Über die Zukunft der ‚Bildung‘


Bildung gilt – derzeit unumstritten – als Schlüssel zur Zukunft. Doch ­über die Bildung der Zukunft nachzudenken heißt, über die Zukunftsfähigkeit der Gegenwart zu sprechen. Erst dann lässt sich auch über die Zukunft der Bildung besser streiten. 

Dass von Zukunft gesprochen wird, wer nach Bildung fragt, das scheint gegenwärtig nur allzu selbstverständlich. Und tatsächlich ergeben Bildung und Zukunft ein kaum voneinander trennbares Doppel: Bildung markiert den Rahmen vieler, wenn nicht nahezu aller Bemühungen der älteren Generation um die jüngere und ist daher mindestens strukturell auf Zukunft – die Zukunft der Jüngeren, aber doch auch die Zukunft aller – bezogen. Aber auch umgekehrt gilt weithin, dass Zukunft ohne Bildung kaum denk- und gestaltbar ist, so dass die „Zukunft der Bildung“ längst vielfach mit der „Bildung der Zukunft“ (Nelson Killius) verknüpft ist. Ein auch nur kurzer Blick in die kaum noch zu überblickende Vielzahl an Denkschriften (vgl. bereits früh Peukert 1984) bestätigt zunächst diesen Zusammenhang, macht aber auch eine Verschiebung deutlich: Denn immer häufiger wird die Forderung laut, »Bildung neu denken« zu müssen (zuletzt UNESCO 2015), damit Zukunft weniger unsicher und besser bewohnbar wird. Die erzeugte Ambivalenz ist aber beträchtlich: ‚Bildung’ soll leisten, so klingt durch, was man weder Politik noch Ökonomie so recht zuzutrauen scheint. Und zugleich wird die gegenwärtige Bildung als untauglich erachtet und delegitimiert. Dabei ist sie in vielerlei Hinsicht nichts anderes als ein – sicherlich nicht sonderlich angenehmes – Spiegelbild der derzeitigen Verhältnisse, wie die vielfachen PISA-Studien seit über zwei Jahrzehnten immer wieder neu bestätigen. 

Woher nimmt man eigentlich, so ließe sich also fragen, das so programmatisch aufgeladene Zutrauen, und was rechtfertigt diese enorme Zuschreibung von Verantwortung? Warum sollen denn – pointiert gefragt – die Jüngeren retten, was die Älteren nicht schaffen können oder gar wollen? Und welche Zukunft ist eigentlich darin angedacht – die der Jüngeren oder doch die der Älteren? Dass die enge Kopplung von Bildung und Zukunft zudem nicht immer so zählte, mag zwar zunächst von der skizzierten Überforderung der Bildung durch die Zukunft entlasten, indem jene – wie dies Manfred Fuhrmann mit Verweis auf den »europäischen Bildungskanon« unternommen hat – mit der Bewahrung von Vergangenheit und Tradition assoziiert wird. Doch auch dieser Versuch wirft die Frage auf, wie offen die Zukunft der Jüngeren eigentlich gedacht wird, wenn sie vonseiten der Älteren vorgebahnt und in elementaren Weichenstellungen bereits festgelegt zu sein scheint. Dass diese Vor- und in Teilen auch Übergriffe aber mindestens problematisch, wenn nicht sogar unzulässig sind, wird im Stichwort der ‚Generationengerechtigkeit’ inzwischen auch höchstrichterlich verhandelt (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz vom 24.3.2021). Über die Bildung der Zukunft nachzudenken heißt daher, über die Zukunftsfähigkeit der Gegenwart zu sprechen und diese politisch und ökonomisch zu gestalten. Erst dann lässt sich auch über die Zukunft der Bildung besser, weil weniger aufgeladen streiten. Vor diesem Hintergrund mag vielleicht meine Skepsis einleuchten, allzu leicht und allzu schnell an die skizzierte Kopplung der Zukunft an die Bildung anzuschließen. Mir scheint vielmehr geraten, den Blick zu schärfen und sowohl ‚Bildung’ (Gedanke 1) als auch ‚Zukunft’ (Gedanke 2) genauer zu betrachten, bevor es dann doch möglich wird, einige wenige Überlegungen über die Zukunft der Bildung (Gedanke 3) anzustellen. 

Gedanke 1: Konturen der ‚Bildung’ 

Bereits lebensweltlich wird ‚Bildung’ eher breit und spannungsvoll bestimmt: Für die einen ist sie eng an „alles, was man wissen muss“ (Dietrich Schwanitz), und dessen Erwerb gebunden, während andere sie eher formal bestimmen und als Zertifikat für erworbene Kompetenzen verstehen. Wiederum andere sehen in Bildung eher eine Haltung, einen – bisweilen auch distinktiven – Habitus, der aus dem resultiert, „was übrigbleibt, wenn man alles vergessen hat“ (Hans Blumenberg). Unstrittig scheint dabei zumeist, dass ‚Bildung’ einen sowohl unabschließbaren als auch selbstreferentiellen Prozess markiert: Man kann sich nur selbst bilden und muss es ein Leben lang tun (vgl. insgesamt Bieri 2008). Aber auch erziehungswissenschaftlich bleibt ‚Bildung’ eher vage und changiert zwischen einem empathisch aufgeladenen, uns inzwischen auch überspannt erscheinenden Begriff der ‚Verwirklichung der Menschheit in der eigenen Person’ (vgl. Humboldt 1960, S. 235) und einem auf Funktionalität reduzierten Verständnis von Grundbildung. All das legt zwar nahe, sich zur „Rede von Bildung“ (Tenorth 2020) in Distanz zu bringen und bloß beobachtend zu verhalten, enthebt aber nicht der Dringlichkeit, die Bedeutungskonturen der ‚Bildung’ doch genauer auszuarbeiten. Hilfreich könnte daher sein, ‚Bildung’ zunächst als einen Strukturbegriff zu verstehen und mit der Formwerdung von Individuen in und durch Kultur zu übersetzen. Man mag dabei den besonderen Charakter dieser „Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 1960, S. 235) herausstellen und „Bildung … als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (Theodor W. Adorno) – nicht Aneignung (!) – verstehen, übersieht aber darin dann doch, dass ‚Bildung’ ein historisch situiertes Konzept ist, das gerade nicht über alle Zeiten und Kulturen hinweg Geltung hat beanspruchen können, sondern nur in Folge des Epochenbruchs der Aufklärung im deutschsprachigen Raum hat Fuß fassen können. 

Die Humboldtsche Idee, dass das ‚Ich’ sich in und durch die Auseinandersetzung mit Welt allererst selbst hervorbringt, sich mit all seinen Kräften entfaltet und dadurch »seinem Wesen Werth [sic!] und Dauer verschaff[t]« (Humboldt 1960, S. 235), markiert doch unübersehbar den tiefen Bruch mit vorherigen Mustern der ‚Formwerdung von Individuen’, indem sie insbesondere der christlichen Kultur des gläubigen Gehorsams, der Selbstüberwindung und Entsagung die Ideen der Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbststeigerung im Medium eines breit verstandenen Wissens entgegensetzt. ‚Bildung’ als ‚Wechselwirkung’ muss daher als Absage an zwei alternative Denkformen verstanden werden, die die Genese des Subjekts entweder als bloße ‚Entfaltung von Anlagen’ oder umgekehrt als ‚Produktion und Herstellung’ zu denken versuchen. Es ist diese spezifisch neuzeitliche, ja moderne Form, die sich mit ‚Bildung’ etabliert hat und seitdem auch die Erziehung bestimmt. Verkürzt gesagt markiert ‚Bildung’ die neuzeitlich-moderne Art, Erziehung zu denken und zu gestalten. Statt einfach auf (vor-)gegebene Normen hin erzogen zu werden, zielt ‚Bildung’ auf Selbstbestimmung und die Fähigkeit, sich an sozialen Normbildungsprozessen zu beteiligen. Die Verbreitung von und Verpflichtung zur Schule ist wohl eine der greifbarsten Folgen der ‚Bildung’ – wie auch umgekehrt diese sich dem Erfolg des Modells Schule verdankt; kaum zufällig kann ‚Bildung’ daher als Leitsemantik und „Kontingenzformel des Erziehungssystems“ (Niklas Luhmann) gelten. Kurzum: ‚Bildung’ ist durch und durch modern; sie ist ohne Moderne ebenso wenig zu denken wie auch umgekehrt diese ohne ‚Bildung’ nicht möglich geworden wäre. Genau das aber macht ‚Bildung’ inzwischen auch prekär. 

Gedanke 2: Die Krisen der Spätmoderne und das Problem der Zukunft 

Wie kaum eine andere Epoche ist die Moderne von der ebenso radikalen wie rasanten Transformation von nahezu allen Lebens- und Produktionsverhältnissen geprägt. Die (früh-)neuzeitlich aufbrechende Einsicht, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht fix (vor-)gegeben, sondern veränderbar und insofern auch (selbst)gestaltbar ist, hat eine Dynamik gesellschaftlichen Wandels freigesetzt, der inzwischen alle Teile der Erde erreicht und verändert hat. Auch wenn der Wandel der Lebensverhältnisse in vielerlei Hinsicht nicht nur eine Komplexitätssteigerung und Differenzierung der Lebensformen nach sich gezogen hat, sondern durchaus auch als Verbesserung verstanden werden kann, so gehen doch modern ‚Kontingenz’ – als Markierung der Nichtnotwendigkeit und insofern Andersmöglichkeit von Ordnungen – und ‚Krise’ von Anfang an Hand in Hand, weil neu gewordene Strukturen, kaum sind sie etabliert, selbst wieder zur Disposition stehen und transformiert werden (müssen). Inzwischen sind aber auch die enormen Folgekosten dieser ebenso in- wie extensiven Modernisierung der Lebens- und Produktionsformen nicht mehr zu übersehen und haben zu einem veränderten Selbstverständnis moderner Gesellschaften geführt. Spätmodern dürfte inzwischen weitgehend unstrittig sein, dass der bisher eingeschlagene Weg weder in dieser Weise linear fortsetzbar noch überhaupt verallgemeinerbar und für alle gangbar ist. 

Die Einsicht, dass weitgehende gesellschaftliche Transformationen notwendig sind, ist dabei kaum abweisbar. Sie provoziert aber derzeit auch Gegenbewegungen, die sich zum Teil in Ressentiments zum Ausdruck bringen und nur weitere Konfliktherde eröffnen oder gar privilegierte Positionen zu befestigen suchen (vgl. Jaeggi 2023). Folgt man Bruno Latours Sortierung spätmoderner Krisen (vgl. Latour 2018), dann sind es derzeit vor allem drei Krisen, deren Bearbeitung über die Zukunftsfähigkeit nicht nur westlicher, sondern aller Gesellschaften mitentscheidet (vgl. bereits früh Peukert 1984): die sowohl inter- als auch intranational wachsende soziale Ungleichheit und Spaltung zwischen Arm und Reich; die spätestens seit den 1970er Jahren bewusst gewordene planetarische (Natur-)Krise, die sich nicht allein auf den sich längst vollziehenden Klimawandel beschränken lässt, sondern auch Fragen der Ausbeutung und Zerstörung von Natur aufwirft; die globale Migration, die mit den beiden genannten Krisen einher geht. Alle drei Krisen sind mehrfach miteinander verschränkt und verstärken sich wechselseitig. Zudem sind sie eingebettet in zahlreiche (geo-)politische Krisen, die die Bearbeitung erschweren und immer wieder in einen Kampf um Hegemonie und Vorherrschaft münden. Offensichtlich ist aber, dass die genannten Krisen nicht bloß konjunkturell, sondern strukturell mit der modernen Lebensform verbunden sind – was unweigerlich auch die Frage aufruft, welches menschliche Selbstverständnis es uns erlaubt, mit den in diesen Krisen aufbrechenden Grenzen anders als bloß modern – nämlich grenzüberschreitend – umzugehen. 

Gedanke 3: Über die Zukunft der Bildung 

Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen scheint es mir wenig überzeugend, ‚Bildung’ immer wieder als die eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft einzusetzen. In solchen Bemühungen wird einerseits übersehen, dass ‚Bildung’ gerade nicht neutral die (auch pädagogischen) Bemühungen der älteren Generation um und mit der jüngeren bezeichnet. Es steht zudem kaum die Frage zur Debatte, ob es Schulen geben soll oder nicht – wie dies Ivan Illich dereinst provokant fragte –, sondern das ‚wie’ und ‚woraufhin’ von Schule. Andererseits wird darin aber auch die strukturelle Verwicklung der ‚Bildung’ in die Moderne verharmlost: ‚Bildung’ ist nicht nur historisch ein konsequent modernes Konzept, es ist vielmehr auch strukturell durch und durch modern. ‚Bildung’ hat – auch über die Nähe zur Leistungs- und Fortschrittsideologie hinaus – Anteil an der modernen Zerstörungslogik. Sie vermag sich der neuzeitlich-modernen Logik nicht zu entziehen, die die Selbstbestimmung des Subjekts an die Verfügung über Objekte koppelt und so den Selbstzweck der Menschen auch daran zu erweisen sucht, dass anderes – bisweilen auch andere – zu bloßen Mittel degradiert werden (können). Auch das Vertrauen in die transformatorische Kraft der ‚Bildung’ (Koller 2018) scheint mir nur wenig tragfähig zu sein und allenfalls zur Transformation der ‚Bildung’ selbst beitragen zu können. All das jedenfalls lässt eine gewisse Skepsis geraten sein, wenn von „Bildung“ als einem „uneingelösten Versprechen“ (Helmut Peukert) die Rede ist. 

Ob nun mit, ohne oder gar gegen die ‚Bildung’ – für die Gestaltung der Zukunft dürfte entscheidend sein, ‚Bildung’ aus ihrem einseitigen Zusammenhang mit dem ‚Autonomie’-Denken zu lösen und als intergenerationale Frage nach dem ‚guten Leben’ stellen zu lernen (vgl. Steinfath 1998). Es wäre jedenfalls fatal, Bildungsprozesse ohne Blick auf Sinnbildungsmöglichkeiten der jüngeren Generation auszubuchstabieren – neben Gerechtigkeitsfragen eine der zentralen Dimensionen des Diskurses zum ‚guten Leben’. Fragen nach dem Sinn ‚im’ Leben – nicht ‚des’ Lebens (!) – hängen aber mit Fragen nach der Bedeutung anderer als Anderer ebenso wie mit Fragen nach den Grenzen und der Begrenztheit von Leben zusammen (vgl. Schnell 2016). Sie übersteigen Selbstbestimmungs- und -verwirklichungsimperative und markieren damit zugleich zwei elementare Leerstellen der ‚Bildung’. Denn gegen die bisherig dominante Individual-und Steigerungsorientierung würde es dann darum gehen, die strukturelle Sozialität menschlicher Lebensformen (vgl. Tomasello 2020) sowie die Begrenztheit menschlicher – und planetarischer – Existenz in die ‚Bildung’ einzutragen. Zweierlei wäre darin ein Hoffnungsfunken: Ex- oder Dezentrizität erstens als Strukturmoment der pädagogischen Eigenlogik auszuarbeiten und gegen die zunehmende Zentrik und Positionalität zu setzen (vgl. Masschelein/Simons 2013). Zweitens ‚Bildung’ als ausformulierte Eigenlogik des pädagogischen Systems so zu stärken, dass systemische Anforderungen anderer Systeme – seien es Ökonomie, Politik oder andere – nicht so ungebrochen wie bisher auf die pädagogische Logik durchzugreifen vermögen, sondern sich brechen lassen (müssen) an der Ermöglichung von Sinnbildungsprozessen der jüngeren Generationen. Das aber wäre wohl nicht weniger als die Transformation der ‚Bildung’ selbst.


Literatur

Bieri, Peter (2008): Wie wäre es, gebildet zu sein? [2005]. In: Göppel, Rolf/Lenhart, Volker/Rihm, Thomas/Schön, Bärbel /Strittmatter-Haubold, Veronika (Hg.): Bildung ist mehr. Potentiale über PISA hinaus. Heidelberg, S. 13–21.

Humboldt, Wilhelm von (1960): Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück [1793]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Stuttgart, S. 234–240.

Jaeggi, Rahel (2023): Fortschritt und Regression. Berlin.

Koller, Hans-Christoph (2018): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart.

Latour, Bruno (2018): Das terrestrische Manifest. Berlin.

Masschelein, Jan/Simons, Maarten (2013): In Defence of the School. A Public Issue. Leuven.

Peukert, Helmut (1984): Über die Zukunft von Bildung. In: Frankfurter Hefte 39, S. 129–137.

Schnell, Tatjana (2016): Psychologie des Lebenssinns. Berlin/Heidelberg.

Steinfath, Holmer (Hg.) (1998): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Frankfurt/M.

Tenorth, Heinz-Elmar (2020): Die Rede von Bildung. Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Stuttgart.

Tomasello, Michael (2020): Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Berlin.

UNESCO (2015): Rethinking Education. Towards a global common good? Paris.

Der Autor

Prof. Dr. Norbert Ricken ist Professor für Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind Erziehungs- und Bildungstheorie sowie Subjekt-, Anerkennungs- und Wissenstheorie.

Ein Beitrag aus

Neu