Wie kann politische Bildung inklusiv gestaltet werden?

Im gegenwärtigen identitätspolitischen Diskurs werden Privilegien – zu Recht – sehr kritisch und bisweilen auch sehr radikal infrage gestellt. Wo strukturelle Machtunterschiede und Diskriminierungsstrukturen historisch umfassend verfestigt sind, so die These, führen Dialog, Perspektivwechsel und Empathie nicht zu sinnvollen Ergebnissen, da sich daraus in den allermeisten Fällen keine institutionellen Handlungsveränderungen ergeben. Politische Bildung zur Sensibilisierung für diese Thematik steht ebenfalls im Verdacht, der privilegierten Mehrheitsgesellschaft interessante Lernerfahrungen hinsichtlich der Diskriminierungserfahrungen von ‚Minderheiten‘ zu geben, vermeintlich ‚betroffen‘ zu werden und gleichzeitig die eigenen Privilegien dadurch mit einem aufgeklärten Anspruch eher noch zu legitimieren, als reale und schmerzliche Konsequenzen in der eigenen Lebenspraxis umzusetzen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie aus der Perspektive von Privilegien eine institutionelle Rolle der politischen Bildung zu finden ist, die einerseits neue Handlungsoptionen für gesellschaftliche Inklusion findet, und die andererseits die eigene Machtbasis als eine Verantwortung für diejenigen begreift, die bisher von dieser Machtbasis implizit oder explizit exkludiert wurden. 

Dieser Herausforderung haben sich die Evangelischen Akademien in Deutschland mit dem jetzt erschienenen „Praxisleitfaden für die politische Bildungsarbeit in der pluralen Gesellschaft“ gestellt. Bereits im Vorwort wird der Widerspruch der eigenen institutionellen Verankerung zum Anspruch gesellschaftlicher Diversität formuliert: „Kontrastierend dazu sind Evangelische Akademien ziemlich homogen: weiß, bildungsbürgerlich und christlich. Wir werden damit auch als Teil der Dominanzkultur wahrgenommen“ (6). Dies wird durch Sozialraumanalysen an vier Evangelischen Akademien im Praxisleitfaden ebenfalls deutlich: Der Begriff ‚Akademie‘ wird weitgehend als elitär verstanden, was sich auch in der Tatsache widerspiegelt, dass Teilnehmende an Veranstaltungen einen tendenziell älteren, bürgerlichen Teil der Mehrheitsgesellschaft repräsentieren. Andererseits wird der Begriff ‚evangelisch‘ auch als inkludierend und weltoffen und die konkrete Projektarbeit einer Aka­- demie mit Kooperations­partnern im Sozialraum als gesellschaftlich verbindend angesehen. Sind letztere Ergebnisse schon erste Hinweise auf den oben formulierten Anspruch einer Professionalität in Richtung einer inklusiveren politischen Bildung? Die eigene weltoffene Haltung (evangelisch) sowie die kreative Erreichung diverser Zielgruppen (Projekte im Sozialraum) ändern selbstverständlich nichts an der strukturellen Verfasstheit der Evangelischen Akademien hinsichtlich ihres Personals und ihrer grundsätzlichen Programmausrichtung. Solange Angebote für andere gemacht werden, bleibt die eigene privilegierte Identität unhinterfragt und eben vielleicht noch weiter legitimiert und gestärkt. Wie also noch umfassender vom Sockel steigen, um Inklusion und Diversitätsorientierung zu einem umfassenden Qualitätsmerkmal politischer Bildung zu machen?

Der Praxisleitfaden betont, dass Inklusion als Leitbild bereits seit vielen Jahren in verschiedenen Leitbildern der Evangelischen Akademien existiert. Es gelte also vor allem, dem eigenen normativen Anspruch umfassender gerecht zu werden, auch vor dem Hintergrund des zusätzlichen Drucks von Rechtspopulisten (die der pluralen demokratischen Gesellschaft ja grundsätzlich eine Absage erteilen). Damit ist impliziert, dass inklusive politische Bildung nicht mit einem abstrakten Gebot der Neutralität zu haben ist. Mehr denn je ist ja entscheidend, eine wertebasierte politische Positionierung anzustreben und gleichzeitig die Unsicherheit auszuhalten, in zahlreichen demokratischen Dilemmata zwischen Spre­cher*innenposition, Empathie, Ansprüchen an die eigene Identität und der Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Veränderung gefangen zu sein. Eine grundlegend demokratische Unsicherheit, die ihrerseits eine Alternative sowohl zum identitätspolitischen als auch rechtspopulistischen Diskurs ist, der meist mit Kategorien von richtig/falsch und gut/böse operiert.

Insofern positioniert sich der Praxisleitfaden so, dass nicht unbedingt Antworten erwartet werden können, sondern eigene Reflexionsprozesse angeregt und Inklusion als ein kontinuierlicher Qualitätsentwicklungsprozess verstanden werden will. Nach der Reflexion der Bedeutung inklusiver politischer Bildung wird im Leitfaden der partizipative Verlauf des zugrunde liegenden Modellprojekts dargestellt, das unter dem Titel „Zukunft inklusive? Herausforderungen der politischen Bildungsarbeit in Evangelischen Akademien“ von Anfang 2020 bis Ende 2022 durchgeführt wurde. Das Projekt war von interaktiven Workshops und Fortbildungen gekennzeichnet. Methodische Beispiele und weiterführendes Material verdeutlichen dies. Sieben weitere Kapitel befassen sich mit für Inklusion relevanten Thematiken wie inklusiver Gestaltung von Bildungsräumen, diversitätsorientierter Organisationsentwicklung und einer machtkritischen Professionalisierung. Diese Kapitel geben Hinweise darauf, welche Reflexionsfelder für ein professionelles und qualitätsorientiertes Handeln inklusiver politischer Bildung entscheidend sind. Sie spannen die Thematik weit auf und erstrecken sich eben nicht nur auf Zielgruppen, sondern auf das gesamte strukturelle Gefüge von Räumen, Barrieren, Personal, Netzwerken und Macht.

Der Leitfaden wird dabei bewusst immer wieder durch biografisch orientierte Reflexionsfragen unterbrochen, die das eigene Ich hinterfragen und irritieren, sowie jenseits akademischer Diskurse menschliches alltägliches Zusammenleben in den Mittelpunkt stellen. Zwei Beispiele: „Reflexionsfrage: In welchen Räumen habe ich ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit?“ (25). „Reflexionsfrage: Wann zeige ich auf Bildern Diversitätsmerkmale und wann nicht?“ (36). Diese eingestreuten Reflexionsfragen relativieren nicht die Hinweise zu Qualität und Professio­nalität, aber sie beziehen die Leser*innen in ihrer je eigenen Verantwortung mit ein; sie vermeiden es, den normativen Anspruch von Inklusion eng zu führen, bleiben offen für eigene Widersprüche und auch menschliche Begrenztheit. Auch weitere inhaltliche Leitfragen etwa zu Lernorten, Partizipation, Personal und Emotionen begreifen inklusive politische Bildung als einen immer neuen Such- und Findungsprozess derjenigen, die vor Ort Verantwortung für Bildungsprozesse übernehmen. 

Am Ende des Praxisleitfadens stehen kein neues Leitbild, keine schnellen Tipps oder methodischen Rezepte, sondern Thesen; als Thesen diskussionswürdig und offen für die Zukunft; als Thesen in einer Grundhaltung der Offenheit, im besten Sinne selbst also inklusiv für andere Positionierungen.

Die Publikation übernimmt aus einer privilegierten Position Verantwortung – Verantwortung für eigene dauerhafte Qualitätsentwicklungsprozesse in Richtung Diversität und Inklusion. Sie positioniert sich professionell in einem Bereich der politischen Bildung und kann damit auch Transformationsmotor für die Stärkung einer pluralen Demokratie in weiteren Gesellschaftsbereichen sein. Verantwortungsübernahme macht angreifbar und setzt sich anderen gesellschaftlichen Deutungen aus.

Evangelische Akademien in Deutschland e. V. (Hg.) (2023): Zukunft inklusive. Praxisleitfaden für die politische Bildung in der pluralen Gesellschaft. 
Autor: Mark Medebach. Berlin.
Download: https://www.evangelische-akademien.de/wpcontent/uploads/2023/01/Praxisleitfaden_ZI_web_bf.pdf

Der Autor

Florian Wenzel, ist selbstständiger Moderator und Begleiter von Prozessen des Demokratie-Lernens (www.peripheria.de).

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