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Die Gesellschaft der Singularitäten

Während die industrielle Moderne der 1950er bis 70er Jahre eine „Gesellschaft der Gleichen“ war, ist die Spätmoderne eine „Gesellschaft der Singularitäten“, in der sich die leitenden Bewertungssysteme vom Allgemeinen auf das Besondere und Einzigartige umgestellt haben. Dies betrifft die Ökonomie sowie die digitalen Technologien und die Kultur der Lebenswelt, vor allem in der neuen Mittelklasse. Die paradoxe Folge ist: Konsequente Singularisierung führt zu gesellschaftlicher Polarisierung auf verschiedenen Ebenen.

Die moderne Gesellschaft der westlichen Länder hat sich seit den 1970er Jahren, verstärkt seit den 1990er Jahren in ihrer Struktur grundsätzlich gewandelt. An die Stelle einer industriellen Moderne, welche das 20. Jahrhundert dominiert hat, ist eine postindustrielle Spätmoderne getreten. Wirtschaftliche, technologische, sozialstrukturelle, politische und kulturelle Wandlungsprozesse verzahnen sich dabei. Eine übergreifende Struktur finden diese Prozesse in einer Verschiebung des grundsätzlichen gesellschaftlichen Bewertungssystems. 

Das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen verändert sich auf allen Ebenen: Während die industrielle Moderne an Maßstäben des Allgemeinen – der Standardisierung, der Rationalisierung und des gesellschaftlichen Kollektivs – ausgerichtet war, lässt sich die spätmoderne Gesellschaft von Maßstäben des Besonderen und Einzigartigen, des „Singulären“ prägen – mit tiefgreifenden Konsequenzen.

Die industrielle Moderne
Die moderne Gesellschaft, die allmählich Ende des 18. Jahrhunderts entsteht, enthält von Anfang an zwei entgegengesetzte Tendenzen. Auf der einen Seite ist sie in aller Radikalität am Allgemeinen ausgerichtet: Die Standardisierung der Waren und Arbeitswelten durch die Industrialisierung, die Demokratisierung der Politik und ihre Orientierung am „Allgemeinwohl“, die Aufklärung des Menschen über Natur und Vernunft sind Momente dieses Prozesses eines doing generality. 

Zugleich gibt es seit der Romantik eine ebenso radikale Gegentendenz: die Orientierung an Individualität und Authentizität – der Subjekte, der Dinge, der Ereignisse, der Orte und auch der Kollektive (etwa als Volk und Nation). Während die Orientierung am Allgemeinen im Sinne einer Versachlichung wirkt, mobilisiert die Singularisierung erhebliche Emotionen und Affekte. Die Orientierung am Besonderen, das doing singularity, war dabei zunächst nunmehr eine untergeordnete Bewegung, die vor allem im Bereich der Kunst und in Teilen der bürgerlichen Kultur existierte.

Besonders deutlich ist das Primat des Allgemeinen in der industriellen Moderne, die in der Industriegesellschaft von 1945 bis ca. 1975 im Westen wie im Osten ihren Höhepunkt erreicht. Die Gesellschaft dieser Zeit ist eine „Gesellschaft der Gleichen“ (Pierre Rosanvallon). Ökonomisch basiert sie auf der Industrie- und Massenproduktion durch das Heer der Facharbeiter/-innen und Angestellten. Ihr Leitmaßstab ist die Standardisierung. Sozialstrukturell handelte es sich um eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft mit vergleichsweise großer Gleichheit und Gleichförmigkeit ihrer Lebensformen: ein Leben, das am „Lebensstandard“ orientiert auf dem Massenkonsum und den -medien aufbaut und innerhalb der Nationalkultur recht homogen ist. Politisch ist dies die Zeit der Volksparteien wie auch einer regulierend wirkenden Wirtschafts- und Sozialpolitik der Nationalstaaten. So wie Gleichheit in dieser Zeit ein politisches Ideal von Links bis Rechts ist, so sind Gleichförmigkeit, soziale Anpassung und Normalität kulturelle Ideale einer „formierten Gesellschaft“.

Die Spätmoderne
Die industrielle Moderne erodiert seit den 1970er Jahren und macht spätestens seit den 1990er Jahren einer Spätmoderne Platz, in der die Kriterien der Besonderheit und Einzigartigkeit eine historisch bisher einmalige Führungsrolle erhalten. Für diesen Strukturwandel lassen sich insbesondere drei Ursachenbündel festmachen: Die erste Ursache ist eine kulturelle und zugleich sozialstrukturelle. In den 1970er Jahren findet in den westlichen Ländern – auch beeinflusst durch die Kulturrevolution der Zeit um 1968 – ein Wandel der leitenden Lebenswerte statt: Die Werte der sozialen Pflichten und der sozialen Anpassung verlieren an Rückhalt, jene der Entfaltung und Verwirklichung des Selbst gewinnen hingegen an Überzeugungskraft. 

An die Stelle der Anpassung an das Allgemeine tritt das postromantische Ideal der Entfaltung der Besonderheit, das Streben nach einzigartigen, subjektiv befriedigenden Erlebnissen und Identitäten – im Berufsleben, in der Partnerschaft, in der Freizeit und im Konsum. Die Selbstverwirklichungsrevolution strebt damit nach einer Singularisierung aller Lebensbereiche. Getragen wird sie insbesondere von der seit den 1970er Jahren aufsteigenden neuen Mittelklasse: jener stetig anwachsenden Gruppe von Akademiker/-innen, die von der Bildungsexpansion profitiert und über Lebensstandard hinaus nach Lebensqualität streben.


In den Konsumgütern mutiert die Ökonomie seit den 1980er Jahren von einem industriellen zu einem kulturellen Kapitalismus



Der kulturelle Wandel geht mit einem ökonomischen Wandel Hand in Hand: Die Industriegesellschaften verwandeln sich in postindustrielle Gesellschaften. Das Gros der ökonomischen Wertschöpfung und der Erwerbstätigkeit findet sich nicht mehr im sekundären, industriellen Sektor, sondern im tertiären, im Dienstleistungssektor. Dies hat Auswirkungen auf Seiten des Konsums wie der Erwerbsarbeit: Die postindustrielle Ökonomie differenziert ihr Konsumangebot enorm aus. 

Es findet eine neue Konsumentenrevolution statt, die weniger auf Massenkonsum von Standardgütern setzt, deren Bedarf rasch gesättigt ist, als auf symbolische Güter, Erlebnisse, Dienste und mediale Formate in großer Differenziertheit. Man kann daher eine Singularisierung der Güterwelt beobachten: Die Konsument/-innen erwarten im Rahmen ihrer Selbstverwirklichungswerte „einzigartige Erlebnisse“, „authentische Produkte“ und immer wieder neue mediale Reize.

In den Konsumgütern mutiert die Ökonomie seit den 1980er Jahren so von einem industriellen zu einem kulturellen Kapitalismus. Zugleich handelt es sich um einen kognitiven Kapitalismus: Mit der Entindustrialisierung Hand in Hand geht die Expansion der Wissensökonomie für Hochqualifizierte. Dies sind die Arbeitsplätze der neuen Mittelklasse. Die Wissensarbeit wiederum ist eine hochgradig subjektivierte Arbeit, zugleich eine Arbeit im permanenten Wettbewerb um Höchstleistungen: Eine Ökonomie, die nicht nach dem Durchschnitt strebt, sondern nach Exzellenz; eine Ökonomie, die nicht nur Einkommen, sondern auch persönliche Befriedigung verspricht.

Der dritte Faktor, der den Wandel von der Gesellschaft der Gleichen zur Gesellschaft der Singularitäten vorantreibt, ist ein technologischer: die digitale Revolution. Die Technik der Industriegesellschaft wirkte standardisierend, die digitale Technologie der Spätmoderne wirkt in mehreren Hinsichten singularisierend. Im Internet und in den Sozialen Medien findet ein Wettbewerb um Aufmerksamkeit statt, in dem nur Differenz und Singularität herausstechen. Die Algorithmen ermöglichen es, die einzelnen Nutzer/-innen in ihrer Besonderheit zu adressieren, so dass die digitale Welt auf das Individuum zugeschnitten ist. Anstelle der allgemeinen medialen Öffentlichkeit treten partikulare mediale Communities, die sich jeweils selbst bestätigen. Dadurch, dass die digitalen Medien den Alltag durchdringen, vermitteln sie dem Subjekt die Vorstellung, dass es beständig auf seine individuelle Performance in einer Welt von Performances ankommt.

Singularisierung in der Spätmoderne
Die spätmoderne Gesellschaft der Singularitäten entsteht damit am Kreuzungspunkt kultureller, ökonomischer und technologischer Wandlungsprozesse. Sie wird durchzogen von Prozessen der Singularisierung. Dabei handelt es sich um mehr als um eine Individualisierung, wie sie Ulrich Beck diagnostizierte. Die Individualisierung bedeutet eine Freisetzung von Individuen aus sozialen Bindungen, jenseits von Klasse und Stand (vgl. Beck 1986). 

Die Singularisierung geht darüber hinaus. Sie bezeichnet eine Gesellschaft, in der eine permanente Produktion, Bewertung und Rezeption von Einzigartigkeiten stattfindet und sich so eine soziale Logik der Singularisierung herauskristallisiert. Es sind in der Gesellschaft insgesamt und in den einzelnen Lebenswelten diese Singularitäten, denen das Interesse gilt, während die Mechanismen des Allgemeinen im Hintergrund weiterlaufen.

Singularisiert werden in der Spätmoderne die Menschen als besondere Individuen, ob in der Berufswelt, in persönlichen Beziehungen oder den digitalen Medien. Singularisiert werden aber auch Dinge und Objekte – Waren, Bilder, Glaubensüberzeugungen; singularisiert werden räumliche Einheiten als „besondere Orte“; singularisiert werden zeitliche Einheiten – als Events, Projekte, „unvergessliche Momente“; singularisiert werden nun auch Kollektive – z. B. Regionen, Nationen, Glaubensgemeinschaften. Hingegen verlieren jene Subjekte, Dinge, räumliche und zeitliche Einheiten sowie Kollektive, in denen sich „lediglich“ allgemeingültige Eigenschaften ausdrücken, in der Spätmoderne an Anerkennung: Durchschnittsbürger/-innen, standardisierte Waren, austauschbare räumliche Einheiten wie z. B. Industriestädte und Massenwohnungsbau, routinisierte Zeitlichkeiten oder organisierte Kollektive wie formale Organisationen.


Digitale Medien vermitteln dem Subjekt, dass es beständig auf seine individuelle Performance in einer Welt von Performances ankommt



Einen gesteigerten Ausdruck findet die Gesellschaft der Singularitäten in der Lebenswelt der neuen Mittelklasse, dem Leitmilieu der Spätmoderne. Was diese formal auszeichnet, ist die Verfügung über hohes kulturelles Kapital, vor allem über Bildung erworben. So wie die Mittelklasse bisher betreibt auch sie eine permanente Investition in ihren eigenen Status, sie verknüpft dies jedoch mit dem Ideal der Selbstentfaltung. Die Tradition der Bürgerlichkeit und jene der postromantischen Gegenkulturen gehen in der neuen Mittelklasse so eine Synthese ein. 

Die neue Mittelklasse ist im Besonderen eine Trägerin des Wertewandels, der Expansion der Wissens­ökonomie und der Konsumentenrevolution. Sie betreibt eine konsequente Singularisierung aller Segmente ihrer Lebensform – von Beruf, Partnerschaft und Familie bis zur Ernährung dem Verhältnis zum Körper –, die zugleich eine Kulturalisierung ist: Man orientiert sich nicht am bloß Zweckrationalen, sondern am Wertvollen und zieht dazu im Sinne einer „Hyperkultur“ kulturelle Ressourcen diverser Art, aus der globalen Kultur und auch aus der Vergangenheit, heran. Politisch ist die neue Mittelklasse Trägerin eines Kosmopolitismus und neuen Liberalismus, der Linksliberalismus und Wirtschaftsliberalismus miteinander kombiniert und generell auf gesellschaftliche Öffnung statt auf Ordnungsstabilisierung setzt.

Die Krise des Allgemeinen
Die Singularisierung und Kulturalisierung des Sozialen in der Spätmoderne hat unintendierte Folgen: Sie mündet auf verschiedenen Ebenen in Prozesse sozialer Polarisierung. Ganz grundsätzlich gilt: Die Orientierung am Singulären bringt dynamische Gewinner-Verlierer-Konstellationen hervor. In gesellschaftlichen Bewertungsprozessen wird immer nur bestimmten Subjekten, Objekte, Orten etc. die Eigenschaften des Singulären, damit auch des Wertvollen zugeschrieben, für andere gilt dies nicht. Häufig geht die Singularisierung mit einer Ökonomisierung des Sozialen einher, das heißt, der Verbreitung von Wettbewerben um anerkannte Singularität.

Eine erste, grundlegende Polarisierung ergibt sich damit im Bereich der Ökonomie, in der Güter- und Arbeitswelt des kognitiv-kulturellen Kapitalismus. Die Märkte für die kognitiv-kulturellen Güter der Spätmoderne sind typischerweise winner take the most-Märkte, in denen der Erfolg der als singulär anerkannten Güter und des Rests drastisch auseinanderklaffen. Für die spätmoderne Arbeitswelt ist ein Dualismus des Status zwischen den sog. Hochqualifizierten der Wissensökonomie und den sog. Niedrigqualifizierten der einfachen Dienstleis­tungen kennzeichnend.


In einer Gesellschaft, die sich systematisch an Besonderheiten orientiert, ergibt sich eine Krise des Allgemeinen



Eine weitere, folgenreiche Polarisierung betrifft die Sozialstruktur: An die Stelle der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne entwickeln sich in der Spätmoderne Klassen und ihre Lebensstile auseinander. Kennzeichnend ist das Muster einer Drei-Klassen-Gesellschaft, die sich aus neuer Mittelklasse, alter Mittelklasse und prekärer Klasse (Unterklasse) zusammensetzt. Im Unterschied zur neuen Mittelklasse der Akademiker, welche den Struktur- und Kulturwandel trägt, sehen sich die traditionelle Mittelklasse und die prekäre Klasse in einer kulturellen bzw. sozialen Defensive. Dies schlägt sich auch auf der Ebene der sozialen Räume und der Politik nieder: Seit den 1980er Jahren findet eine räumliche Polarisierung zwischen prosperierenden und attraktiven Metropolregionen (den Zentren des kognitiv-kulturellen Kapitalismus und der neuen Mittelklasse) und den kleinstädtischen und ländlichen Regionen statt. 

Zudem entwickelt sich eine neue politische Polarisierung, in welcher der kosmopolitische Liberalismus einem neuen Populismus gegenübersteht, der vor allem auf kollektive kulturelle Identität setzt und jene Bevölkerungsgruppen anspricht, die sich vom spätmodernen Strukturwandel in ihrer sozialen Anerkennung entwertet sehen. In einer Gesellschaft, die sich systematisch an Besonderheiten orientiert, ergibt sich damit insgesamt eine Krise des Allgemeinen.

Literatur
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.

Goodhart, David (2017): The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. London.

Karpik, Lucien (2011): Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen. Frankfurt/M. u. a.

Kucklick, Christoph (2014): Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Gesellschaft auflöst. Berlin.

Putnam, Robert (2015): Our Kids. The American Dream in Crisis. New York.

Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin.

Rosanvallon, Pierre (2013): Gesellschaft der Gleichen. Hamburg.

Zitation:
Reckwitz, Andreas (2019). Die Gesellschaft der Singularitäten, in: Journal für politische Bildung 1/2019, 12-17.

Der Autor

Andreas Reckwitz studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie. Er ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und Träger des Leibniz-Preises.

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