Autoritäre Versuchungen im Spiegel zeitgeschichtlicher Einordnung

Es gibt eine Geschichte der autoritären Versuchungen. Welche waren für Sie in der Geschichte der Bundesrepublik von besonderer Bedeutung? 

Micha Brumlik (MB): Die Frage ist, wer einer solchen Versuchung ausgesetzt gewesen ist. Ich persönlich kann mich jedenfalls an derlei nicht erinnern. Soweit ich mich aber erinnern kann, war das vor allem die Situation nach der Ermordung einiger Personen durch selbst ernannte Stadtguerilleros wie Ulrike Meinhof und Andreas Baader und die darauffolgenden sogenannen „Antiterrorgesetze“ unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt im Jahre 1974 folgende. Damals bestand in der Tat die erhebliche Gefahr einer Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte. 

Wie würden Sie die aktuellen Entwicklungen beschreiben? Wer sind die Akteur*innen? 
MB: Dazu vorliegende Studien ergeben ein ambivalentes Bild. Zu einem demographisch verursachten Mangel an Zukunftsorientierungen und einer womöglich durch Einwanderung verursachten Schwächung historischer Erfahrung tritt eine wachsende Unzufriedenheit mit der aktuellen Form der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie. Das schlägt sich nicht nur in gelegentlich sinkenden Wahlbeteiligungen nieder oder in einer niedrigen Wertschätzung von Berufspolitiker*innen, sondern auch in öffentlichen Konflikten von Bürger*innen als Planungsbetroffenen und Steuerzahler*in­nen mit „der Politik“ – wofür der in der Aus­einandersetzung um „Stuttgart 21“ prominent gewordene Begriff der „Wutbürger“ ebenso steht wie der plötzliche Aufstieg und schnelle Niedergang der Partei „Die Piraten“. 

Woher kommen solche Phänomene und wer ist besonders anfällig? 
MB: Derlei Aufbegehren ist keineswegs nur positiv zu bewerten. So konnte eine Studie zeigen, dass jene, die sich an diesen Protesten beteiligen, einer genau umschreibbaren Gruppe meist älterer, bereits jenseits des Arbeitslebens stehender, in der Regel gut gebildeter Männer angehören – Männer, die einer technokratischen, expertokratischen Weltsicht anhängen und meist genau umschreibbare, partikulare Interessen folgen. Der pensionierte Diplomingenieur stellt die sprichwörtliche Verkörperung dieser Gruppe dar. Vor allem aber wirft die Überrepräsentation solcher Gruppen in den Protestbewegungen ein eigentümliches Licht auf den Protest bzw. seine Rolle und Funktion in parlamentarischen Demokratien heute. Tatsächlich erweist sich die mit diesen Bewegungen oftmals verbundene Idee der sog. partizipatorischen Demokratie als ein genau beschreibbares Projekt gehobener Mittelschichten, die über derlei Protestaktionen ihren Einfluss oftmals zuungunsten schwächerer Bevölkerungsgruppen geltend machen. Auf all diese Phänomene freilich, und das ist fast noch gravierender, reagiert ein erheblicher Teil der akademischen Politikwissenschaft und der politischen Philosophie mit Kritiken und Analysen, die ein schon eingetretenes Ende, einen Tod der Demokratie diagnostizieren. 

Wir leben – so eine These – in einer relativ stabilen Demokratie. Sind die Gefahren wirklich so groß und bedrohlich? 
MB: „Demokratie“, wie auch immer man sie im Einzelnen bestimmen und sich wünschen möge, beinhaltet mindestens als Kern, dass eine in ihren Absichten aufgeklärte, wenngleich keineswegs einmütige Bürgerschaft sich in geregelten Verfahren einen Willen bildet und diesen Willen dann in jenem Bereich, jenem Territorium, das sie oder ihre Organe effektiv kontrollieren, institutionell durchsetzt. Das jedenfalls war schon die Überzeugung Jean Jacques Rousseaus. Mit der Globalisierung und vor allem mit der kommunikationstechnisch verdichteten Öffnung der Märkte, der Finanzmärkte, an denen die von Demokratien zur Finanzierung ihres politischen, rechtlichen und sozialen Betriebs aufgenommenen Kredite gehandelt werden, scheint dieser Kern außer Kraft gesetzt worden zu sein. Allen Anstrengungen der politischen Organe der EU zum Trotz etwa wird um der Rettung eines institutionellen Arrangements – der Währung des Euro – willen zumindest in einzelnen Ländern der Wille des Volkes, der in diesem Fall oft genug mit dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung identisch ist, systematisch missachtet. 

Nun ist der politische Wille, sei er der einzelner oder kollektiver Personen, nie unbegrenzt wirksam gewesen. Vielmehr artikuliert sich subjektiver Wille immer und ausschließlich an Umständen oder anderen Willensbekundungen, an denen sich seine Reichweite und sein Durchsetzungsvermögen brechen können. Insofern – so könnte es scheinen – ist an der Beeinträchtigung des politischen Willens durch die Finanzmärkte nichts Neues. Kein Parlaments­beschluss konnte etwas dagegen ausrichten, wenn ein Land dem anderen den Krieg erklärte, keine Beratung und keine Gesetzgebung konnte – nur kurz vorher, wenn überhaupt – Naturkatstrophen abwenden. Politische Systeme – so ließe sich in der Sprache der Systemtheorie formulieren – befinden sich in Umwelten, mit denen sie zwar kommunizieren, die sie aber nicht effektiv kontrollieren können. Das gilt übrigens für alle Formen politischer Willensbekundung und -durchsetzung, seien sie nun diktatorisch, monarchisch oder eben „demokratisch“. In dieser Hinsicht scheint die ungeheure Empörung, die sich angesichts der vermeintlichen Unkontrollierbarkeit der Finanzmärkte breit macht, unbegründet und von einer seit jeher illusorischen Annahme getragen zu sein – nämlich, dass politisches Handeln mit der Ausbreitung rechts- und sozialstaatlicher Formen repräsentativer Demokratie im „Westen“ seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nur noch mehr oder minder kontrollierbare Randbedingungen vorfindet. Ein näherer Blick zeigt freilich, dass die Empörung weniger dem Umstand gilt, dass es unkontrollierbare Umstände wie Naturkatastrophen oder unverschuldete Kriege gibt, sondern dass sich die als unkontrollierbar erweisenden Umstände als ungeplante Nebenfolgen oder bewusst riskierte, d. h. in Kauf genommene, Folgen des eigenen politischen Handelns erweisen. Die damaligen Versuche der Regierungen der EU, durch Absprachen, Rettungsschirme sowie Ankäufe von Staatsschulden durch Zentral- und Notenbanken der Wirtschaftskrise Herr zu werden, lassen sich als verzweifelte Versuche verstehen, einen abwesenden Meister zu beschwören, eine Instanz, eine Macht, der es gelingen könnte, die selbst verursachten Wirkungen eigener Entscheidungen zu beenden. Das hat inzwischen der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck in seiner Studie „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Adorno 2013) akribisch nachgewiesen und damit zugleich die bohrende Frage gestellt, ob und wie es möglich sein soll, die scheinbar unaufhaltbare Entwicklung zu einer „marktkonformen Demokratie“ aufzuhalten und zu einem „demokratiekonformen Markt“ zurückzukehren. 

Dass in dieser Entwicklung zu einer marktkonformen Demokratie verbürgte de­mo­kratische Mitbestimmungsrechte der Parlamente womöglich verletzt werden, zeigen Auseinandersetzungen vor dem Bun­des­verfassungsgericht ebenso wie die Gründung einer neuen, unter anderem europakritischen Partei, deren Chancen zur Zeit ungewiss sind. Rettung der Handlungsfähigkeit des politischen Systems auf Kosten der Demokratie? Damit kommt ein zweites Element ins Spiel, das weniger das Steuerungsversagen des politischen Systems in Bezug auf seine „äußeren“ Umwelten ins Zentrum rückt als vielmehr den Umstand, dass das politische System selbst den gesetzten demokratischen Normen sowie der Verheißung auf allseitige Mitsprache und Vollmacht all jener, die diesen Normen zu folgen verpflichtet sind, nicht mehr gerecht wird. 

Als Stichwort kann hier – für den deutschen Kontext – der Begriff des „Wutbürgers“ gelten, für die USA – mit gänzlich anderen Inhalten – die „Tea Party“ sowie für Griechenland die oft gewaltsamen Demonstrationen. Freilich hat sich die Deutung und das theoretische Verständnis derartiger Phänomene und Bewegungen in den letzten dreißig Jahren stark geändert. Wurden derartige Phänomene in den siebziger Jahren noch als „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ – so ein berühmt gewordener Titel von Jürgen Habermas – analysiert, so gehen politische Theorie und politische Philosophie heute einen Schritt weiter und fragen nicht nur, sondern behaupten, dass es überhaupt nicht mehr um „Legitimationsprobleme“ geht, sondern dass sich tatsächlich ein bereits tiefgreifender, womöglich nicht mehr umkehrbarer Wandel vollzogen hat, nämlich der Wandel von der „Demokratie“ als politischer Herrschaftsform zur „Postdemokratie“ – so der Titel der die Debatte bestimmenden Schrift des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch (Crouch 2008). 

Was bedeuten solche Phänomene für die politische Bildung? 
MB: Um das zu beantworten, bedarf es eines genaueren Blicks auf die demographische Lage der deutschen Gesellschaft. Die deutsche Gesellschaft altert, der Anteil von Kindern und Jugendlichen gegenüber der erwachsenen, wahlberechtigten Bevölkerung nimmt ab und wird in absehbarer Zeit weiter abnehmen, weswegen Befürchtungen, dass politische Entscheidungen dadurch immer stärker auf die Bewahrung des status quo und zunehmend weniger auf die Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen setzen, keineswegs unbegründet sind.

Zugleich verändert sich die ethnische Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft massiv. Nicht nur ist die Bundesrepublik nach den USA unter allen Staaten das Land mit der höchsten Immigrationsrate, nein, mit einem Bevölkerungsanteil von bald 20 Prozent, der aus Immigrantenfamilien stammt, tatsächlich eine ‚multikulturelle‘ Gesellschaft – und das dem Umstand zum Trotz, dass der „Multikulturalismus“ als politisches Ziel weitgehend abgeschrieben ist. Mindestens für die großen Städte aber gilt und wird weiter gelten, dass heute und in absehbarer Zeit in Kindergärten und Schulen rund 50 Prozent ethnisch gesehen keine Deutschen mehr sein werden. Gleichwohl, tatsächlich hat sich in Deutschland inzwischen eine Art breitenwirksamer „Verfassungspatriotismus“ niedergeschlagen, was sich etwa darin zeigt, dass einer repräsentativen Umfrage aus dem Januar 2013 gemäß 85 Prozent aller Befragten den „Erhalt von Demokratie und Freiheit“ als wichtigsten Indikator für Wohlstand des Landes nannten, während nur 55 Prozent einen Abbau der Staatsverschuldung und nur 27 Prozent eine Steigerung der Lebenserwartung für besonders wichtig hielten (FAS vom 03.02.2013). 

Ohne Zweifel – das wurde im Januar des Jahres 2013 deutlich, als im Bundestag die neunzigjährige Holocaustüberlebende Inge Deutschkron anlässlich des achtzigsten Jahrestages der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 eine Rede hielt – hat die sehr zögernd beginnende, sich dann in bald sechzig Jahren allmählich steigernde Ausein­andersetzung der deutschen Gesellschaft mit dem Holocaust das Bewusstsein für die Prinzipien des Grundgesetzes gestärkt. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist und es in der moralischen Verantwortung aller Bürger*innen des Landes liegt, dieses Prinzip zu beachten und zu achten, wurde in der Geschichte der Bundesrepublik durch eine immer intensivere Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen, quantitativ und qualitativ kaum vorstellbaren Gräueltaten mitbewirkt. Taten also, an denen deutlich wird, was es heißt, dass diese Würde verletzt wird. Ohne dass es bei alledem in den letzten Jahren – anders als in den Anfangsjahren der Bundesrepublik – noch um die Frage einer möglichen Kollektivschuld ging, wurde doch deutlich, dass angesichts dieser Vergangenheit eine staatsbürgerliche Verantwortung besteht; eine Verantwortung, aus der in der Bundesrepublik, in Europa und in der Welt insgesamt eine besondere Sensibilität, ein besonderes Eintreten für die Menschenrechte erwächst. Was aber, wenn man es mit einem zunehmenden Anteil an künftigen Staatsbürger*innen zu tun hat, deren Familiengeschichte überhaupt keine oder – wenn überhaupt – nur schwache Verbindungen zur NS-Zeit aufweist? Einfach deshalb, weil ihre Eltern und Großeltern, gar ihre Urgroßeltern nicht aus Mitteleuropa, sondern von den westlichen oder östlichen Rändern des Mittelmeers nach Deutschland einwanderten (Georgi 2003)? Lässt sich mühsam genug errungene his­torische Sensibilität durch Schulunterricht erreichen? 

Das Interview führte Benno Hafeneger für das Journal.


Literatur
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Berlin. 

Frankfurter Allgemeine Zeitung am Sonntag (FAS) (2013) vom 03.02.2013.

Georgi, Viola (2003): Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg. 

Koschorke, Albrecht (2013): Frankfurter Adorno Vorlesungen. Berlin.

Streeck, Wolfgang (2015): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin.

Im Interview

Micha Brumlik ist emeritierter Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Publizist mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte des Judentums und zeitgenössischen jüdischen Themen. Er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. die Buber-Rosenzweig-Medaille.

Micha Brumlik diskutiert in diesem Interview historische Entwicklungslinien autoritärer Versuchungen und macht dafür drei einander wechselseitig verstärkende Tendenzen aus: 1. das relative quantitative Abnehmen der Jugend an der Wahlbevölkerung, 2. das nachlassende historische Bewusstsein sowie 3. die Erosion der Demokratie in ihrer herkömmlichen und vertrauten Form.

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