Aufklärung, Wissen und Reflexion vs. Fake News, Mythen und Legenden

Politische Bildung ist von Aufklärung, Vernunft und Rationalität geleitet, sie basiert auf Erkenntnis und Diskurs. Dabei setzt sie sich kritisch und dechiffrierend mit Fake News, politischen Mythen und Legenden auseinander. In ihren Formaten und Settings ist es eine große Herausforderung, auch auf Gefühlswelten einzugehen und emotional an Demokratie, Humanität und Solidarität zu binden.

Die Praxis der außerschulischen politischen Bildung ist immer eine Gemengelage bzw. ein Spannungsfeld, das auf zwei Perspektiven basiert: Da ist einerseits die intendierte Struktur mit ihrem halb-formalen Setting und aufklärenden Bildungsinteressen, und da sind andererseits das mit- und eingebrachte Wissen, die unterschiedlichen Erfahrungen, Meinungen und Deutungen von Wirklichkeit sowie auch die politischen Alltagsmythen von Teilnehmer/-innen. Das offene und streitbare Aufeinandertreffen dieser Perspektiven macht den Reiz und Charme des Bildungsfeldes aus. Dies ist kein neues Phänomen, sondern es gehört konstitutiv zu produktiven Bildungsprozessen. Diese bieten in der politischen Bildung im respektvollen und mitfühlenden Umgang miteinander vielfältige Anknüpfungspunkte, um Sachverhalte zu klären und zu verstehen. Erst wenn dieses Spannungsfeld als Herausforderung und Suchprozess gemeinsam angenommen wird, werden Lernen und Veränderung, neue Erfahrungen und Nachdenklichkeit möglich.

 
Fake News und Lügen, Mythen und Legenden
Die Beiträge zum Heftschwerpunkt in diesem Journal haben deutlich gemacht, dass es nicht nur vielfältige Legenden und scheinbar „harmlose“ Mythen gibt, mit denen subjektive Erfahrungen und die Welt gedeutet werden und die sich im Spektrum demokratischer Orientierungen und Offenheit bewegen, sondern auch skurrile und antisoziale Meinungen, demokratiefeindliche, extreme und nationalistische Mythen bzw. Ideologien, simplifizierende und banalisierende Deutungen von Problemen und Entwicklungen sowie von Lösungsvorschlägen bzw. -forderungen. Solche politisch-sozialen Phänomene gab es als Erinnerungsspuren, als „archaische Erbschaft der Menschen“ (Sigmund Freud), schon immer; sie halten sich hartnäckig und haben derzeit wieder Konjunktur.


Alle Nationen haben ihre spezifischen Mythen



Sie scheinen – folgt man den Studien zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) (vgl. Zick u. a. 2016) – keine Einzelfälle mehr zu sein. Es gibt Lebenswelten, Echo- und Medienräume sowie organisierte Gruppen, in denen populistische oder extreme Mythen produziert und Narrationen sowie mythenträchtige Bilder gesponnen, in denen Fake News (alternative Fakten, Falschmeldungen und Lügenmärchen) verbreitet und Verschwörungstheorien konstruiert werden, in denen sich Vorurteile und Ressentiments, Abgrenzungen und Schuldkulturen verhärten, Gewaltfantasien entstehen und Gewalt angewandt wird (z. B. Amokläufe, Anschläge, Gewalt gegen Geflüchtetenunterkünfte).

Deutungsangebote
Alle Nationen haben ihre spezifischen Mythen (vgl. Münkler 2009), sie gehören dazu und durchziehen die Gesellschaften in ihrer Genese und Tradierung in vielfältiger Art und Weise. Bei problematischen mythischen Erzählungen und Narrativen von rechts bzw. der neuen (intellektuellen) Rechten ist die Produktion von Ängsten ein zentrales Merkmal, sie gehen mit Stimmungen, Affekten und Ressentiments einher, bleiben vielfach vage und lassen Assoziationen zu. Sie bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern bedienen und bieten Gefühle mit verdichteten und vereinfachenden Sprachbildern sowie einer aggressiven öffentlichen Rhetorik (Kampfbegriffen) – erkennbar in der Verwilderung und Verrohung der Sprache – und ideologische Wirklichkeitsdeutungen an. Das gilt im Bereich der politischen Mythen und Legenden u. a. für

  • Umdeutungen von geschichtlichen Ereignissen und Forderungen nach einer veränderten Erinnerungspolitik;
  • Vorstellungen von einem imaginierten „wahren Volkswillen“, einem aggressiven Nationalismus und einer autoritären Ordnung, verbunden mit der Ablehnung bzw. Verachtung der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie;
  • Inszenierungen als Rebellen gegen die herrschenden Eliten und „Retter des Abendlandes“;
  • ein kulturell-rassistisches Zugehörigkeitsverständnis zu einer Gruppe, einer Nation – als völkische Fantasie und Antwort auf die Fragen, „woher wir kommen“, „wer wir sind“ und „wohin wir wollen“;
  • die instrumentelle Aufnahme von sozialen Abstiegsängsten, einem diffusen Unbehagen und unbestimmten Gefühlen über sich radikal wandelnde Zeiten sowie die nicht mehr gesicherte(n) Lebensweise(n) in breiten gesellschaftlichen Schichten;
  • die verhasste liberale Demokratie mit dem angeblichen „Untergang des Abendlandes“ und die „Dekadenz der verweichlichten westlichen Welt“ mit ihren Lebensweisen, ihrem politischen Universalismus, ihrer Individualisierung, ihren Frauenrechten und ihrer Achtung von Minderheiten, ihrer sexuellen Selbstbestimmung und ihren liberalen Werten (vgl. Weiß 2017).

Diese mit aggressiver Feindrhetorik verbundenen Deutungsangebote werden mit dem Zukunftsversprechen verknüpft, dass mit der Wiedergewinnung von nationaler Autonomie, von ethnischer Homogenität, der Abschottung und Abwehr gegen Einwanderung und gegenüber Fremden (vor allem muslimischen Geflüchteten und Asylbewerber/-innen) die angeblich „guten alten Zeiten“ wiederkehren würden.


Politische Bildung kann ein Rahmen sein, in dem historischer Amnesie entgegengewirkt wird



Solche radikalen antidemokratischen und antiliberalen politischen Phänomene haben Konjunktur und kommen gesellschaftlich und historisch vor allem dann immer wieder neu auf, wenn Krisen- und Umbruchzeiten, Zeiten der Unsicherheit und Ungewissheit diagnostiziert und erfahren, wahrgenommen und gefühlt werden. Auf dem Markt sind u. a. apokalyptische Weltsichten und Zerfalls- und Katastrophenszenarios, Bedrohungs-, Untergangs- und Verschwörungsfantasien, Hass- und Verachtungsdiskurse. So werden aktuell von rechtspopulistischer Seite in wutbürgerlicher Dauerrede angeboten: „Überfremdung“, „Islamisierung“ und „Umvolkung“, „unkontrollierte Masseneinwanderung“, „Lücken- und Lügenpresse“ und „Volksverräter“, „Volkswille“ sowie – in demografischer Panik – das „aussterbende deutsche Volk“.

Daneben sind weitere historisch wiederkehrende irrationale gesellschaftliche und subjektive Flucht-, Rückzugs- und Sicherungstendenzen beobachtbar – neben politischen und religiösen Sekten z. B. Glücksspiele, esoterische Lebenswelten, ländliche Idyllen und Eskapismus, mit denen Menschen versuchen, ihr Schicksal zu beeinflussen und ihr Glück zu finden.

Herausforderungen für die politische Bildung
Die skizzierten skurrilen und menschenfeindlichen Bilder, sprachlichen Gesten und Metaphern sowie politischen Konzepte von Selbst-, Fremd- und Weltdeutungen sind Thema in der politischen Bildung; und sie verweisen auf das Spannungsverhältnis von Mythen, Meinungen und Legenden auf der einen Seite und Vernunft, Rationalität und Reflexion auf der anderen. Dabei sind für die politische Bildung vor allem folgende Fragen und Herausforderungen zu klären: Woher kommen politisch problematische, skurrile, extremistische Weltsichten? Wie bilden sie sich heraus? Welche seelische, soziale und politische Funktion und Bedeutung haben sie für die Subjekte? Wie werden sie entwickelt, formuliert und in die Gesellschaft eingebracht? Wie soll damit umgegangen und wie sollen sie in der politischen Bildung aufgenommen werden? Dazu im Folgenden einige skizzenhafte Anmerkungen.

  1. Politische Bildung ist in zweierlei Hinsicht herausgefordert: Erstens ist sie in ihren Angeboten und Aktivitäten mit unterschiedlichen politischen und subjektiven Mythen, Legenden und vielfältigen Meinungen konfrontiert, und sie muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie kann sich die gesellschaftlich vermittelten und von Teilnehmer/-innen mitgebrachten Erfahrungen und Deutungen nicht aussuchen und muss diese aufnehmen. Zweitens macht politische Bildung vielfältige Angebote, in denen über solche Mythen und Legenden kritisch aufgeklärt wird und in denen Deutungen und Zusammenhänge erarbeitet werden.
  2. In der politischen Bildung gilt es zu versuchen, die unterschiedlichen subjektiven und mythischen Weltbilder und Deutungen ernst zu nehmen und zu verstehen, sie in ihrer Interaktionspraxis mit Empathie in ihrer Genese und ihrer Funktion – wie und warum es dazu kommt – zu rekonstruieren und sich mit ihnen rational, aufklärend und dechiffrierend auseinanderzusetzen. Dabei ist generell von Bedeutung, dass politische Mythen die Komplexität reduzieren; sie generieren ein Bild von der Welt sowie Orientierung und Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Sie haben weiter ein sinn- und identitätsstiftendes Potential, bieten ein kollektives Gedächtnis, organisieren das soziale Leben, stiften emotionalen Zusammenhalt und besitzen eine kommunikative Funktion.
  3. Menschen suchen vor allem in Zeiten gesellschaftlicher und biografischer Krisen und Übergänge, von Umbrüchen und Unsicherheiten nach Sicherheit und Halt. Sie bewegen sich in sozialen Zusammenhängen und Netzwerken, und als Jugendliche und junge Erwachsene suchen sie in ihrer adoleszenten Dynamik nach realer und/oder medialer Spiegelung, nach sozialer Resonanz und Aufmerksamkeit (vgl. Altmeyer 2016).


Politische Bildung als Beitrag für individuelle und kollektive Sinnstiftung



 Entwicklungsbezogen bilden sich in dieser Zeit Mythen, ja geradezu gefühlstiefe Mythenlandschaften heraus, die u. a. mit Allmachts- und Größenfantasien, mit Heldenmythen und grandiosen Selbstsichten verbunden sein können und denen als Initiationsriten in Ablösungsprozessen und in Übergängen ins Erwachsenenalter eine wichtige, gerade auch entwicklungsfördernde Funktion zukommen kann. Daher ist nicht die Frage, ob es Mythen gibt, sondern welche es gibt bzw. welche gesellschaftlich und medial im Sinne sozialer Resonanzsysteme angeboten werden und Bedeutung bekommen.

  1. (Neu-)Rechte politische Mythen bieten vor allem eine auf das Kollektiv ausgerichtete dichotomisierte und verallgemeinerte Welt, die mit stereotypen Figuren in „Wir und die Anderen“, „zugehörig und nichtzugehörig“, „gut oder böse“, „richtig oder falsch“, „Sieg oder Untergang“ eingeteilt wird. Die rechtspopulistischen und autoritären Bewegungen und Parteien verbindet – bei unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten – vor allem ihre Kampfansage gegen den kulturellen und wirtschaftlichen Liberalismus, gegen Homosexuelle, gegen die Auflösung männlicher Dominanz, gegen supranationale Strukturen wie die Europäische Union und gegen die Eliten sowie die Abwehr von Migration und Einwanderung aus den ärmeren Regionen des Globalen Südens.
  2. Vernunft und Wissen, Sensibilisierung und Aufklärung, Menschenrechte und Kritik, Demokratie und Humanität gehören zu den unverrückbaren und gehaltvollen Prinzipien und Leitideen der politischen Bildung. In einer komplexen Welt stehen radikal vereinfachende, (alltags)rassistische und ethnozentrierte, mit negativen Emotionen verbundene Mythen und Narrative – „Mythologisierungen und Mystifizierungen“ (Eribon 2016) – als sinnstiftende Erzählmotive und Haltungen zur Welt einer von sozialen (d. h. gesellschaftsanalytischen, konflikthaften, empirisch gesättigten) Kategorien geleiteten Sichtweise auf die Welt gegenüber. Die Absage an Rationalität, Diskurs, Abwägung und deren Ersetzung durch Mythen und Propaganda gehört zum Wesen jeder autoritären und totalitären Herrschaft. Dabei gehört der rationale und demokratische Diskurs über Meinungsverschiedenheiten, die Wertschätzung der demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen, die Kritik und Kontrolle politischer Macht und eine funktionierende politische Öffentlichkeit zu den Voraussetzungen einer gelingenden Demokratie und zu den Gegenkräften zum Populismus. Diese kulturelle Voraussetzung der Demokratie und die Willensbildung, die auf dem Mut und der Fähigkeit jedes Einzelnen basiert, „sich seines Verstandes zu bedienen“ (Adorno 1969), gilt gerade auch für die Herausforderung von Migrationsgesellschaften, in denen sich im Zusammenführen von Unterschieden neue Gemeinschaften und ein gedeihliches Zusammenleben entwickeln sollen (vgl. Göle 2016). Zugleich geht es u. a. um eine überzeugende und wirksame Strategie der europäischen Integration, die sich der komparativen institutionellen Vorteile der jeweiligen nationalen Kulturen mit ihren historisch tief verwurzelten Prägungen bewusst ist und die Unterschiede der sozialen Systeme respektiert.
  3. In den deutenden Auseinandersetzungen geht es immer auch um konkurrierende Narrative. Hier kann politische Bildung ein diskursiver Rahmen und Resonanzraum sein, in dem historischer Amnesie entgegengewirkt und an einem neuen Narrativ der Demokratie und ihren Spielregeln, von Europa, der Perspektive einer offenen, freien und fairen Gesellschaft mitgearbeitet wird. Politische Bildung wäre als Beitrag für individuelle und kollektive Sinnstiftung, verbunden mit „demokratischer Geborgenheit“ und „emotionaler Sicherheit“ bzw. Ich-Stärke, und einer öffentlichen Engagementkultur von Bürger/-innen zu verstehen, die offen für und neugierig auf Neues sind.
  4. Das Feld der politischen Bildung selbst muss mit seinen Formaten und gelebten Erfahrungen als Kultur des Lernens ermuntern, ein positives Narrativ bzw. eine politische Sichtweise der Zukunft aufzunehmen, die demokratiefördernd, kulturell stimulierend und sozial integrativ auch mit (dosierter) Begeisterung bzw. Leidenschaft sowie mit legitimer (nicht instrumentalisierter) Emotionalität und einer solidarischen Gefühlswelt verbunden ist. Dieser emotionale Aspekt, die reflektierte Bindung von Affekten in Bildungsprozessen, ist bisher im Lernen insgesamt und auch in der politischen Bildung unterschätzt oder kaum beachtet worden. Gerade die Instrumentalisierung gesellschaftlicher und biografischer Emotionen durch Populisten sollte zum Ernstnehmen und Nachdenken anregen, was es in der politischen Bildung – auch als emotionaler Erlebnis- und Erfahrungsraum – heißen könnte, Gefühle an Demokratie, Menschenrechte und Solidarität zu binden.

Literatur
Adorno, Theodor W. (1969): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M.

Altmeyer, Martin (2016): Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert. Göttingen.

Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin.

Göle, Nilüfer (2016): Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Berlin.

Münkler, Herfried (2009): Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin.

Weiß, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart.

Zick, Andreas/Küpper, Beate/Krause, Daniel (2016): Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Bonn.

Zitation:
Hafeneger, Benno (2017). Aufklärung, Wissen und Reflexion vs. Fake News, Mythen und Legenden, in: Journal für politische Bildung 4/2017, 48-52.

Der Autor

Prof. em. Dr. Benno Hafeneger lehrte und forscht an der Philipps-Universität Marburg zu „Jugend und außerschulischer Jugendbildung“ und ist Mitglied der Journal-Redaktion.

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