Leerstelle politische Sozialisation?

Arnd-Michael Nohl (2022): Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Erkundungen am Rande der repräsentativen Demokratie. Weinheim/Basel (Verlag Belz Juventa), 276 S., 24,95 €

Sich wissenschaftlich mit dem Thema „Politische Sozialisation“ zu beschäftigen ist ein mutiges Wagnis. Denn wie Arndt-Michael Nohl bereits in seinen einleitenden Sätzen bemerkt, hat die Sozialisationsforschung „wenig zur politischen Sozialisation zu sagen“ (7, Hervorhebung B.Wi.). Gemessen an den aktuellen Konjunkturen von Demokratiepädagogik und Demokratiebildung ist das erstaunlich, weil gerade hier mehr Wissen über Sozialisation notwendig wäre, etwa um diese neuen Praxisfelder zielführender mit politischer Bildung zu verbinden.

Dass Sozialisationsforschung insgesamt seit Jahren kaum noch Beachtung findet, wird vor allem bei Nohls theoretischen Annäherungen an den Begriff der „politischen Sozialisation“ im engeren Sinne deutlich. Er greift hier vorrangig auf soziologische Referenztexte und Autor*innen zurück, die so gut wie ausschließlich aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammen. Dazu zählen Karl Mannheim, George Herbert Mead, Pierre Bourdieu, Norbert Elias, Jürgen Habermas oder Lothar Krappmann.

Nohls Studie lässt sich in drei große Teile einteilen: Zunächst entwirft er eine „Theorie politischer Sozialisation“ (43–77). Diese Theorie unterzieht er dann einer empirischen Bewährungsprobe an zwei ausgewählten Gegenständen an den Rändern der repräsentativen Demokratie – so erklärt sich auch der Untertitel seiner Publikation. Er wählt sich dabei zwei Politikfelder aus, die politikwissenschaftlich nicht im engeren Sinne dem (repräsentativen) politischen System zugeordnet werden, sondern sozialisierende Wirkungen am linken und rechten politischen Rand der Gesellschaft entwickeln (können). Das ist einerseits die „linksalternative Protestbewegung“ (78–142) und andererseits (rechter) Populismus (143–160), den er dann an drei Beispielen ausarbeitet: am Populismus in den USA und der Türkei (161–205) und am „Rechtspopulismus in Deutschland: Pegida und Co.“ (206–249).

Nach Nohl ist Sozialisation ein Ergebnis interaktionsbasierter Beziehungen zwischen Menschen und (in) Gruppen. Über soziale Interaktionen und gemeinschaftliche Erfahrungsräume in Institutionen, Organisationen und Milieus wachsen Menschen in die Gesellschaft hinein und entwickeln eine eigene – vor allem auch soziale und politische – Identität. Solche milieubezogenen Erfahrungen insbesondere in der Familie und in Peergroups nennt Nohl (in Anlehnung an Karl Mannheim) „konjunktive Erfahrungsräume“. Diese konjunktiven Erfahrungsräume bilden einen kollektiven Orientierungsrahmen, einen Habitus oder „modus operandi“ im Sinne Pierre Bourdieus, „innerhalb dessen die Welt gesehen und behandelt wird“ (32) und an dem sich die Übernahme von Rollen und deren Gestaltung orientiert.

Eine auch…

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Der Rezensent

Benedikt Widmaier, Politikwissenschaftler, war bis 2022 Direktor der Akademie für politische und soziale Bildung der Diözese Mainz „Haus am Maiberg“.