativer Perspektiven“ und „sich stetig erweiternder praktischer Erfahrungen“ (14/15). 

Eine der zentralen Fragestellungen für den Ansatz der Demokratiepädagogik scheint mir jedoch in der Auseinandersetzung mit der Debatte um den für das Konzept zentralen Begriff der Demokratie zu liegen. Zwar ist der von Himmelmann geprägte dreistufige Begriff von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, der aus der Differenzierung des Begriffs bei Dewey in Lebensform und Regierungsform hervorgegangen ist, grundlegende Basis für alle konzeptionellen Texte (43 ff.). Doch eine genauere Lektüre der Texte zu Formen und Praxis von Demokratiepädagogik macht sichtbar, dass sich die Praxis vor allem auf der Stufe der Lebensform und in wesentlichen Teilen noch auf der Stufe der Gesellschaftsform bewegt und die dritte Stufe der Herrschaftsform kaum erreicht. Damit stellt sich auch die Frage nach der Transformation der Erfahrungen von einer Stufe zur nächsten. Aber auch die Frage nach der Relevanz der aktuellen Demokratiedebatten für die Demokratiepädagogik (Simulative Demokratie, Postdemokratie, repräsentative und/oder direkte Demokratie, Konsens- und Mehrheitsdemokratie, embedded democracy usw.) scheint kein Thema für das Handbuch gewesen zu sein. 

Das Handbuch ist ein systematisch konzipierter, ertragreicher Sammelband mit informativen, sehr anregenden, sich gelegentlich gegenüber anderen Ansätzen wortreich rechtfertigenden grundlegenden Texten zur Demokratiepädagogik, die sich zuweilen andere Felder der Bildungsarbeit aneignen. Sicherlich hätten viele der Beiträge auch in einem Handbuch der politischen Jugendbildung erscheinen können. In ca. 30 der 63 Beiträge können die Leser*innen in einem engeren Sinn etwas zum Konzept, zur Praxis und zu Fragestellungen der Demokratiepädagogik erfahren. Die anderen Texte sind interessante, anregende und reflektierende Beiträge zu aktuellen Herausforderungen der politischen und demokratischen Bildung in einer pluralen und liberalen Gesellschaft. Aufschlussreich ist, dass Fauser in seinem Ausblick unter der Überschrift in wenigen Worten zusammenfasst, worum es der Demokratiepädagogik eigentlich geht, „um eine Radikalisierung der Schulreform“ (782).

Der Rezensent

Klaus Waldmann, leitender Redakteur des Journal

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