Aufwachsen in Krisenzeiten

Die aktuellen Geschehnisse und gesellschaftlichen Entwicklungslinien in einer Zeit epochaler Krisen berührt auch das Aufwachsen junger Menschen. Klima, Pandemie und Krieg prägen ihre Erfahrungswelten und führen sozialisationsbedingt zu neuen generativen Begrifflichkeiten und Bildern. Jugendliche wachsen im Dauerkrisenmodus und ohne beruhigendes Stabilitätsgefühl auf. Wie diese Erfahrungen ihre Zukunft beeinflusst, bleibt abzuwarten.


Ein rekonstruierender Blick in die Geschichte der jungen Generation zeigt die triviale Erkenntnis, dass diese jeweils mit ‚ihren‘ zeitbezogenen Themen und Fragen, Problemen und Krisen – mit ihrer Wirklichkeit – konfrontiert ist. Sie wird in ‚ihre‘ Zeit hineingeboren und kann sich ihre Jugendzeit nicht aussuchen. Dabei nimmt in der Generationenfolge mit der Digitalisierung der Welt die heutige junge Generation ‚rund um die Uhr‘ an ‚ihrer Zeit‘, am Weltgeschehen und den Krisen in einer prekären Weltordnung teil. Damit ist sie gezwungenermaßen – ob sie will oder nicht – in erschütternde, epochale Krisen sowie Risiken eingebunden.

Epochale Krisen
Es wäre interessant zu rekonstruieren, welche zeitbezogenen und bedeutsamen Erfahrungen und Deutungen, Begriffe und Bilder die jeweilige junge Generation beeinflusst und dominiert haben. Schon immer waren sie zeitbezogen mit nationalen und internationalen Krisen konfrontiert.


Generative Erfahrungen in medialer Dauerpräsenz



Diagnostiziert werden für unsere Epoche, die mehr meint wie die Transformationsprozesse moderner Gesellschaften, mehrere Krisenphänomene und externe ‚Schocks‘ gleichzeitig: Klimawandel und Zerstörung der Biodiversität; geopolitische Risiken und regionale Kriege sowie vor allem der als Zivilisationsbruch zu verstehende Angriffskrieg gegen die Ukraine; soziale Spaltungen und die Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln; Migration durch Kriege, Klimawandel und Armut und dann die Covid19-Pandemie mit ihren Folgen. Dies sind generative Erfahrungen in einer medialen Dauerpräsenz, mit denen Jugendliche umgehen und die sie verarbeiten und deuten müssen. Sie haben in Jugendstudien bei den Nennungen von Ängsten und Sorgen eine große Bedeutung.

Drei Erfahrungswelten
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, in welcher Zeit die heutige junge Generation aufwächst, mit welchen Erfahrungen und Entwicklungen, Themen, Begriffen und Bilderwelten sie konfrontiert sind.

1. Die vielfältigen Erkenntnisse und die erfahrbaren Folgen des Umgangs mit der Biosphäre und des Klimawandels. Hier sind die Zukunftsszenarien und Handlungsaufforderungen vom Weltklimarat wiederholt dokumentiert und von Fridays for Future auf die Straße getragen worden (vgl. Haunss/Sommer 2020, Lichtberger 2021).

2. Zahleiche Studien belegen die vielfältigen schulleistungsbezogenen, materiellen, psychischen, psychosozialen und kommunikativen Folgen sowie (langfristigen) Auswirkungen der Corona-Pandemie. Das gilt für alle Lebensbereiche der jungen Generation wie Kita, Schule und Hochschule, Familie, Freizeit, Sport, Jugendarbeit und Kultur. Es war u. a. eine Zeit sich verschärfender Verunsicherung und Ohnmachtsgefühle. Das zeigen differenzierte Erkenntnisse zur Krisenbewältigung mit Blick auf die junge Generation, die in der Diskussion zu den einschränkenden ‚Maßnahmen‘ zunächst kaum eine Rolle gespielt hatte und nicht gefragt wurde (vgl. Hafeneger 2021; Gravelmann 2022; Andresen et. al. 2022; Butterwegge 2022).

3. Die kaum vorstellbaren und für unmöglich gehaltenen Kriegsszenarien erschienen zunächst weit weg. Der Überfall auf die Ukraine, der Angriffs- und Vernichtungskrieg war ein ‚Realitätsschock‘ für die Bundesrepublik und Europa. Aber weder nach der Besetzung von Teilen Georgiens, der Krim, dem hybriden Krieg im Donbass, dem russischen Truppenaufmarsch an der Grenze sowie den ideologischen Bekundungen wurde der Schluss gezogen, ein solcher Angriff werde tatsächlich stattfinden. Der Krieg ist der Abschied von einer regelbasierten europäischen Grund- und Sicherheitsordnung. Die bisherigen Gewissheiten des friedlichen Zusammenlebens gelten nicht mehr und wurden destruiert (Sapper/Weichsel 2022; Plokhy 2022: vgl. zu den Narrativen Russlands: Schlögel 2022).

Begriffe und Bilder
Im Alltag der heutigen jungen Generation haben neue klimatologische, medizinische und militärische Begriffe in die öffentliche, familiäre und pädagogische Kommunikation Einkehr gehalten. Die junge Generation wird begriffs- und bildgeschichtlich sozialisiert, sie kann den jeweiligen Krisenbegriffen und -bildern, dem öffentlichen Reden, der medialen Dauerpräsentation in digitalen Zeiten und der Kommunikation in ihrem sozialen Umfeld kaum entgehen.

1. Es sind für den Klimawandel Begriffe und Bilder wie Biodiversität und Artensterben, Treibhausgas CO2, dann die unterschiedlichen Wetter­extreme, fossiles Zeitalter, „Kipppunkte“ sowie Begriffe für lokale, regionale Ereignisse.

2. Mit der Pandemie waren es u. a. Begriffe und Bilder zu Corona und Covid19, den Varianten wie Omikron und ab Mitte 2022 den unterschiedlichen Subvarianten (BA.1 bis BA.5), weiter waren es Begriffe wie Inzidenz, Hotspot, Long Covid oder PCR-Test, dann im Partizip perfekt: getestet, geimpft, geboostert und genesen. 

3. Die Pandemiebegriffe wurden dann mit dem Angriffs- und Vernichtungskrieg von Russland gegen die Ukraine abgelöst von militärischen Begriffen und Bildern aus der Kriegsbericht­erstattung. Dazu zählen die immer wieder aktualisierten grausamen Berichte über Kampfhandlungen, Gewalt und Tod, Vergewaltigung und Flucht, über zerstörte Orte und Städte. In Echtzeit sind wir zum ‚Kriegspublikum‘ geworden und machen ‚mediale Kriegserfahrungen‘. Neu ist das Kriegsvokabular und sind militärische Begriffe: So ist etwa die Rede von Panzer- und Raketentypen/-werfern wie Leopard-2 und Gebhard, vom T-64- und T-72-Kampfpanzer oder Bataillon, Rohrartillerie oder Haubitze, Flugabwehr.

‚Krieg‘ in Jugendstudien
Die mehr oder weniger seriösen Sorgenbarometer und Daten aus demoskopischen Befragungen, mit denen gegenwärtige Lebensgefühle und Stimmungslagen der jungen Generation abgefragt werden, zeigen ein uneinheitliches Bild. Erste Studien zeigen im ersten Halbjahr 2022, das neben sozialer Zukunftsungewissheit die Kriegsangst und Klimaangst in den Sorgen- und Angstbenennungen dominieren. 

1. Nach der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ (2022) machten sich Mitte des Jahres 2022 86 Prozent der jungen Generation im Alter von 14 bis 29 Jahren Sorgen um ihre Zukunft. 68 Prozent haben Angst vor dem Ukrainekrieg und dass dieser sich in Europa ausweiten könnte (46 Prozent). Es folgen mit 55 Prozent die Sorge und Angst vor dem Klimawandel. Für die befragten 14 bis 29-Jährigen hat die dominierende Kriegsangst die anderen Krisen und Ängste nicht verdrängt. 

2. Nach der im Juli 2022 publizierten TUI-Studie „Junges Europa“ (2022) fühlt sich die junge Generation durch den Klimawandel und den Angriffskrieg gegen die Ukraine am stärksten bedroht. Mehr als 60 Prozent der jungen Europäer nehmen den Krieg als „Zeitenwende“ wahr. Dabei gehen die Befürchtungen in den einzelnen Ländern etwas auseinander. 

3. In einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zu „Einstellungen und Sorgen der jungen Generation Deutschlands“ (2022) bereiten Mitte des Jahres 2022 neben den „Wohlstandsverlusten“ vor allem „Krieg“ und „Klimawandel“ die meisten Sorgen: „Mehr als die Hälfte der befragten Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren äußerte durch den Ukraine-Krieg bei ihnen ausgelöste Angst- und Trauergefühle. Ebenso viele fürchten ein Übergreifen des Kriegsgeschehens und 55 Prozent wandten sich gegen eine stärkere deutsche Einmischung“ (ebd.: S. 9).

4. Eine repräsentative Studie zu „Einstellungen Jugendlicher zum Krieg in der Ukraine“ (Leipzig 2022) – gefragt wurden junge Menschen im Alter von 16 bis 29 Jahren – kommt u. a. zum Ergebnis, dass „der Großteil der jungen Menschen in Deutschland die Verantwortung für den Krieg deutlich bei Russland sieht“ (S. 3). Das gilt auch für die Befürwortung von Sanktionen im Rahmen der EU. Hingewiesen wird auf die Empfänglichkeit von Verschwörungs­erzählungen, denen ein Siebtel zustimmt. Mit Blick auf die Rolle Deutschlands im Krieg hat die Wahrung deutscher Interessen eine große Bedeutung. So heißt es in der Studie: „Maßnahmen zur Wahrung deutscher Interessen erhalten eine stärkere Zustimmung je älter die Befragten sind, je ländlicher sie leben, je „niedriger ihr Schulabschluss oder ihre aktuelle Schulform und je weniger sie sich zugehörig fühlen“ (S. 6). 

Erfahrungsverarbeitung 
Einerseits schwinden mit Blick auf die Krisenentwicklungen generell der Zukunftsoptimismus und das -vertrauen. Danach kann die Stimmungslage in der jungen Generation – und der Bevölkerung generell – als eine Gefühlsgemeinschaft charakterisiert werden, die vielschichtig ist: Pragmatisch und konstruktiv, besorgt und ängstlich, unsicher und ihrer Zukunft ungewiss. Das Vertrauen darauf, dass die Gegenwart eine Zukunft hat und es immer so gewohnt weitergehe wie bisher, erodiert. Die Mehrheit blickt pessimistisch in die Zukunft. Mehr als zwei Drittel der jungen Generation sind nach der Befragung der Vodafone-Stiftung unzufrieden oder sehr unzufrieden mit der Politik. 

Zuversichtlich in die Zukunft?! 


Andererseits zeigen die Studien, dass die meisten jungen Menschen – trotz Ängsten und Sorgen – mit ihren Lebensumständen zufrieden sind und zuversichtlich in die eigene (nicht die gesellschaftliche) Zukunft blicken. Wir haben es mit einer krisenerfahrenen (bis hin zu einer krisenresistenen), pragmatischen und kompromissorientierten Generation zu tun, die in der Lage ist mit den Belas­tungen umzugehen und die Herausforderungen anzunehmen. Für die heutige junge Generation gilt, dass sie von den Krisenentwicklungen nicht gelähmt, sondern durch ihre Bedingungen des Erwachsenwerdens und ihre Lebenswirklichkeit krisensozialisiert und -erprobt ist. 

Krisenerprobt 


Krisen gehören zu ihrem beständigen Begleiter und sind eingebunden in die Ambivalenzen ihres wirklichen Lebens, in dem sie ihre Lebensthemen zugleich mit Zuversicht, Lebensfreude und Engagement zu bewältigen versuchen. Hier zeigen sich Muster des Umgangs mit sich selbst und den Krisen, die mit Demokratiebewusstsein, Disziplin, Verantwortung für die Zukunft und Selbstregulation verbunden sind. Diese ambivalente Stimmungslage kann als ‚Seismograph‘ und ‚Brennglas‘ der Gegenwart gesehen werden. Sie verweist gleichzeitig auf den ‚Sinn‘ der Jugendzeit, nämlich auf ihrem Jugendleben zu bestehen.

Neuer Sozialisationsmodus 
In Zeiten von tiefgreifenden Krisen und Katastrophen gelten die bisherigen Gewissheiten und Sicherheiten sowie die alte Normalität nicht mehr. Zu einer neuen Wirklichkeit werden ein anhaltender Krisenmodus bzw. sind hintereinander auftretende oder durch die globalen Vernetzungen miteinander verkettete Krisen im Dauerzustand. Wir sind in einer langen Phase des chaotischen und gefährlichen Übergangs und epochaler Umwälzungen. Die zukünftige Weltordnung wird als Zeitalter des Anthropozäns angesichts globaler Krisen eine „Konfliktordnung“ sein. Krisen werden zugleich zu einem Dauermodus von Politik. Es ist die Rede von der „Krise des Lebens auf der Erde“ (Scheidler 2022), verbunden mit dem Gefühl, dass das gelebte Leben so „irgendwie“ nicht weitergehen kann und der unspezifischen Forderung nach einem grundlegenden Kurswechsel unserer Wirtschafts- und Lebensweise. 

Für die junge Generation droht eine Krisenpermanenz, ein Aufwachsen und Leben im Krisenmodus. Sie muss sich geradezu auf ein ungewisses Leben ohne beruhigendes Stabilitätsgefühl einstellen. Das ist der neue Sozialisationsmodus der heutigen jungen Generation. 

Offen und abzuwarten bleibt, wie bedeutsam und prägend die Krisenerfahrungen, die jeweiligen Begriffe und Bilder für die junge Generation werden, wie sich ihre Wahrnehmungsweisen der Welt verändern und welche Wirkungen sie in den gesellschaftlichen Prozessen hervorrufen. Die aktuelle Situation ist, dass es (noch) an plausiblen Bildern, sich in einer fluiden Welt eine Zukunft auszumalen, fehlt. In weltgesellschaftlicher Perspektive wird es darauf ankommen, ob es den folgenden Generationen gelingt, der Gesellschaft ein aufgeklärtes Bewusstsein ihrer selbst zu geben, der Selbstzerstörung entgegenzuarbeiten und Handlungs­optionen Wirklichkeit werden zu lassen. Die Entwicklung und Zukunft einer Gesellschaft und der Demokratie hängt weiter im Wesentlichen davon ab, inwieweit ihr die „soziale Weitergabe“ (Tomasello 2015) ihrer Errungenschaften gelingt.


Literatur
Andresen, Sabine et. al. (2022): Verpasst? Verschoben? Verunsichert? Junge Menschen gestalten ihre Jugend in der Pandemie. Hildesheim.

Butterwegge, Christoph (2022): Die polarisierende Pandemie. Weinheim.

Gravelmann, Reinhold (2022): Jugend in der Krise. Die Pandemie und ihre Auswirkungen. Weinheim.

Hafeneger, Benno (2021): Jugend und Jugendarbeit in Zeiten von Corona. Frankfurt am Main. 

Haunss, Sebastian / Sommer, Moritz (Hg.) (2020): Fridays for Future. Die Jugend gegen den Klimawandel. Bielefeld. Lichtberger, Bernhard (2021): Unser Planet im Klimawandel. München.

Plokhy, Serhil (2022): Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konfliktes wurde. Hamburg.

Sapper, Manfred / Weichsel, Volker (2022): Osteuropa. Krieg gegen die Ukraine. Propaganda, Verbrechen, Widerstand. Berlin. Scheidler, Fabian (2022): Der Stoff, aus dem wir sind. München.

Schlögel, Karl (2022): Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Berlin. 

Tomasello, Michael (2015): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Berlin. TUI-Stiftung: Junges Europa 2022. Online abrufbar: https://t1p.de/2hk35 (abgerufen am 9.12.2022)

Bertelsmann-Stiftung: Was bewegt die Jugend in Deutschland? Einstellungen und Sorgen der jungen Generation Deutschlands. Online abrufbar: https://t1p.de/5vhkh (abgerufen am 9.12.2022)

Schnetzer, Simon/Hurrelmann, Klaus: Trendstudie „Jugend in Deutschland – Sommer 2022“. Forschungsprojekt MetaKLuB, Universität Leipzig: Einstellungen Jugendlicher zum Krieg in der Ukraine. Online abrufbar unter https://t1p.de/pdwn3 (abgerufen am 9.12.2022).

Der Autor

Benno Hafeneger lehrte und forscht an der Philipps-Universität Marburg zu Jugend und außerschulische Jugendbildung und rechtem Extremismus und ist Mitglied der JOURNAL-Redaktion.

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