Depolarisierung in der politischen Bildung

Einblicke in die europäische Praxis

Studien zeigen weltweit eine wachsende Unzufriedenheit junger Menschen mit der institutionellen Demokratie unserer Gesellschaft. In diesem Beitrag werden ausgewählte bedeutende Herausforderungen der politischen Bildung untersucht und auf die sich wandelnden Interessen und Bedürfnisse junger Menschen eingegangen.

Die politische Bildung als wichtiger Bestandteil der außerschulischen Bildung und des bürgerschaftlichen Engagements befindet sich in einer prekären Lage. Die Komplexität der Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist, spiegelt die Komplexität der Welt, auf die sie junge Menschen vorbereiten soll. Es ist daher umso dringlicher, diesen Herausforderungen zu begegnen und auf die sich wandelnden Interessen und Perspektiven junger Menschen zu reagieren. Es liegt an uns politischen Bildner*innen, die kommende Generation mit Wissen, Fähigkeiten und ethischen Grundsätzen auszustatten, und ihnen so Gelegenheit zu geben, sich zu engagierten und verantwortungsbewussten Bürger*innen zu entwickeln. Was es dazu genau benötigen könnte, soll in diesem Text diskutiert werden.

Herausforderungen und Bedarfe politischer Bildung

Die zunehmenden ideologischen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft sind eine der drängendsten Herausforderungen der politischen Bildung. Die Polarisierung hat zu feindseligen und unproduktiven Diskursen geführt, die konstruktiven Dialog ersticken und Problemlösung behindern. Notwendig ist jedoch eine politische Bildung, die Depolarisierungsfähigkeiten fördert, die Verständnis und Empathie zwischen Personen mit unterschiedlichen Standpunkten möglich machen. Es ist unerlässlich, junge Menschen mit Fähigkeiten auszustatten, die sie in die Lage versetzen, (diese) Spaltungen zu überbrücken und mit Anderen zivile Diskurse zu führen, mit denen sie möglicherweise auch nicht übereinstimmen. Die politische Bildung sollte darauf abzielen, eine Generation von Bürger*innen heranzubilden, die kritisch mit unterschiedlichen Perspektiven umgehen kann, anstatt sich auf ein „Wir gegen sie” und Ausgrenzung zu beschränken. In dem Projekt Depolarisation Activism for Resilient Europe (DARE) haben Partner*innen aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Deutschland, Serbien und Schweden, einen Beitrag zu diesem Anliegen geleistet. Das Projekt (2021 bis 2023) widmete sich der Schaffung eines kritischen Lernraums und eines von Jugendlichen geführten, handlungsorientierten Dialogs über verschiedene aktuelle Herausforderungen wie Polarisierung, Radikalisierung und Extremismus, Menschenrechtsverletzungen, Nationalismus sowie psychische Gesundheitsprobleme. Die gesellschaftliche Polarisierung geht einher mit der Wiederkehr von Konflikten in ihrer extremen Form. Die politische Bildung muss der wachsenden Präsenz von Konflikten und Gewalt entgegentreten. Junge Menschen müssen die Ursachen von Konflikten, die Mechanismen von Friedensschaffung und die Bedeutung der Diplomatie verstehen. Eine Integration von Konflikt- und Friedensbildung in den Lehrplan von Schulen ist daher entscheidend, um junge Menschen auszubilden und zu einer friedlicheren Welt beizutragen. 

Eine im Oktober 2023 in Sarajevo stattgefundene Konferenz, die passenderweise mit „Children as Peacemakers in Divided Societies” betitelt war, wurde von der International Association for Intercultural Association (IAIE) und dem War Childhood Museum (WCM) organisiert. Die Konferenz versammelte Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus ganz Europa und darüber hinaus. Sie präsentierte theoretische Forschung und inspirierende Praxiseinblicke, die sich für die Integration und Entwicklung von Friedensbildung in den formalen Lehrplänen Europas einsetzen. Angesichts des Anstiegs der konfliktbedingten Migrationsbewegungen und der Geflüchteten und Asylsuchenden in Europa ist die Notwendigkeit von Friedensbildung umso relevanter. Sie bildet eine Brücke der Empathie und des Verständnisses für „neue Europäer*innen” und sensibilisiert für die schwierigen Umstände, die zu ihrer Ankunft in Europa geführt haben. In den letzten Jahren haben mehrere Forschungsstudien vor der wachsenden Enttäuschung gewarnt, die junge Menschen mit Demokratie verknüpfen. Forschungsergebnisse von Dr. Roberto Foa (2020) weisen auf eine zunehmende globale Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand unserer Demokratie hin, insbesondere bei der jüngeren Generation im Alter von 18 bis 34 Jahren. Der im September 2023 veröffentlichte Bericht „Open Society Barometer: Can Democracy Deliver?“ zeigt, dass junge Menschen weltweit das geringste Vertrauen in die Demokratie haben (Generation Z und Millennials). Über 35% der Befragten zwischen 18 und 35 Jahren befürworten einen starken Führer, der Parlamente und Wahlen abschafft. Die Enttäuschung der jungen Menschen stellt eine Bedrohung für die Legitimität und Widerstandsfähigkeit der Demokratie dar. Sie verweist auf das schwindende Vertrauen der Jugendlichen in die Fähigkeit demokratischer Systeme, Versprechen einzulösen, Menschenrechte zu schützen und grundlegende Lebensstandards zu gewährleisten. Eine wichtige Ursache für diesen besorgniserregenden Trend ist das Gefühl vieler junger Menschen, dass ihre Stimmen nicht gehört werden und sich der Eindruck vermittelt, ihre Handlungsfähigkeit sei begrenzt. Diese Enttäuschung kann zu Desinteresse und Apathie führen, was eine Bedrohung vitaler demokratischer Gesellschaften darstellt. Um dem entgegenzuwirken, sollte politische Bildung darauf abzielen, ein Gefühl der Handlungsfähigkeit zu fördern und jungen Menschen zeigen, dass sie durch ihr bürgerschaftliches Engagement positive Veränderungen bewirken können. Die Entzauberung der Demokratie kann durch die Vermittlung der Vorzüge von Demokratie, die Stärkung der Beteiligungsprinzipien und die Betonung der Kraft kollektiven Handelns und aktiver Jugendbeteiligung bekämpft werden. 

Beispielhaft dafür steht das Trainingsprogramm „Civic Response-Ability”, das gegenwärtig vom Kroatischen Bildungs- und Entwicklungsnetzwerk für die Evolution der Kommunikation (HERMES) umgesetzt wird. Das Projekt zum bürgerschaftlichen Engagement umfasst die Etablierung einer Verpflichtung zum Wohl der Gemeinschaft, die Unterstützung von jungen Menschen bei ihrer aktiven Beteiligung als Bürger*innen und Gelegenheiten, um einen bescheidenen, aber deutlich spürbaren Einfluss auf ihre Gemeinden auszuüben. Ein weiteres Gelingensbeispiel ist das Projekt „Civic Europe“, das von 2020 bis 2023 in einem mehrstufigen Verfahren zur Stärkung zur aktiven Bürgerschaft in lokalen Gemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südeuropa entwickelt hat. Die Evaluation des Projektes hält dazu fest: „The Civic Europe program’s main characteristic was the diversity, scope and scale of interventions. As such, it constituted a unique ‘social laboratory’ of different forms of intervention, designed to inspire, strengthen and foster civic education, civic engagement and participatory democracy actions, initiatives and projects. […] The variety and diversity of methodologies applied in Idea Challenge winning projects constitutes a true kaleidoscope of civic engagement, civic education and civic cohesion-bolstering approaches.” (Civic Europe 2022) Projekte und Programme müssen öffentlichkeitswirksam verbreitet werden, da sie bürgerschaftliches Engagement inspirieren können und einen Gegenhorizont zur Enttäuschung der Jugendlichen ermöglichen. 

Methoden 

Wie aber können wir politische Bildung für junge Menschen interessanter und attraktiver gestalten? Ein erfolgreicher Ansatz ist der Einsatz von gamifizierten Simulationen. Sie bieten eine ansprechende Möglichkeit, in komplexe Konzepte und Szenarien einzuführen. Die Simulationen können reale politische Prozesse nachbilden und das Verständnis für Entscheidungsfindung, Verhandlungsführung und die Folgen unterschiedlicher Entscheidungen fördern. Durch kontextbezogene Rollenspiele können Jugendliche komplexe Zusammenhänge auf interaktive und einprägsame Weise erfassen. Ein Beispiel für eine äußerst erfolgreiche gamifizierte Simulation ist das Model International Criminal Court (MICC), das seit über 15 Jahren das Flaggschiff-Bildungsprogramm der Kreisau-Initiative e. V. bildet. Neben Ablegern wie dem Model International Criminal Court Western Balkans (MICC WeB), demonstriert das Projekt das transformative Potenzial außerschulischer (politischer) Bildung und vermittelt Wissen über das internationale Strafrecht, schwerste Verletzungen der Menschenrechte und den unermüdlichen Einsatz für Gerechtigkeit nach Kriegen. Etwas, das viele positive Beispiele für politische und staatsbürgerliche Bildung miteinander gemein haben, ist die Anwendung und Förderung von erfahrungs- und projektbasierten Lernmethoden. Durch praktische Erfahrungen und Aktivitäten können junge Menschen an realen Problemen arbeiten und ein tieferes Verständnis für gesellschaftliche Herausforderungen und Lösungen entwickeln. Diese Projekte fördern auch themenübergreifendes Denken, Kreativität und Anpassungsfähigkeit. Wenn junge Menschen aktiv an Projekten teilnehmen, die gesellschaftliche Probleme angehen, erlangen sie nicht nur ein tieferes Verständnis für diese Herausforderungen, sondern entwickeln auch Fähigkeiten zur Problemlösung und ein Gefühl der Verantwortung für ihre Rolle und ihren Beitrag zur Gemeinschaft. Darüber hinaus versuchen diese Projekte junge Menschen mit notwendigen Fähigkeiten aus dem 21. Jahrhundert auszustatten, zu denen kritisches Denken, effektive Kommunikation, Problemlösungsfähigkeit, Agilität und Anpassungsfähigkeit, Kreativität und Zusammenarbeit gehören (Wagner 2008). Formale Bildung wird oft dafür kritisiert, dazu keinen größeren Beitrag zu leisten. Außerschulische und außercurriculare Bildungsprogramme und -projekte befinden sich dann in der Situation, diese Lücke zu schließen. Es ist von entscheidender Bedeutung, junge Menschen darin zu unterstützen, gesellschaftliche Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Lebensweltrelevante Zugänge ermöglichen es jungen Menschen, ihre Fähigkeiten kooperativ mit Gleichaltrigen in praktischen Kontexten anzuwenden bspw. in lokalen Gemeinschaften, NGOs und Regierungsinstitutionen. Partnerschaften mit verschiedenen Interessengruppen stärken diese Perspektive und ermöglichen einen ganzheitlichen Ansatz zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen. Zusammenarbeit ist der Schlüssel von politischer Bildung zur Bewältigung der vielschichtigen Herausforderungen. Es ist von großer Bedeutung, dass Schulen, NGOs, der öffentliche Sektor und die Privatwirtschaft gemeinsam agieren und auch kooperieren, um ein breites Spektrum an Bildungsmöglichkeiten zu ermöglichen. Jeder dieser Akteure hat eine entscheidende Aufgabe bei der Sozialisation zukünftiger Wähler*innen und engagierter Bürger*innen. 

Perspektiven 

In der immer anspruchsvolleren Landschaft politischer und zivilgesellschaftlicher Bildung ist unsere Rolle als (informelle) politische Bildner*innen entscheidend wie noch nie. Die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, sind komplex und die Bedürfnisse und Interessen der Menschen entwickeln sich schnell weiter. In diesem Beitrag sollte deutlich geworden sein, wie wichtig es ist, Polarisierung durch den Aufbau von Depolarisierungsfähigkeiten der Menschen, die Stärkung der Friedenserziehung und das Wiedererwecken des Vertrauens der Jugendlichen in die Demokratie anzugehen, um zeitgenössische zivile und politische Herausforderungen zu bewältigen.


Literatur

Civic Europe (2022): Report. Key Success Factors. https://civic-europe.eu/liquid/https://civic-europe.eu/documents/32/Reflectory_Report_short_version_civic-europe_2022_small_2_4eIWtN2.pdf (abgerufen am 10.10.2023)

Foa, Roberto Stefan/Klassen, Andrew/Wenger, Daniella/Rand, Alex/Slade, Michael (2020): Youth and Satisfaction with Democracy: Reversing the Democratic Disconnect? Cambridge: Centre for the Future of Democracy. www.cam.ac.uk/system/files/youth_and_satisfaction_with_democracy.pdf (abgerufen am 3.5.2023)

Open Society Foundation (2023): Generational Shift: New Global Poll Reveals Large Minorities of Young People Lack Faith in Democracy to Deliver on Their Priorities. www.opensocietyfoundations.org/newsroom/generational-shift-new-global-poll-reveals-large-minorities-of-young-people-lack-faith-in-democracy-to-deliver-on-their-priorities (abgerufen am 25.10.2023)

Wagner, Tony (2008): The Global Achievement Gap: Why Even Our Best Schools Don’t Teach The New Survival Skills Our Children Need – and What We Can Do About It. New York

Die Autorin

Maja Nenadović ist Beraterin, Moderatorin, politische Bildungs- und Menschenrechtstrainerin. Sie ist Mitbegründerin des Kroatischen Bildungs- und Entwicklungsnetzwerks HERMES sowie von Reflectory, einem Beratungsunternehmen für Konflikttransformation, partizipative Demokratie, aktive Bürgerschaft und sozialen Zusammenhalt.

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