Der 7. Oktober 2023
Am 7. Oktober hat die palästinensische Terrororganisation
Hamas im westlichen Negev
ein Massaker an 1400 Zivilisten verübt, viele
verwundet und ca. 240 Israelis entführt. Die
Täter haben nach allem was bisher bekannt
ist, alle getötet, deren sie habhaft werden
konnten: Von Babys bis zu Pflegefällen,
darunter auch palästinensische Israelis,
Drusen und Gastarbeiter, viele von ihnen
aus Thailand. Der Anschlag ist eine Form
der öffentlichen Kommunikation und gab
zu verstehen, dass weltweit Jüdinnen und
Juden allen Alters, ob säkular oder religiös,
rechtsradikal oder sozialistisch, um ihr Leben
fürchten müssen.
Die politische Elite in Deutschland hat
den Terroranschlag verurteilt, ihre Solidarität
mit Israel und den Jüdinnen und Juden
in Deutschland proklamiert und Behörden
im Bildungsbereich haben schnell reagiert.
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin
Prien wandte sich in einem Schreiben
explizit nicht nur an die Geschichts- und Politik-,
sondern an alle Lehrkräfte: „Der Nahostkonflikt
und insbesondere das deutschisraelische
Verhältnis könnten Sie in diesen
Tagen besonders fordern. Das gilt sowohl
für das Vermitteln altersgerechter Information
als auch für den Umgang mit Hass und
terroristischer Propaganda. Auch werden
manche von Ihnen Schülerinnen und Schüler
in ihren Klassen haben, die durch ihr Elternhaus
und ihre Sozialisation mit Israelhass
aufgewachsen sind. (…) Es gibt an unseren
Schulen keinen Platz für Antisemitismus und
es gibt an unseren Schulen keinen Platz für
Israelhass.“ (Prien 2023)
Dass die Ministerin den Brief schon am
9. Oktober allen Schulen ihres Bundeslandes
zukommen ließ, zeigt an, dass das
Bildungsministerium im Umgang mit Antisemitismus
gelernt hat, auf Entwicklungen
nicht nur zu reagieren, sondern diese zu
antizipieren. Der Antisemitismus erlebt eine
neue Blütezeit wie alter Wein in neuen
Schläuchen. Die antisemitischen Bilder sind
keine verstaubten Karikaturen aus dem Geschichtsbuch,
sondern vermeintlich lustige
Memes, die von Kindern und ihren schönen,
jungen Idolen in der bunten Welt der
sozialen Medien geteilt werden: Von Fussballstars,
progressiven Bewegungen wie
Black lives Matter und Teilen der Fridays
for Future Bewegung, Rapmusiker:innen
und Influencer:innen. Um nur ein Beispiel
zu nennen: Die Rapperin Nura teilte auf
Instagram den Schriftzug „Free Palestine“
– am 8. Oktober, als die Täter noch in Israel
wüteten. „Sie setzen den Spruch Free
Palestine also ganz bewusst in den Kontext
des antisemitischen Pogroms“, so der
Politikwissenschaftler Jakob Baier (2023)
im Interview im Deutschlandfunk. Würde
man Nura fragen, wovon Palästina befreit
werden soll, sie hätte darauf keine Antwort
und sie bräuchte diese wohl auch nicht. Die
Solidarität mit Palästina, die ausschließlich
als Hass auf Israel artikuliert wird, kommt
ohne Faktenwissen aus und ist in Folge
unfähig Falschnachrichten zu identifizieren
oder gar zu einem auf Fakten beruhenden
Urteil zu kommen.
Freiheitskampfkitsch als
Identifikationsfaktor
Die Frage, was sich für die politische Bildung
durch den 7. Oktober ändert, ist
schnell beantwortet: Das Massaker ändert
nichts an den Herausforderungen im Bildungsbereich;
die Probleme lagen bereits
vorher offen auf dem Tisch. Spätestens die
antiisraelischen Proteste im Zuge des vermeintlichen
Hilfskonvois Mavi Marmara im
Jahr 2010 haben gezeigt, dass das Thema
„Israel“ erlaubt säkulär-nationalistische,
religiöse muslimische und linke Gruppierungen
gemeinsame zu mobilisieren. Alle
vorliegenden empirischen Erhebungen
zeigen, dass der Antisemitismus unter
Muslim:innen in Europa stärker ausgebildet
ist als unter religiösen und nicht
religiösen Vergleichsgruppen (vgl. Jikeli
2018). Besonders bedenklich ist, dass Alter,
Geschlecht oder Bildungsgrad keinen
relevanten Einfluss auf starke Ausprägung
von Antisemitismus unter Muslim:innen
haben. Der entscheidende Einflussfaktor
ist die Selbstidentifikation als Muslim,
was dafür spricht, „dass der tradierte und
israelbezogene Antisemitismus in einem
Submilieu deutscher Muslim:innen zu
einem integralen Bestandteil der eigenen
Gruppen-Identität avanciert ist“, so Cemal
Öztürk und Gert Pickel (2021: 34).
Erschwerend kommt hinzu, dass in progressiven
Milieus eine Entwicklung droht,
die wir in den USA beobachten können, wo
der israelbezogene Antisemitismus nicht
nur normalisiert, sondern geradezu das Eintrittsticket zur Gemeinschaft der Guten
darstellt. Die aktuellen Umfragen zeigen,
dass es sich hier nicht um eine kleine, lautstarke
Gruppe an liberalen Universitäten
handelt, sondern dass die Mehrheitsverhältnisse
gekippt sind. Eine repräsentative
Erhebung vom 18. und 19. Oktober 2023
der Harvard University, The Harris Poll and
HarrisX beinhaltet das Item „Glauben Sie,
dass die Ermordung von 1200 israelischen
Zivilisten durch die Hamas durch das Leiden
der Palästinenser gerechtfertigt werden
kann oder ist sie nicht gerechtfertigt?“
In der Altersgruppe 65+ geben 91 Prozent
der Befragten an, dass die Taten nicht gerechtfertigt
sind. Dieser Wert sinkt über alle
Alterskohorten; in der jüngsten Gruppe, der
18-24 Jährigen sieht eine Mehrheit von 51
Prozent die Taten als gerechtfertigt an (vgl.
Hardvard Caps Harris Poll, 19.10.2023).
Man muss hier einen Moment innehalten,
um die Tragweite dieser Entwicklung zu
verstehen und zu spüren. Es kann davon
ausgegangen werden, dass diese Entwicklung
auch den an US-Universitären
populären vermeintlich kolonialismus- und
rassismuskritischen Ideologien geschuldet
sind, die erlauben, selbst ein Pogrom als
Widerstand zu kontextualisieren. Diese
Generation stellt in den USA die aktuelle
Generation des Nachwuchses an den Universitäten,
Verwaltung, Politik, Medien und
nicht zuletzt Schulen.
Herausforderungen der
politischen Bildung mit israelbezogenem
Antisemitismus
Ich sehe zwei zentrale Herausforderungen
bei der Thematisierung des Konflikts zwischen
Israel und seinen Feinden: (1) Die
in den sozialen Medien, Film und Musik
etablierten Narrative des Konflikts trivialisieren
diesen häufig als dichotome
Auseinandersetzung von Unterdrücker
und Unterdrückten. Diese Bilder und fehlerhaften
Präkonzepte müssen Lehrkräfte
mitdenken, die sich angemessen um eine
kontroverse und auf Sachwissen basierende
Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen.
(2) „Israel“ gehört zu den weniger
beliebten Thematiken im Politikunterricht.
„Das Thema Israel würde ich gerne gar
nicht drannehmen, weil da immer der Hass
hochkocht“, antwortet eine Studierende
auf meine offene Frage, welche Themen sie
im Unterricht gerne lieber nicht thematisieren
würde. Dies ist kein Einzelfall; meine
Wahrnehmung ist, dass Lehrer:innen stark
emotionalisierte Themen aus vier Gründen
meiden: Aus Angst die Kontrolle über den
Unterricht zu verlieren, weil die lautstark
vorgetragenen Meinungen eine sachliche
Auseinandersetzung unmöglich machen,
weil sie befürchten, dass sie gegen die
etablierten Narrative nicht ankommen und
zuletzt, weil eine große Unsicherheit beim
Umgang mit dem Thema und insbesondere
mit Schüler:innen herrscht, die familiäre
Bindungen nach Palästina haben.
„Der Antisemitismus [ist] eine ideologische
Wahrnehmung von Gesellschaft, die
Denk- Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten
von Individuen stark beschränkt.
Antisemitismus ist die Unfähigkeit zur
Selbstreflexion und zur Nutzung von Autonomiepotenzialen.“
(Baier/Grimm 2022:
11). Gerade weil Antisemitismus eine wirkmächtige
und offenkundig attraktive Ideologie
ist, muss er im Unterricht adressiert
und müssen Schüler:innen dazu befähigt
werden, die Erscheinungsformen zu erkennen,
die Funktionsweise zu verstehen und
eine eigene Position dazu zu entwickeln.
Damit ist angezeigt, dass Lehrkräfte künftig
im Zuge ihrer Professionalisierung auch
mit dem Basiswissen ausgestattet werden,
dass Sie dabei unterstützt, die notwendige
Handlungssicherheit im Feld der Antisemitismusprävention
zu erlangen.
Literatur
Baier, Jakob/Grimm, Marc (2022):
Antisemitismus in Jugendkulturen. Zur
Einführung. In: Baier, Jakob; Grimm,
Marc (Hrsg.): Antisemitismus in
Jugendkulturen. Erscheinungsformen
und Gegenstrategien. Frankfurt am
Main, S. 7–16.
Baier, Jakob (2023): Politikwissenschaftler
Jakob Baier zu Antisemitismus im Pop.
Online abgerufen am 1.11.2023: https:// www.deutschlandfunk.de/politikwissenschaflter- jakob-baier-zu-antisemitismusim- pop-dlf-d4410b6a-100.html
Hardvard Caps Harris Poll, Field Date
19.10.2023. Online abgerufen am
1.11.2023: https://harvardharrispoll. com/category/2017-01-national-poll/ october-2023/
Jikeli, Günther (2018): Muslimischer
Antisemitismus in Europa. Aktuelle
Ergebnisse der empirischen Forschung.
In: Grimm, Marc/Kahmann, Bodo (Hg.):
Antisemitismus im 21. Jahrhundert.
Virulenz einer alten Feindschaft in
Zeiten von Islamismus und Terror.
Berlin, S. 113–133.
Öztürk, Cemal/Pickel, Gert (2021): Der
Antisemitismus der Anderen: Für eine
differenzierte Betrachtung antisemitischer
Einstellungen unter Muslim:innen
in Deutschland, In:
Z Religion Ges Polit, https://doi. org/10.1007/s41682-021-00078-w
Prien, Karin (2023): Schreiben von
Ministerin Karin Prien an die Schulen.
Online abgerufen am 1.11.2023: https:// www.schleswig-holstein.de/DE/ landesregierung/ministerien-behoerden/ III/Presse/PI/2023/Oktober/20231009_ Schreiben_Prien_Israel.html
Der Autor
Dr. Marc Grimm, Vertretungsprofessor für
die Didaktik der Sozialwissenschaften an
der Bergischen Universität Wuppertal. Er
ist Mitherausgeber der Reihe „Antisemitismus
und Bildung“ im Wochenschau
Verlag und Standortleiter im BMBF-Verbundbundprojekt
EMPATHIA, in dem ein
Kerncurriculum für die Sensibilisierung
von Lehrer*innen und Polizist*innen für
Antisemitismus erarbeitet wird.