Demokratie entwickeln!

In der schon seit einiger Zeit konstatierten Krise der Demokratie plant der Gesetzgeber ein Demokratiefördergesetz, das sich auf die Finanzierung von Projekten ‚gegen rechts‘ konzentriert. Reicht das? Muss nicht unsere Demokratie umfassender weiterentwickelt werden?


In Deutschland tragen Gesetze traditionell Titel, die auf ihren Inhalt hinweisen. Waren diese früher meist bürokratische Wortungetüme, hat sich in den letzten Jahren ein Hang zu politischen Euphemismen eingebürgert, so etwa bei einem ‚Gute-Kindergarten-Gesetz‘ oder auch bei dem gegenwärtig beratenen Demokratiefördergesetz. Das konkrete Ziel dieses Gesetzesvorhabens ist es, dem Bund die Möglichkeit zu eröffnen, Fördermittel für die Bekämpfung extremistischer Bewegungen zu vergeben. Dass eine derartige finanzielle Förderung dazu beitragen kann, der bedrohten Demokratie zu mehr Resilienz zu verhelfen und gegen antidemokratische Strömungen zu sensibilisieren, steht außer Frage. Aber das mit Demokratieförderung gleichzusetzen, wie es der Titel nahelegt, ist vermessen und lenkt vom Kern des Problems ab.

In einem ersten Diskussionspapier, das die zuständigen Ministerien im Frühjahr 2022 dazu vorlegten, ging es zunächst nur um bürokratische Mechanismen. Im Referentenentwurf hingegen ist wenigstens die Einbettung in das größere politische Ziel erkennbar. Am 14.12.2022 wurde der Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet. Die FDP-Minis­ter meldeten Vorbehalte an. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 10.02.2023 nicht nur eine Bezugnahme zum Subsidiaritätsprinzip, sondern auch mehr zivilgesellschaftliche Teilhabe eingefordert. Vor der Sommerpause 2023 soll das Gesetz trotzdem schon in Kraft treten können. Ob der Wunsch in Erfüllung geht, den hochtrabenden Titel im Verfahren noch zu versachlichen, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls bleibt die Gefahr bestehen, dass zivilgesellschaftliche Akteur*innen zu Hilfstruppen des Ist-Zustandes degradiert werden. 


Echte Demokratieförderung sieht anders aus.



Echte Demokratieförderung sieht anders aus Die Bewältigung der Krise der Demokratie und die Stärkung ihrer Resilienz angesichts ihrer Geg­ner*innen von innen und von außen sind so dringend wie wichtig, haben aber noch nicht den Schub, den wir brauchen. Schon gar nicht darf dieses Gesetz dazu verleiten zu glauben, nun habe man alles notwendige getan. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Unsere Demokratie muss weiterentwickelt werden, wenn sie überleben will. In dem Zustand, in dem sie heute ist, ist sie nicht überlebensfähig. Die Krise unserer Demokratie ist einschneidender als alle anderen Krisen, an denen wir zur Zeit gewiss keinen Mangel haben. Sie ist brisanter, weil sie den meisten von uns am allerwenigsten bewusst ist – auch denen nicht, die die Demokratie eigentlich pflegen, hüten und entwickeln sollten. Formaldemokratische Verfahren und Fördertöpfe allein helfen uns in dieser Situation nicht weiter. 

Wir haben gesehen, wie Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und Donald Trump auf demokratisch ziemlich korrekte Weise gewählt wurden – und sich nach Kräften bemühen oder bemüht haben, die Demokratie zu beseitigen. Wir erleben andererseits, z. B. in Belarus und im Iran, wie eine aktive Zivilgesellschaft unter schwierigsten Bedingungen und gewiss ohne Fördergesetz für die Demokratie kämpft. Es liegt in unserem eigenen Interesse, gegen illiberale, autoritäre, populistische Herrschaftsformen weltweit, aber eben auch in Deutschland kraftvoll vorzugehen. Wenn wir das nicht tun, leisten wir nicht nur den Putins, Xis und Modis dieser Welt Vorschub; wir gefährden auch unser eigenes Gemeinwesen. Gewisss müssen wir auch dafür etwas tun, dass unsere Bürger*innen nicht populistischen, illiberalen Rattenfängern auf den Leim gehen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass unser freiheitliches Gemeinwesen nicht von innen durch Versagenstatbestände oder diffuse Argumentationen für die angeblichen Vorteile autoritärer Strukturen ausgehöhlt und damit zur leichten Beute ebendieser Rattenfänger wird. Ein Demokratiefördergesetz, das nur darin besteht, dass der Bund mehr Zuständigkeiten – und mehr Zahlungsverpflichtungen – erhält, um an Vereine Fördermittel vergeben zu können, ist insofern mehr als nur defizitär. Es ist eine gefährliche Selbsttäuschung. Es ist nicht alles in Ordnung mit unserem Gemeinwesen, wenn der Rechtsstaat nur noch dazu dient, das staatliche Recht gegenüber den Bürger*innen mit 350.000 gesetzlichen Vorschriften zu exekutieren, die Herrschaft des Rechts (the rule of law) denen, die das tun sollen, aber immer weniger bedeutet. Die Fälle von Machtmissbrauch, Bereicherung, Untreue, Bestechlichkeit und unverblümter Vertretung von Eigeninteressen häufen sich in der Politik, in der Staatsverwaltung und im gesamten staatsnahen Bereich. Wen wundert es, dass immer weniger Menschen Vertrauen in die bestehende Ordnung haben! Und: Nur noch 45 Prozent der Menschen in Deutschland glauben, dass man hierzulande seine Meinung frei äußern kann – von der Wahrnehmung abweichender Meinungen ganz zu schweigen. Die Meinungsbildung ist oft zum Geschäft degeneriert: Wer gut zahlen kann, kann seine Meinung durchsetzen. 

Zudem ist festzustellen, dass insbesondere Politik und Staatsverwaltung nicht nur versuchen, eigene Versäumnisse kleinzureden und zu vertuschen, sondern auch, das bürgerschaftliche Engagement und die Organisationen, in denen es sich – zu 80 Prozent – verwirklicht, ‚auf Linie zu bringen‘. Durch eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik, die Wohlverhalten mit Subventionen belohnt, andererseits aber einen ständig steigenden Wust von Vorschriften und Einschränkungen, Kontrollen und eine permanente latente Herabsetzung bereithält, nicht selten aber auch durch Diffamieren und Ignorieren. Unsere gewählten Mandatsträger verhindern das nicht, sondern unterstützen das zum Teil sogar aktiv. So nett deren freundliche Sonntagreden klingen, die das Ehrenamt loben, der Alltag sieht anders aus. 

Der Staat misstraut seinen Bürger*innen zutiefst. Kein Wunder, dass weniger als 50 Prozent unserer Mitbürger*innen dem Staat und seinen Einrichtungen, den Parlamenten, Parteien, Verwaltungen usw. ihrerseits noch vertrauen. 62 Prozent stimmen, wie die Körber Stiftung 2021 ermittelte, der Aussage zu: „Die führenden Leute in Politik und Medien leben in ihrer eigenen Welt, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung hinabsehen“ (Nida-Rümelin 2021: 11). Dass es in einer demokratischen Gesellschaft gar keine ‚Bevölkerung‘ gibt, sondern Bürger*innen, ist ihnen kaum bewusst. Wir sollten also nicht glauben, das Schlagwort vom Shrinking oder Contested Civic Space, vom schrumpfenden oder umkämpften bürgerschaftlichen Raum, sei etwas, das nur in autoritären Regimen wie China, Russland, Indien, Ägypten oder der Türkei aktuell ist. Und wenn wir gerade noch zu den 20 Prozent der Bürger*innen auf der Welt gehören, die in Gesellschaften leben, die im Wesentlichen als frei zu bezeichnen sind, ist das wahrlich kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. 

Die Krise des Gesellschaftsmodells, das wir eigentlich verwirklicht sehen wollen, ist also nicht in erster Linie von Extremist*innen verursacht, sondern beruht auf einer begründeten und weitverbreiteten Unzufriedenheit mit der offenen demokratischen Gesellschaft und einem immer tiefer sitzenden Misstrauen gegen die darin ausgeübte Macht. Die Bewältigung kann daher keinesfalls darauf reduziert werden, mit einer Fördergießkanne über das Land zu ziehen und Projekte zu fördern, die sich in einer bürokratischen Prüfung gegen Wettbewerber durchsetzen. Vielmehr muss sich ‚der Staat‘ an die eigene Nase fassen und erkennen, dass seine spät-hegelianische Überlegenheitsattitüde, der katastrophale Kompetenzverfall im öffentlichen Dienst und in staatsnahen Unternehmen und die Arroganz, Vertuschungsstrategien und Selbstbezogenheit der politischen Führung den geradezu ‚idealen‘ Nährboden für demokratiefeindliches Gedankengut bilden. Aus Verärgerung und Frust wächst, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat, die oft irrationale Suche nach radikalen Alternativen. Nicht zuletzt die politische Bildung muss sich mit dieser Realität auseinandersetzen und sich von manchen konventionellen Bildungsangeboten verabschieden. Infolgedessen geht es in der Demokratieförderung um erheblich mehr als um einen ‚Kampf gegen rechts’ oder die Stärkung von Einrichtungen, die sich diesem Kampf verschrieben haben, den man vielleicht besser als Kampf gegen Anti­demo­krat*innen bezeichnen sollte. Schon gar nicht geht es darum, dass möglichst viele Organisationen, nachdem sie gründlich auf ‚Zuverlässigkeit‘ geprüft worden sind und antragsfähige Projekte eingereicht haben, von einem finanziellen Nieselregen profitieren und zugleich dem ganzen komplexen Regelwerk und Einfluss des maroden Staates unterworfen werden.

In einer wichtigen Hinsicht allerdings enthalten die bisher bekannten Vorschläge einen richtigen Kern: An vorderster Front kämpfen tatsächlich Akteur*innen der Zivilgesellschaft für die Entwicklung der Demokratie oder besser gesagt für eine pluralistische, liberale, offene Gesellschaft – allen Diffamierungen und Herabsetzungen zum Trotz. Dass dies nicht alle Akteur*innen tun, ist zweifellos richtig, darf aber nicht als argumentative Waffe gegen die gesamte Zivilgesellschaft missbraucht werden, wie es Politik und Medien nicht selten gerne tun. Kaum jemand käme auf die Idee, das Konstrukt Staat an sich an den Pranger zu stellen, nur weil Nordkorea sicher keinen erstrebenswerten Staat darstellt. Auch die Wirtschaft kennt kriminelle Akteur*innen, lässt sich aber zu Recht nicht gern insgesamt als kriminell brandmarken. Insofern verdient Zivilgesellschaft gerade wegen ihres einzigartigen Beitrags zur Demokratieentwicklung mehr Aufmerksamkeit, als sie bekommt. Sie verdient eine kontinuierliche kritische Begleitung und einen öffentlichen Diskurs in der gleichen Art, wie sie Staat und Wirtschaft, aber auch Einzelthemen wie Wissenschaft, Kultur und Bildung erhalten. Viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen müssen dafür einen Lernprozess durchlaufen. Um ernst genommen zu werden, dürfen sie weder dauernd über sich selbst sprechen noch ständig ihre finanziellen Sorgen und Wünsche in den Vordergrund stellen. Sie müssen das, was sie zur Gesellschaft beitragen, artikulieren und argumentieren können. Aber auch ihre Gesprächspartner müssen dazulernen. Sie müssen verstehen lernen, dass die Zivilgesellschaft die treueste Partnerin ist, wenn es um die Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz von Minderheiten und die Freiheit der Religion und all die Komponenten geht, die eine offene, freiheitliche Gesellschaft tragen. Nur im engen Schulterschluss können Zivilgesellschaft und Staat für die Demokratie die notwendige Resilienz erzeugen. Denn ohne Zivilgesellschaft gibt es keine Demokratie, gerade weil und wenn ihre Akteur*innen unbequem und aufsässig sind. Sie sind die Hüter des Pluralismus, der die offene Gesellschaft jeder autoritären überlegen erscheinen lässt. Denn nur aus vielen Ideen und Kontroversen schält sich schließlich die weiterführende Idee heraus. 

Die Autor*innen des Koalitionsvertrags vom Dezember 2021 haben das im Prinzip verstanden. Schon am 19. Januar 2022 schrieb Lenz Jacobsen in der ZEIT: „Dass die Demokratie Hilfe braucht, glaubt auch die neue Koalition.“ Der Koalitionsvertrag hat dazu eine sehr viel engere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft festgeschrieben, als sich das frühere Bundesregierungen vorgenommen hatten. Sie haben neben dem Demokratiefördergesetz zwei weitere Vorhaben von großer Tragweite für die Demokratie angekündigt: eine neue Engagementstrategie und die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Diese Vorhaben gehören um so mehr zusammen, als das Demokratiefördergesetz kaum programmatische Ansätze enthält. Es wird also abzuwarten sein, ob die beiden anderen hier besser sind. Klar ist, dass eine Engagementstrategie für die 2020er Jahre mit einem Gemeinnützigkeitsrecht aus den frühen 1920er Jahren nicht zu realisieren ist. Nur im Verbund der drei Vorhaben und unter Beachtung der Vorgabe, sie mit der Zivilgesellschaft anzupacken, wird aus dem allzu simplen Versuch der Demokratieförderung durch Fördermittel die Demokratieentwicklung, die wir brauchen. 

„Warum“, fragt Jacobsen, „räumt [die Koalition] diesem fundamentalen Thema […] in Regierung und Bundestag nur eine Nebenrolle ein?“ (ebd.) Die Antwort, die man von dort bekäme, würde wohl lauten: „Der 24. Februar, die Zeitenwende, hat alles verändert.“ Das mag wohl so sein. Aber gerade in der Zeitenwende gilt es, sich auf das Grundsätzliche zu besinnen. Nicht jede Einzelheit aus der gemütlichen Zeit davor gilt es hinüberzuretten in die neue Zeit, sehr wohl aber das Fundament der Gesellschaft, in der wir leben wollen. Dieses Fundament neu zu erarbeiten, es zu vermitteln und dabei weiterzuentwickeln, das im Kern wäre Demokratieförderung. Dazu müssen allerdings Akteur*innen des Staates ihre eigene demokratische Zuverlässigkeit auf den Prüfstand stellen. Im Ergebnis müssen die Akteur*innen der Zivilgesellschaft nicht mehr nur Objekte der Regulierung, Kontrolle und allenfalls finanziellen Förderung, sondern Subjekte in einer Partnerschaft für Resilienz und gemeinsame Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft sein. Denn nur diese kann den Ideenreichtum generieren, den wir brauchen, um den vielen Herausforderungen zu begegnen, denen sich die Gesellschaft gegenübersieht.


Literatur
Jacobsen, Lenz (2022): Die Demokratie braucht Hilfe. In: DIE ZEIT. 

Nida-Rümelin, Julian (2021): Demokratie in der Krise – Ein Weckruf zur Erneuerung im Angesicht der Pandemie. Hamburg.

Der Autor

Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung, München, und leitet das Tocqueville Forum der Stiftung in Berlin.

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