Ausgeklammert

Es braucht einen kritischen Blick auf den aktuellen Bildungsbericht, der von der Kultusminister­konferenz und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung verantwortet wird. Stein des (kritischen) Anstoßes ist keineswegs nur die Nichtbeachtung der politischen Bildung im Bericht, sondern auch seine ideologische Tendenz.

Niemand würde ernsthaft die Leistungen der Bildungsberichterstattung seit PISA in Abrede stellen. Die quantitativ ausgerichtete empirische Bildungsforschung hat zu konstruktiven Veränderungen insbesondere im deutschen Schulwesen beigetragen und komplexen bildungspolitischen Entscheidungen eine rationalere Grundlage verschafft. Verdienstvoll ist die Entscheidung der Macher*innen des aktuellen Bildungsberichts, diesmal die pädagogischen Praktiker*innen in fast allen Teilen des Erziehungs- und Bildungssystems in den Mittelpunkt der Dokumentation zu stellen – also jene Personen, die die tagtägliche Arbeit verrichten und damit verbunden Verantwortung tragen. 

Wer als Mitarbeiter*in der politischen Bildung nach Zahlen, Daten und Fakten seines angestammten Bereichs sucht oder an der beruflichen Lage der Fachkräfte interessiert ist, wird jedoch enttäuscht. Die institutionell angelegte Marginalisierung der politischen Bildung scheint sich in der Selektivität des Bildungsberichts – sprich: in ihrer schlichten Nichtbeachtung (!) – zu reproduzieren. Die Ausklammerung eines für den Fortbestand unserer Demokratie strategisch wichtigen päda- gogischen Subsystems mutet in doppelter Weise bizarr an. Wenn im aktuellen Bericht das Untersu­chungsfeld in Richtung non-formale Bildung erweitert und eine Lebenslaufperspektive eingenommen wird, läge es dann nicht auf der Hand, der politischen Bildung deutlich mehr Beachtung zu schenken? Große Teile des institutionellen Tableaus, wie etwa die Arbeit von Akademien oder der Landeszentralen für politische Bildung gehören ja schließlich eindeutig zur Sphäre des non-formalen Lernens. Hinzu kommt, dass das organisierte, didaktisch flankierte Lernen in Maßnahmen der politischen Bildung nachweislich über die gesamte menschliche Lebensspanne verteilt ist. Man denke hier nur an partizipativ orientierte Programme in Kindereinrichtungen oder politische Zeitzeugenprojekte mit Senior*innen. 

Ob die hier skizzierte Selektivität des Berichts bei den Auftraggeber*innen auf positive Resonanz stößt, mag mit Fug und Recht bezweifelt werden – stellt doch gerade die politische Bildung in den letzten Jahren finanziell einen durch die öffentliche Hand außerordentlich stark alimentierten Sektor dar. Dem/Der Staatsbürger*in stellt sich an dieser Stelle die Frage, warum die politische Bildung in der Bildungsberichterstattung nicht vorkommt, wo doch die öffentliche Hand nicht nur beachtliche Ressourcen, sondern auch ein gesteigertes Interesse an ihr hegt. Die Bundes- und Landesprogramme zur Prävention von Extremismus stellen diesbezüglich nur eins von mehreren Symptomen für die Bereitschaft dar, ‚ordentlich Geld in die Hand zu nehmen‘. Diese Programme und ihre aktuelle Perspektive einer dauerhaften Verankerung in einem Demokratiefördergesetz werden allerdings sowohl aus der Zivilgesellschaft (vgl. Beitrag Strachwitz in dieser Ausgabe) als auch aus der politischen Bildung wegen ihrer starken staatlichen Steuerung und der sicherheitspolitischen Indienstnahme von Bildungsarbeit eher sehr kritisch diskutiert.

Die Ausklammerung der politischen Bildung wirkt allerdings nicht nur unter einem bildungs- und wissenschaftspolitischen Kalkül irritierend. Unter einem fachlichen Blickwinkel liefert der Bericht Motive, ihn zu einem politikwissenschaftlich-ideologiekritischen Untersuchungsgegenstand sui generis zu erklären. Genau betrachtet zeigt uns der Bildungsbericht nämlich mit reichhaltigem Anschauungsmaterial, wie ideologische Stilelemente die Präsentation wissenschaftlicher Befunde überformen, durchdringen, ja vielleicht sogar kontaminieren können, ohne dass der Laie/die Laiin dies – selbst auf den zweiten Blick – zu registrieren vermag. In Diskussionen mit Vertreter*innen der Bildungsberichterstattung ist immer wieder das Argument zu hören, man dokumentiere ja nur, was ohnehin in den einschlägigen Statistiken an Information vorhanden sei; man füge unter festgelegten Rubriken (Bildungsbeteiligung, Bildungseinrichtungen, Bildungsfinanzierung usw.) gleichsam nur die ohnehin verfügbaren Tatsachen in Gestalt nackter Zahlen zusammen, sodass ein möglichst vollständiges Gesamtbild des Bildungswesens entstehe. Kurz: Man sei nicht mit der Generierung von wissenschaftlichen Befunden, sondern nur mit deren Kollektion, Aufbereitung und Übermittlung betraut. Ganz abgesehen davon, dass das Autoren*innenteam keineswegs nur auf statistische Daten zurückgreift, sondern an vielen Stellen auch auf Literatur (vorzugsweise aus dem eigenen Umfeld), blendet es sowohl den politischen Legitimationsdruck als auch die Priorisierung des technisch-instrumentellen Erkenntnisinteresses einfach aus. Von einer Wissenschaft im „Zeitalter des nachmetaphysischen Denkens“ (Jürgen Habermas) muss man aber erwarten, dass genau das reflektiert wird.

Mit dem Gestus des Understatements – man betreibe ja keine eigene Forschung und gehe ausschließlich von klar objektivierbaren Indikatoren aus – wird die Fassade einer neutralen Wissenschaft hochgehalten, wobei sogar jene, die diesen Eindruck kultivieren, sehr genau wissen, dass es sich dabei nur um eine Schimäre handelt. Das Autor*in­nenteam suggeriert die Einnahme eines epistemologischen Standpunktes, der dem eines Naturwissenschaftlers entspricht, der gerade dabei ist, aus vielen Käfersammlungen eine einzige anzulegen. Dabei ist die Idealisierung vorherrschend, dass der/die Forscher*in mit dem Gegenstand der Untersuchung (den Käfern) nichts, aber auch gar nichts zu tun habe und ausschließlich einem kühlen Tatsachenblick verpflichtet sei. In Wahrheit sind das leicht widerlegbare Unterstellungen, denn spätestens, wenn es im Bericht um den Abgleich der erwarteten und bei den diversen pädagogischen Berufsgruppen tatsächlichen Kompetenzprofile geht, müssten die beteiligten Forscher*innen ein­gestehen, dass sie als Mitglieder des universitären Lehrkörpers selbst einen gewissen Anteil an dem mal hoch, mal niedrig eingestuften Qualifikationsbedarf haben. Wir Profes­sor*innen der Erziehungswissenschaft, der pädagogischen Psychologie und der Bildungssoziologie können nicht Aussagen über das Wissen und Können der pädagogischen Praktiker*innen machen und gleichzeitig so tun, als hätten wir mit alledem nichts zu tun. Tragender Bestandteil der Ideologie des Natio­nalen Bildungsberichts ist somit die Hintergrunderwartung, dass man als empirische*r Bil­dungs­forscher*in nur als Beobachter agiere und kein Teilnehmer sei. Das ist aus den unterschiedlichsten Gründen falsch, untersuchen die beteiligten Bildungsforscher ja schließlich auch die deutschen Hochschulen, also – wie vermittelt auch immer – ihren eigenen Arbeitsplatz. 

Auch kann die schier unangreifbar wirkende empirische Bildungsforschung folglich nicht so tun, als hätte es den Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften nie gegeben. Eine an dieser Stelle leider nicht mögliche Detailanalyse würde den Nachweis erbringen, dass an einer Vielzahl von Stellen des Berichts ideologische Versatzstücke oder gravierende Fehler zu finden sind, wie die folgenden Beispiele zeigen: Der Gegenstandsbereich des Berichts, also das Bildungswesen/Bildungssystem, wird an keiner Stelle präzise definiert. Die implizite Annahme, dass die von Land und Bund, vom ‚Ausland‘ und ‚privaten‘ Quellen fließenden Geldmittel den tatsächlichen Ressourcen entsprechen, entspricht nicht den Tatsachen (es fließen deutlich mehr Geldmittel ins System). Es erfolgt nicht nur eine Reformulierung, sondern auch die Eingemeindung des klassischen Bildungsbegriffs durch die pädagogische Psychologie und damit eine nahezu vollständige Entsorgung emanzipatorischer Potenziale. Es zeichnet sich eine Art Universalisierung des Kompetenzansatzes ab, da er sowohl auf die Ziel- und Adressatengruppen als auch auf das pädagogische Personal übertragen wird, sodass die Gefahr der Infantilisierung der pädagogischen Fachkräfte droht. Die Vorschulerziehung wird fälschlicherweise als Element der formalen Bildung ausgewiesen. Zudem werden eine Vielzahl von Statistiken zu Rate gezogen, ohne dass das Autor*innenteam die unterschiedliche Qualität der Daten berücksichtigen und den Entstehungskontext in Betracht ziehen würde. Darüber hinaus wird die Bildungsarbeit der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik vollständig ausgeblendet und last but not least werden die pädagogischen Berufsgruppen wie Säulen behandelt, ohne dass die hoch entwickelte Forschungstätigkeit zur Netzwerkbildung und zur Kooperation berücksichtigt wird. Die hier postulierte Ideologielastigkeit dürfte in allerletzter Konsequenz auf dem Spannungsverhältnis zwischen Gegenstandskonstitution und methodologischer/methodischer Ausrichtung beruhen: So lässt sich der Objektbereich der Bildung – und die hier inkorporierte Subjektivität und Individualität – schließlich nur schwer mit verteilungstheoretisch angelegten statistischen Verfahren angemessen erschließen.

Der Nachweis der hier aufgezeigten wissenschaftlichen Blindstellen und Defizite einerseits und die Beschwerde, dass die politische Bildung als Institution im Bericht nicht vorkommt andererseits, sollten aus meiner Sicht getrennt voneinander diskutiert werden. Die wissenschaftsimmanenten Schwächen sind also m. E. streng von den genuin politischen Implikationen i. e. S. zu trennen. Würde man anders vorgehen und die beiden Ebenen unreflektiert vermischen, so käme das der Wiederholung eines Fehlers gleich, den man dem Bildungsbericht zuvor berechtigterweise angelastet hat. Bleibt eigentlich nur als Resümee übrig: Der Bildungsbericht 2022 kann von Vertreter*innen der politischen Bildung aufgrund seiner Qualität nur bedingt als Quelle bildungspolitisch relevanter Tatsachenrecherchen genutzt werden. Er eignet sich viel eher als Material für ideologiekritische Untersuchungen, die genau das leisten müssten, was die Erziehungswissenschaft in den letzten Jahren versäumt hat: Der quantitativ orientierten empirischen Bildungsforschung einen Spiegel vorzuhalten.

Literatur
Der von der „Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung“ herausgegebene Bericht „Bildung in Deutschland 2022“ trägt den Titel „Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal“ und ist als Download zu finden unter: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/pdf-dateien-2022/bildungsbericht-2022.pdf

Der Autor

Prof. Dr. Dieter Nittel, Hochschullehrer und bis zur Pensionierung 2020 Leitung des Arbeitsbereiches „Erwachsenenbildung und Weiterbildung“ an der Goethe-Universität, Frank­- furt/M. Danach Gastprofessor an der Fernuniversität Hagen, Lehr­- aufträge an der JKU Linz und der Universität Magdeburg

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