Auf der Suche nach dem europäischen Citoyen

„Eurokrise“, „Flüchtlingskrise“, „Brexit“ – diese Schlagworte umreißen den Krisenmodus, in dem sich die Europäische Union (EU) gegenwärtig befindet. Für populistische europakritische und -feindliche Stimmen sind diese Krisen Anlass, um sich lautstark Gehör zu verschaffen. Grund genug, sich auf die Suche nach dem europäischen Citoyen zu begeben, der bzw. die als politische/r Bürger/-in das Projekt „Europa“ mitträgt und dessen Stimme aktuell vergleichsweise leise erscheint. Eine zentrale Rolle bei der Suche kommt dem EU-Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ zu, das unter anderem Projekte fördert, die über nationale Grenzen hinweg politische Bildungsarbeit leisten.


Der europäische Citoyen
Wer wird gesucht? Eine erste theoretische Annäherung an den Begriff soll verdeutlichen, wer überhaupt gesucht wird. Zunächst scheint der Begriff des Citoyen klärungsbedürftig zu sein. Ein Blick auf die französischsprachige Begriffsgeschichte verdeutlicht eine politische Codierung, die den deutschsprachigen „Bürger/-innen“ in dieser Klarheit fehlt. Im Zuge der Französischen Revolution werden dem Citoyen die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eingeschrieben. Der Citoyen nimmt aktiv am politischen Leben teil und bildet einen Gegensatz zum Bourgeois, der zur Bezeichnung von Müßiggängern oder von ausbeuterischen Kapitalisten verwendet wird (vgl. Riedel 1992).

Der kurze Verweis auf die Begriffsgeschichte schärft bereits die Konturen des europäischen Citoyen, der für eine erfolgreiche Suche jedoch einer weiteren Spezifizierung bedarf. Der europäische Citoyen soll im Rahmen dieses Beitrags als politisch mündige/r Bürger/-in verstanden werden (ähnlich: Moegling 2017: 79). Bereits bei dieser theoretischen Suche nach dem europäischen Citoyen wird seine Verknüpfung mit der politischen Bildung deutlich, die auf die Befähigung der Bürger/-innen zu politischer Mündigkeit abzielt. Nun ist das Verständnis politischer Mündigkeit, ebenso wie jenes des europäischen Citoyen, klärungsbedürftig.

An dieser Stelle wird auf die Überlegungen des Politikdidaktikers Joachim Detjen (vgl. 2013: 214 f.) zurückgegriffen und der europäische Citoyen anhand von drei Definitionsmerkmalen charakterisiert:

  • Erstens soll der europäische Citoyen über politisches Wissen verfügen, das sowohl Faktenwissen als auch Deutungswissen umfasst. Letzteres kann ihm eine „Orientierung im unübersichtlichen Feld der Politik“ (Detjen 2013: 214) bieten.
  •  Zweitens soll sich der europäische Citoyen durch politisches Verantwortungsbewusstsein auszeichnen. Dieses besteht nach Detjen darin, politischen Angelegenheiten ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei soll rational und nicht affektiv geurteilt und gehandelt werden.
  •  Drittens charakterisiert den europäischen Citoyen sein Wissen um Möglichkeiten zur Partizipation im europäischen Kontext. Dabei besteht explizit kein Zwang zur Partizipation.

Nachdem auf theoretischer Ebene klar ist, wer gesucht wird, wendet sich der Beitrag in einem zweiten Schritt der Suche nach dem europäischen Citoyen auf empirischer Ebene zu.

Das EU-Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“
Wo wird der europäische Citoyen gesucht? Da bereits auf die Verknüpfung von europäischem Citoyen und politischer Bildung hingewiesen wurde, liegt eine Suche im Kontext von politischen Bildungsprogrammen auf europäischer Ebene nahe. Das wohl bekannteste EU-Förderprogramm im Politikfeld der Bildung ist Erasmus+, das bis zum Jahre 2020 über eine Finanzausstattung von rund 14,7 Milliarden Euro verfügt. Insbesondere der Programmbereich Jugend zielt auf die Förderung eines „aktiven Bürgersinns“ (EU KOM 2015: 30) ab.


Im Zuge der Französischen ­Revolution werden dem Citoyen die Ideale der Freiheit, ­Gleichheit und Brüderlichkeit eingeschrieben



Ein weniger bekanntes und finanziell schwächer aufgestelltes Programm trägt den Titel „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ beziehungsweise „L’Europe pour les citoyens“. Das Programm verfolgt das Ziel, Bürgerbeteiligung sowie europäisches Geschichtsbewusstsein zu fördern. Ein Schwerpunkt des Programms, das mit rund 185 Millionen Euro bis zum Jahre 2020 ausgestattet ist, liegt in der Förderung von Projekten im transnationalen Kontext, die der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung zuzuordnen sind (vgl. EU KOM 2013: 9). Wie eine Dokumentenanalyse an anderer Stelle bereits zeigte, zielt das Programm grundsätzlich auf die Befähigung zu politischer Mündigkeit im Verständnis von Detjen ab (vgl. Wach 2018). Die Suche nach dem europäischen Citoyen im Rahmen dieses Programms scheint daher vielversprechend zu sein.

Für diese Suche wird das Dokumentenkorpus um 30 Expert/-inneninterviews ergänzt, die im Rahmen einer Dissertation von der Autorin mit Mitarbeitenden von EU-Institutionen, Trägern von geförderten Bildungsprojekten sowie mit Projektteilnehmer/-innen geführt wurden. Dabei wurden beispielsweise Organisator/-innen und Teilnehmende der 80. internationalen Sitzung des European Youth Parliament interviewt, das 2015 in Leipzig stattfand. Die Dachorganisation des European Youth Parliament ist seit dem Jahr 2004 die Schwarzkopf-Stiftung.

Die Ergebnisse, die bislang noch nicht veröffentlicht sind, verdeutlichen, dass politisches Wissen, politisches Verantwortungsbewusstsein und Wissen um Partizipationsmöglichkeiten in den untersuchten Bildungsprojekten in unterschiedlichem Maße aufgegriffen werden. Unter den insgesamt 17 interviewten Teilnehmenden geht jedoch nur einer von sich aus auf alle drei Definitionsmerkmale des europäischen Citoyen ein. Wie ist dieses Suchergebnis zu verstehen?

Das Selbstverständnis als europäischer Citoyen
Eine „Menschenformung“ (Adorno 1970: 112) nach vordefinierten Leitbildern widerspricht der Idee politischer Mündigkeit. Wird die Befähigung zu politischer Mündigkeit, auf die das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ abzielt, ernstgenommen, dann impliziert dies die Freiheit eines jeden, ein individuelles Selbstverständnis als europäischer Citoyen entwickeln zu können. Gleiches gilt für diesen Beitrag. Das Programm sowie die Projekte sind nicht erst erfolgreich, wenn die drei vorab festgelegten Definitionsmerkmale des europäischen Citoyens erreicht sind. Vielmehr liegt die Stärke des Programms sowie der Projekte darin, die Organisator/-innen und Teilnehmenden zur Reflexion ihres Selbstverständnisses als europäische Citoyens anzuregen.


Die Suche nach dem Citoyen verdeutlicht die zentrale Bedeutung ­politischer Bildung über nationale Grenzen hinweg



Bei den Organisator/-innen der untersuchten Bildungsprojekte tragen insbesondere die inhaltliche Auseinandersetzung mit europäischen Themen, die Projektorganisation mit europäischen Kooperationspartnern sowie die englische Arbeitssprache zu einer Reflexion des Selbstverständnisses bei.

Für die interviewten Teilnehmenden sind die persönlichen Begegnungen in den Projekten wesentlich für das Entdecken von Gemeinsamkeiten, den Abbau von Vorurteilen und das Schaffen gemeinsamer Erfahrungen. Überdies betonen einige der Teilnehmenden im Interview, dass durch das Projekt ihr Selbstvertrauen, sich in Situationen der Fremdheit zurechtzufinden, gestärkt und somit indirekt die Reflexion des Selbstverständnisses stimuliert wurde.

Die Analyse verdeutlicht zudem, dass sich die interviewten Teilnehmenden vom Verständnis der Projektorganisator/-innen emanzipieren und ihr eigenes Selbstverständnis entwickeln. Die näher untersuchten Projekte eröffnen den Teilnehmenden einen Raum der Begegnung jenseits nationaler Grenzen und können dadurch ihre Reflexion des Selbstverständnisses als europäische Citoyens anregen.

Jedoch sind die untersuchten Projekte im transnationalen Kontext kein Garant dafür, dass eine solche Reflexion tatsächlich stattfindet. Außerdem verdeutlichen die soziodemographischen Daten der interviewten Teilnehmenden, dass alle über einen Abiturabschluss oder ein Äquivalent verfügen sowie offen für Begegnungen mit anderen sind. Andere Zielgruppen werden in den untersuchten Projekten kaum erreicht.

Fazit
Die Suche nach dem europäischen Citoyen verdeutlicht die zentrale Bedeutung politischer Bildungsarbeit, die über nationale Grenzen hinweg stattfindet. Sie kann als erster Ansatz zur Förderung einer Reflexion des Selbstverständnisses als europäischer Citoyen dienen. Klar ist, dass beispielsweise mit Blick auf die Zielgruppen oder auf die finanzielle Ausstattung des EU-Förderprogramms noch viel zu tun ist (vgl. dazu: EP 2017: Punkt 1 ff.). Trotzdem birgt die dargelegte Suche einen Hoffnungsschimmer für all jene, die nicht in das lautstarke populistische Geschrei einstimmen.

Literatur
Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt/M.

Detjen, Joachim (2013): Politische Bildung: Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München.

Europäische Kommission (EU KOM) (2013): Programmleitfaden. Europa für Bürgerinnen und Bürger 2014-2020. Brüssel.

Europäische Kommission (EU KOM) (2015): Erasmus+ Programmleitfaden 2016. Brüssel.

Europäisches Parlament (EP) (2017): Durchführung des Programms „Europa für Bürgerinnen und Bürger“. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. März 2017 zur Umsetzung der Verordnung (EU) Nr. 390/2014 des Rates vom 14. April 2014 über das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ für den Zeitraum 2014 – 2020. Brüssel.

Moegling, Klaus (2017): Erziehung zur Mündigkeit. In: Lange, Dirk/Reinhardt, Volker (Hg.): Konzeptionen, Strategien und Inhaltsfelder Politischer Bildung. Baltmannsweiler, S. 79 – 89.

Riedel, Manfred (1992): Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart, S. 672 – 725.

Wach, Lena (2018): Europa für Bürgerinnen und Bürger. Empirische Befunde im Lichte politischer Mündigkeit. In: Hufer, Klaus-Peter/Oeftering, Tonio/Oppermann, Julia (Hg.): Wo steht die außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung? Frankfurt/M., S. 161 – 178.


Zitation:
Wach, Lena  (2018). Auf der Suche nach dem europäischen Citoyen, in: Journal für politische Bildung 4/2018, 68-71.

Die Autorin

Lena Wach promoviert am Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana Universität Lüneburg, für das sie rund drei Jahre als Wissenschaftsmanagerin arbeitete. Dort war sie zudem als Lehrbeauftragte tätig und hatte ein Promotionsstipen­dium der Friedrich-Ebert-Stiftung inne. 

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