Deutsch-griechisches Erinnern für morgen

Das Deutsch-Griechische Jugendwerk (DGJW) wurde im Jahr 2018 gegründet und möchte die Beziehungen zwischen jungen Menschen beider Länder stärken und gegenseitiges Verständnis für verschiedene Lebensweisen und Kulturen fördern. Politische Bildung und internationale Jugendarbeit leben in Griechenland von dezentralen, teilweise improvisierten und ehrenamtlichen Lern- und Begegnungsorten. Das Projekt „erinnern für morgen“ thematisiert die NS-Besatzung in Griechenland und bietet jungen Menschen an dezentralen Orten der politischen Bildung Möglichkeiten gemeinsam zu erinnern. 

Deutsch-griechische Erinnerungsarbeit findet unter herausforderungsreichen und ungleichen Bedingungen statt. Es mangelt an kollektivem Grundlagenwissen über die deutsch-griechische Besatzung und die damit verbundenen Gräueltaten, eingeschlossen der Massaker an der Zivilbevölkerung und der Deportation eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung. Die strukturellen Bedingungen sind ungleich und die pädagogischen Ansätze überschneiden sich selten. Das Projekt „erinnern für morgen“, das vom DGJW im Jahr 2021 gestartet wurde, bietet Fachkräften der Erinnerungsarbeit aus Deutschland und Griechenland eine Plattform, die ihnen die dezentrale, internationale Erinnerungsarbeit erleichtert.

Institutionalisierte Begegnung

Das DGJW ist eine internationale gemeinnützige Organisation, die von der Bundesrepublik Deutschland und der Hellenischen Republik gegründet wurde, um die Beziehungen zwischen den Jugendlichen beider Länder zu vertiefen. Vorbilder waren das Deutsch-Französische und das Deutsch-Polnische Jugendwerk, die mittlerweile seit über 60, beziehungsweise 30 Jahren bestehen und aus der Förderlandschaft der internationalen Jugendarbeit nicht mehr wegzudenken sind.
Im April 2021 nahm das DGJW in Leipzig und Thessaloniki die Arbeit auf. Möglichst viele Jugendliche aus Deutschland und Griechenland sollen dadurch die Möglichkeit haben, sich zu begegnen und sich gegenseitig Einblicke in ihren Alltag zu ermöglichen. Die Lernorte, die dabei eine Rolle spielen, sind vielfältig. Mal ist es das Wohnzimmer der Gastfamilie, mal der Sportplatz oder Strand. Bildungsstätten nach deutschem Modell gibt es in Griechenland bislang nicht. Der im Jahr 2017 gegründete Verband der griechischen Jugendherbergen ist ein erster Schritt in diese Richtung, denn sie können die Bildungsangebote in ihrer Umgebung mit den Trägern vernetzen. Für die Jugendbegegnungen, die vom DGJW gefördert werden, gibt es keine thematischen Vorgaben. Die Partnerorganisationen gestalten gleichberechtigt und unter Beteiligung der Jugendlichen ein gemeinsames Programm, das in Deutschland oder Griechenland stattfindet. Die behandelten Themen sind dadurch so vielfältig, wie die Jugendlichen, die an den Begegnungen teilnehmen.
Die Erinnerungsarbeit ist explizit als Aufgabenbereich im Gründungsabkommen erwähnt, so „fördert und unterstützt das Jugendwerk private und öffentliche Träger (...) bei den gemeinsamen Gedenkstättenfahrten zu Märtyrerstädten und -dörfern in Griechenland und Orten der Erinnerung an den nationalsozialistischen Holocaust in Deutschland“ (DGJW Abkommen Art. 2 Abs. 2). Die Rechtspositionen beider Staaten, was die deutsche Besatzung Griechenlands angeht, bleiben davon unberührt. Auch das ist im Gründungsabkommen festgehalten. Historische Ausgangslage Deutsch-griechische Begegnungen finden nicht im luftleeren Raum statt. Wer in Deutschland von Griechenland spricht oder in Griechenland von Deutschland, verbindet damit unterschiedliche Bilder, Erwartungen und Stereotype. Die deutsch-griechische Geschichte ist facettenreich und kompliziert. Philhellenen, König Otto, deutsche Besatzung, Gastarbeit, Urlaubsparadies, Sehnsuchtsort, Finanzkrise, Bauernsalat. Die Schlagworte lassen sich beliebig erweitern und stehen für unterschiedliche Ebenen und Epochen der deutsch-griechischen Beziehungen.
Eine besonders schmerzhafte Epoche ist diejenige der deutschen Besatzung Griechenlands zwischen 1941 und 1944. In Griechenland hat sich die Besatzung ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, in Deutschland ist den wenigsten bekannt, dass Griechenland überhaupt besetzt wurde, geschweige denn, dass dabei grausame Massaker verübt wurden. Orte wie Kalavryta, Distomo, Kandanos, Kommeno und Lyngiades sind zu Symbolen dieser Gräueltaten geworden und werden in Griechenland als Märtyrerdörfer und Märtyrerstädte bezeichnet. Deutschen sagen diese Orte selten etwas. Sie denken bei Griechenland eher an Mykonos, Korfu und Santorini. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist fester Bestandteil der Schulbildung in Deutschland. Jugendliche nehmen an Gedenkstättenfahrten Teil, putzen Stolpersteine und treffen Überlebende der Shoah. In Bildungsstätten wird der Gegenwartsbezug der geschichtlichen Ereignisse erarbeitet und die Gelingensbedingungen einer pluralistischen und friedlichen Zukunft diskutiert. Griechenland kommt dabei kaum vor.
Jugendliche in Griechenland erfahren von der deutschen Besatzung eher selten im Rahmen der formalen oder non-formalen Bildung, sondern meist durch biographische Erzählungen im Kreis der eigenen Familie, oral history im weiteren Sinne. Gerade während der Finanzkrise wurden bei vielen älteren Griech*innen Erinnerungen oder vermittelte Erinnerungen an die 1940er Jahre wachgerufen, da das Spardiktat der Eurozone von einigen als erneute deutsche Besatzung mit anderen Mitteln verstanden und rezipiert wurde. Das gipfelte in der Frage, warum die Deutschen die Griech*innen nach wie vor so hassen, dass sie sie bestrafen oder gar vernichten wollen. Ein Umstand, der wiederum in Deutschland für Verwunderung sorgte, weil das Wissen um die deutsche Besatzung nicht zur Allgemeinbildung gehörte und die geschmierten Hitlerbärtchen auf Bildern von Schäuble und Merkel, die in einigen Nachrichtensendungen zu sehen waren, als zusammenhanglose Beleidigungen aufgefasst wurden.

Deutsch-griechische Begegnung

Der Exkurs in die – auch jüngste – Geschichte ist unabdingbar, wenn man sich vor Augen führen will, unter welchen Voraussetzungen Jugendliche aufeinandertreffen, denn ihre Weltbilder sind von aktuellen Debatten am Familientisch oder in den sozialen Medien beeinflusst. Ein Jugendwerk, das die Begegnung beider Länder zum Ziel hat, muss sich mit der Ausgangslage der Begegnung befassen. Der historische Kontext sagt aber nichts darüber aus, was die Jugendlichen interessiert, wenn sie aufeinandertreffen. Wenn sie ein Märtyrerdorf oder eine deutsche Gedenkstätte besuchen, verhandeln sie nicht die Welt, wie sie von 80 Jahren war, sondern ihre Gegenwart und Zukunft. Sie diskutieren ihren Umgang mit der Opfer- oder Täterperspektive. Sie verständigen sich – oder nicht. Sie verstehen sich – oder nicht. Sie mögen sich – oder nicht. Und das hat in aller Regel nichts damit zu tun, ob sie aus Deutschland oder Griechenland kommen, sondern zum Beispiel damit, welche Musik sie mögen oder welche Sportart sie verbindet. Am Ende gilt: die Jugendlichen kommen schon klar.
Für die Träger aus beiden Ländern, die zusammenarbeiten wollen, versucht das Jugendwerk eine Plattform für den Erfahrungsaustausch und die Kommunikation aufzubauen. Bislang ist die deutsch-griechische Vernetzung abhängig vom Engagement einzelner Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, die teilweise seit den 1980er Jahren Brücken schlagen, teilweise in jüngster Zeit und mit jugendlicher Perspektive in die Multipli­kator*innen-Rolle treten. Die Suche nach institutioneller Unterstützung in diesem Bereich ist mühsam. In Griechenland hat sich eine fragmentierte und vor allem unterfinanzierte Landschaft an Mahn- und Gedenkstätten herausgebildet, in Deutschland mangelt es auch in vielen etablierten Bildungsstätten an Bewusstsein und Expertise zu diesem Themenbereich. Griechenland hat in Deutschland keine Priorität und in Griechenland hat Deutschland so viel Zerstörung angerichtet, dass aus griechischer Perspektive oft nicht nachvollziehbar ist, dass dies fehlender Information und nicht böser Absicht geschuldet ist. In dieser Gemengelage wirkt auch das deutsche Engagement für eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Griechenland nicht unproblematisch. Die Aussicht darauf, dass die Geschichtsschreibung aus der Täterperspektive stattfindet und die Opferperspektive durch die deutsche Dominanz marginalisiert wird, führt zu Skepsis und Ablehnung. Die zentrale Herausforderung dabei ist, dass die deutsch-griechische Kommunikation zu Fragen der gemeinsamen Geschichte so heikel und aufgeladen ist, dass Synergien der Zusammenarbeit von Fachkräften der Erinnerungsarbeit kaum entstehen können.

Plattform für Erinnerung

Hier setzt das Projekt „erinnern für morgen“ an, das in den Jahren 2021 und 2022 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Maßnahmenkatalogs des Kabinettsausschusses gegen Rassismus und Rechtsextremismus gefördert wurde und im Jahr 2023 von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung Zukunft (EVZ) finanziell unterstützt wird. Zu den Grundsätzen des Projekts zählen die paritätische Besetzung der Veranstaltungen und dass sie auf Deutsch und Griechisch gedolmetscht werden, um zu gewährleisten, dass Teilnehmende sich in „ihrer“ Sprache ausdrücken können. Eine Werkstatt geht über zwei volle Tage, beinhaltet einen thematischen Schwerpunkt und eine Exkursion. In Athen führte diese die Teilnehmenden an den Gedenkort „Korai 4“, in Thessaloniki in die Märtyrergemeinde „Chortiatis“ und in Würzburg liefen sie den „Weg der Erinnerung“.
Das Projekt „erinnern für morgen“ hat zum Ziel, die Vernetzung der Fachkräfte im Bereich der deutsch-griechischen Erinnerungsarbeit voranzutreiben, die Angebote in beiden Ländern füreinander erreichbar zu machen und so niedrigschwellige Möglichkeiten zu schaffen, um das Thema Erinnerungsarbeit in deutsch-griechische Jugendbegegnungen zu integrieren. Daran beteiligt waren sowohl junge als auch erfahrenere Multiplika­tor*in­nen, was besonders spannend ist, weil sich dadurch die intragenerationalen Diskurse in den jeweiligen Ländern bemerkbar machen. Im Projekt treffen nicht nur Griech*innen auf Deutsche, sondern Jugendliche auf Ältere, Städter*innen auf Dorfbewohner*innen, etc.

Bisherige Erkenntnisse 

Bereits bei der Auftaktkonferenz in Leipzig im April 2022 zeigte sich, dass im Feld der deutsch-griechischen Erinnerungsarbeit viel Bewegung ist. Vertreter*innen der internationalen Jugendarbeit, wissenschaftlicher und künstlerischer Projekte tauschten sich darüber aus, welche Besonderheiten die deutsch-griechische Erinnerungsarbeit mit sich bringt und wie sie zukunftsfähig werden kann. Gerade im akademischen Bereich werden seit einigen Jahren Forschungslücken identifiziert und geschlossen. Prof. Hagen Fleischer von der Universität Athen hat als Koryphäe in diesem Bereich viele Forschungsprojekte angestoßen und begleitet, die in den letzten Jahren Früchte tragen. Im Bereich der non-formalen Bildung entstehen Bildungsangebote und Zeitzeug*innenarchive, wie das von Memories of Occupation Greece, und ein Gespür dafür, dass es einen Unterschied macht, von wem und wie die Erinnerungsorte besucht werden. Deutsche Jugendliche leisten über Aktion Sühnezeichen Freiwilligendienste in Märtyrergemeinden, der Deutsch-Griechische Zukunftsfonds finanziert seit 2015 deutsch-griechische Erinnerungsprojekte im künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich und Stiftungen wie die EVZ unterstützen interdisziplinäre und internationale Projekte finanziell, die nach neuen Wegen auch der deutsch-griechischen Erinnerung suchen. Ritualisiertes Gedenken und das Ablegen von Kränzen hat wenig Potenzial junge Menschen zu erreichen. Mit einem Hip-Hop-Künstler einen Rap zu den eigenen Eindrücken beispielsweise von der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zu verfassen, kann Zugänge öffnen, die sonst verwehrt bleiben. Im daraus entstandenen Projekt „Sound in the ­Silence” wurden die entstandenen Texte Überlebenden des Konzentrationslagers vorgetragen.
In einer diversen und pluralistischen Gesellschaft darf Erinnerungsarbeit nicht begrenzt auf die eigene Echokammer und symbolische Rituale sein. Ohne dem Wunschgedanken verfallen zu wollen, dass ein Gedenkstättenbesuch allein junge Menschen zu empathischen Demokrat*innen macht, zeigt sich, dass Jugendliche, die einen Sportaustausch in München machen, viel Gesprächsstoff von einem gemeinsamen Gedenkstättenbesuch in Dachau mitnehmen. Und bei einer gemeinsamen Fahrt ins Skigebiet Kalavryta bietet es sich an, das dortige Museum zu besuchen, das den sogenannten Holocaust von Kalavryta behandelt und die Geschichte des Ortes vor und nach der deutschen Vergeltungsaktion aufgreift. Erinnerungsorte und Geschichten sind über ganz Griechenland und Deutschland verteilt.
Die Orte allein können ihre Geschichte nicht vermitteln. Die Frage ist deshalb, wie sie pädagogisch sinnvoll in internationale Jugendbegegnungen eingebaut werden können, um zu Lern- und Bildungsorten zu werden. Deshalb sammelt das Projekt „erinnern für morgen“ neben Orten und Ansprechpartner*innen auch Methoden. Ziel ist es, einen „Erinnerungskoffer“ zu entwickeln, der Trägern und auch Jugendbildungsstätten die nötigen Werkzeuge an die Hand gibt, um das Thema Erinnerungsarbeit behandeln zu können. In thematischen Werkstätten in Athen, Thessaloniki und Würzburg wurden im Jahr 2022 Werkzeuge recherchiert, diskutiert und erarbeitet.
Gerade in Würzburg war es spannend, mit einer Jugendbildungsstätte zusammenzuarbeiten, die von Deutschland als Einwanderungsgesellschaft ausgeht und versucht, historische Hintergründe und Erfahrungen als Grundlage für eine Hinterfragung der Gegenwart zu nutzen. Feministische und postkoloniale Perspektiven sowie kritische Stimmen zu den tradierten Wegen der politischen Bildung und der Gedenkarbeit werfen viele Fragen auf, die exemplarisch zeigen, wie es sich eine Bildungsstätte zur Aufgabe machen kann, eine Reflexionsfläche für ihre unmittelbare Umgebung zu schaffen. In den griechischen Werkstätten wurde oft der Bedarf artikuliert, Wissen darüber zu konservieren, welche Verbrechen während der Besatzung von Soldaten begangen wurden und Ansätze der pädagogischen Vermittlung zu diskutieren. Es kam eine zentrale Herausforderung zum Tragen: das Thema Sprache. Dadurch, dass das DGJW auf Deutsch und Griechisch arbeitet, fällt auf, wie unterschiedlich in beiden Gesellschaften mit Begriffen gearbeitet wird. Sprechen wir von Märtyrergemeinden oder Opferdörfern? Ist der Holocaust synonym mit der Shoah oder sprechen wir vom Holocaust an Kalavryta? Wie übersetzt man Versöhnung?
Im Herbst und Winter 2023 geht es in Thessaloniki und Weimar weiter. Neben den Materialien, die dabei entwickelt werden, entsteht ein Netzwerk aus Expert*innen und Pädagog*innen, die sich ebenfalls deutsch-griechisch begegnen, ihre Konzepte und Ansätze miteinander besprechen und dabei neue Ideen entwickeln und einen Raum für Erfahrungsaustausch schaffen. Vereinfacht gesagt, ist der Name des Projekts auch die Maxime. Auf allen Ebenen wirft er die Frage auf: was bedeutet unsere gemeinsame Vergangenheit für unsere gemeinsame Zukunft? Um sich dieser Frage zu stellen, bringt das Deutsch-Griechische Jugendwerk Menschen zusammen, denn wer voneinander lernen will, muss voneinander wissen.

Der Autor

Gerasimos Bekas ist Politologe, Schriftsteller und Dramatiker und seit 2021 Generalsekretär des Deutsch-Griechischen Jugendwerks.

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