Politische Bildung ist mehr als Prävention

In der Auseinandersetzung mit Extremismus, Radikalisierung und Gewalt gehört Prävention zu den zentralen politisch-pädagogischen und förderpolitischen Begriffen. Mit ihm ist auch die politische Bildung konfrontiert, sie muss sich dazu verhalten und darf sich nicht instrumentalisieren lassen. Politische Bildung ist als eigenständiges Bildungs- und Erfahrungsfeld mit ihrem aufklärend-kritischen Kernauftrag und ihren Prinzipien mehr als Prävention, hat aber zugleich präventive Effekte und Wirkungen.

Die Politik und die Pädagogik der Prävention haben eine lange Tradition und durchziehen unterschiedliche Politikfelder und gesellschaftliche Bereiche. Dazu zählen Präventionsprogramme und vielfältige Maßnahmen, Präventionsveranstaltungen, zudem Präventionsnetzwerke und -räte; auch der Begriff der „Präventionslandschaft“ hat sich eingebürgert. Präventionsbedarfe werden festgestellt und mit dem Versprechen verbunden, dass damit (drohende, zukünftige) Entwicklungen und Probleme in den Griff zu bekommen oder zu vermeiden wären.

Präventives Denken und Handeln gehört zu den Ressourcen und zum Handlungsbestand moderner Gesellschaften und bewegt sich gleichzeitig im Spannungsfeld von Paradoxien: einerseits fachliche Eingrenzung – Voraussetzungen klären und Risiken bzw. Grenzen explizieren – und ein „Mythos Prävention“ – was diese alles leisten könne – auf der anderen Seite (vgl. Widersprüche 2016).

Der Präventionsgedanke ist mit sich wiederholt verändernden Risikosemantiken verbunden, er wird ausufernd-inflationär und vielfach entgrenzt verwendet sowie als selbstverständlicher Königsweg und immer gültige Antwort auf Problementwicklungen angeboten. Dabei steht Präventionsarbeit gerade in neuen Handlungsfeldern wie Extremismus, Radikalisierung und Gewalt unter einem hohen öffentlichen Druck, ihre Wirksamkeit und Effekte zu beweisen sowie (messbare) Erfolge nachzuweisen.

Paradoxien der Prävention
Der Sammelbegriff Prävention ist vielschichtig, differenziert wird nach primärer/sekundärer/tertiärer und direkter/indirekter sowie indizierter/universeller Prävention. Gegenüber anderen Formen politischen und pädagogischen Handelns – wie z. B. der Intervention, reaktivem oder repressivem Vorgehen – markiert Prävention einen enormen Fortschritt und Modernisierungsimpuls in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Präventives Denken ist habituell tief in der Gesellschaft verankert und gehört zum weitgehend geteilten Alltagsverständnis sowie den lebensweltlichen Gewissheiten: „Vorbeugen ist besser als heilen“. Dieses Denken gilt u. a. für Lebensvorsorge, Sicherheit, Gesundheit, Kriminalität und auch für die moderne Kinder- und Jugendhilfe. So wurde „Prävention“ vor fast 30 Jahren im Achten Kinder- und Jugendbericht von 1990 gegenüber „Reaktion, Repression und Kontrolle“ als zentrale „Strukturmaxime“ der Jugendhilfe ausgewiesen (vgl. Deutscher Bundestag 1990: 85 f.).


Politische Bildung ist keine defensiv ausgerichtete ­Verhinderungspädagogik



Prävention hat in vielen Bereichen – so z. B. in der Gesundheits- oder Verkehrserziehung, der sozialen Arbeit mit ihren Beratungs-, Hilfe- und Bildungsangeboten, ihrer öffentlichen Kommunikation und ihren Kampagnen – eine aufklärende Bedeutung, ohne freilich, so das „Präventionsparadox“, garantieren zu können, ob und welche intendierten Wirkungen und Effekte sie haben kann. Das heißt, dass mit einem verkürzten und verengten technologischen Präventionsverständnis und den damit verbundenen politischen Programmen und Kampagnen auch Versprechungen und unterstellte Wirkungen für die unerwünschte Zukunft verbunden sind, die nicht garantiert werden können. Angeboten wird ein „Instrument“ der Machbarkeit. Dies hängt mit einem immer noch vorhandenen – wenn auch inzwischen nicht mehr so euphorischen – Glauben an die Macht von pädagogischer Beeinflussung und Bildung sowie den pädagogischen Entgrenzungsprozessen zusammen.

Extremismus- und Radikalisierungsprävention
Die Herausbildung der modernen Jugendhilfe, Jugendarbeit und politischen Bildung in liberalen und rechtsstaatlich verfassten sowie menschenrechtsbasierten Demokratien ist mit unterschiedlichen Traditions- und Begründungslinien verwoben. Dabei kommt der politischen Bildung ein akzentuiert demokratiepolitischer Sozialisations- und Bildungsauftrag zu, der sich reflektierend und kritisch-aufklärend sowie handlungsbezogen auf die Auseinandersetzung mit zeitbezogenen politischen Verhältnissen, Entwicklungen und Problemkonstellationen bezieht. Seit den 1990er Jahren und vor allem aktuell beziehen sich die Diskussion und die Förderprogramme vor allem auf die beiden Aspekte „Demokratieförderung“ und „Prävention“; dabei geht es um die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen menschen- und demokratiefeindlichen Erscheinungsformen, vor allem dem rechten und islamistischen Extremismus, um Radikalisierung(sprozesse) und Gewalt(affinitäten) (vgl. Mannewitz/Ruch/Thieme 2018; Schellhöh u. a. 2018; Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 2018).

(Politische) Bildung und Prävention sind keine entgegengesetzten Begriffe, aber sie akzentuieren unterschiedliche Aufträge und Sichtweisen von bzw. Zugänge zu Jugendlichen. Beiden gemeinsam sind demokratische Orientierungen, Hilfsangebote und Möglichkeiten der Kooperation. Dabei finden sich präventive Angebote und Handlungsformen insbesondere in zivilgesellgesellschaftlichen Kontexten und als alltagsweltliche und gemeinwesenbasierte soziale (und auch informelle politische) Bildung und pädagogische Arbeit eher in der der Inklusion verpflichteten Jugendsozialarbeit, den Jugendmigrationsdiensten, der Schulsozial- und aufsuchenden Jugendarbeit (vgl. Ceylan/Kiefer 2018).

Politische Bildung
Die außerschulische politische Bildung ist in ihrem Kernauftrag und mit ihren Prinzipien durch zeitbezogene Förderpolitik wiederholt und strukturell in die „Logik der Prävention“ eingebunden worden. Sie soll die jeweils diagnostizierten problematischen Entwicklungen verhindern helfen, Jugendliche vor potenziellen Bedrohungen, „Gefahren und Gefährdungen“ schützen, Risiken mindern und Integration ermöglichen (vgl. Hafeneger 2019). Politische Bildung entkommt gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen, wirkmächtigen Deutungs- und Definitionsprozessen sowie den präventionslogischen Fragen nicht. Damit gerät sie in ein Spannungsfeld und eine Semantik, mit der sie umgehen, sich auseinandersetzen und die sie abstecken muss; sie muss sich am Verfachlichungsdiskurs von Prävention (als einem notwendigen und kaum mehr rückgängig zu machenden Strukturelement moderner Gesellschaften) beteiligen, dann das eigene Feld abstecken und abgrenzen. In gesellschaftskritischer Perspektive wären vor allem drei politische Aufklärungsaspekte bedeutsam:

  • erstens aufzuhellen, ob und inwieweit Prävention selbst ein (stigmatisierender) Etikettierungsbegriff ist;
  • zweitens die eingelagerten Paradoxien und Ambivalenzen des Präventionsbegriffes und die Logiken der Prävention zu erkennen und zu thematisieren;
  • drittens zu diskutieren, was das für eine Gesellschaft ist, die geradezu gläubig auf Prävention setzt und das Präventionsdenken in einem solchen Ausmaß generalisiert hat, dass immer wieder neue (Jugend-)Programme aufgelegt werden (müssen).

Keine Verhinderungspädagogik
Politische Bildung ist keine defensiv ausgerichtete Verhinderungspädagogik, und sie ist mehr als primäre bzw. universelle Prävention, „Feuerwehr“ und „Reparaturbetrieb“. Sie darf sich nicht instrumentalisieren und auf Prävention verengen lassen. Sie hat ein eigenständiges pädagogisches Selbstverständnis und folgt einer Gestaltungs- und keiner Verhinderungslogik, und sie ist mit dem Anspruch – so die normative Übereinkunft – von wirklicher und wirksamer Partizipation sowie selbstbestimmter Lebensgestaltung verbunden.


Jugendliche sind keine Risikogruppe, die es mit einem Präventivprogramm zu behandeln gilt



Ausgewiesen als ein demokratisches und demokratiebildendes Bildungs- und Erfahrungsfeld werden Jugendliche nicht unter Generalverdacht gestellt und potenzielle Defizite markiert, sondern es wird an ihren Stärken und Interessen angesetzt sowie ihr Eigensinn und ihre Produktivität respektiert. Um Demokratien am Leben zu erhalten bedarf es auch immer wieder gesellschaftskritischer Impulse, und politische Bildung begleitet und befähigt Jugendliche, zu aufgeklärten und kritischen Subjekten und Akteuren demokratischen Handelns zu werden. Sie hat mit ihren Formaten und lebenswelt- und subjektorientierten Ansätzen vieler Träger politisch aufklärend die Themen „Extremismus, Radikalisierung und Gewalt“ wiederholt aufgenommen.

Jugendzeit
Die Jugendzeit ist mit ihren Phasen, vielschichtigen Übergängen und als Entwicklungszeit empirisch hochgradig differenziert und nur im Plural – als „Jugenden“ – zu verstehen. Darunter fallen auch zahlreiche Gruppen, die strukturell, sozial, kulturell und biografisch bedingt benachteiligt sind, riskant leben und problematische Einstellungen und Verhaltensweisen haben. Jugendliche sind in generalisierter Perspektive aber keine Problem- und Risikogruppe, die es mit einem Präventivprogramm zu behandeln gilt. Zugleich sind hier aber in kluger Ausdifferenzierung der Jugend(hilfe)politik spezifische Programme und Angebote in einer subjektentwickelnden und begleitenden Perspektive gut begründet.

Einem mehr negativen, problem- und defizit­orientierten Jugendbild steht ein positives und entwicklungsoffenes Jugendbild gegenüber, nach dem die junge Generation mit ihren Potenzialen und Stärken, Übergängen und Interessen, Suchprozessen und Bewältigungsaufgaben als Akteur und Gestalter ihrer Biografie verstanden wird. Um diese Perspektive realisieren zu können, bedarf es fördernder Bedingungen und unterstützender Strukturen sowie professioneller Kompetenz. Nur dann kann kritisch-emanzipatorische politische Bildung in der konkreten Praxis, als politische Einmischung und als infrastrukturelle Arbeit (auch in Kooperation mit Schule, Jugendarbeit und sozialer Arbeit) gelingen.

Präventive Effekte
Jedem bildenden und pädagogischen Handeln wohnt präventives Denken und Handeln inne, von ihm gehen immer auch präventive Wirkungen und Effekte aus; das gilt auch für die politische Bildung. In der pädagogisch-bildenden Praxis geht es immer auch darum, mit ihren Angeboten, ihren intendierten Lern- und Bildungsprozessen, ihrer Begleitung und Unterstützung problematische Entwicklungen (Einstellungen und Verhaltensweisen) zu verhindern, zukünftig unerwünschte Lebensweisen erfolgreich zu vermeiden. Bei allen Grenzmarkierungen und „Technologiedefiziten“ (Luhmann/Schorr 1982) pädagogischen Handelns zeigen zahlreiche empirische Studien, dass es nachweisbar gelingende Praxen bzw. eine erfolgreiche politische Bildung gibt (vgl. u. a. Balzter/Ristau/Schröder 2014; vgl. auch Journal 3/18: Wirkungen politischer Jugend- und Erwachsenenbildung). Die Studien zeigen unabhängig von Präventionsüberlegungen, welches Lern- und Bildungspotenzial in dem Feld der politischen Bildung liegt und welche biografische und demokratiepolitische Bedeutung sie hat. Gute politische Bildung kann gesellschaftliche Probleme nicht lösen, aber sie kann helfen, diese im Prozess öffentlicher Kommunikation rational und aufklärend zu deuten und zu entschärfen sowie sich bei der Suche nach Lösungen zu beteiligen.

Ausblick
Prävention ist ein Strukturbegriff und wird auch zukünftig ein wichtiges Instrument in der Vermeidung von unerwünschten Entwicklungen bleiben. Dabei muss sich politische Bildung in einem nicht aufhebbaren paradoxen Feld behaupten und begründen, dass sie mehr ist als Prävention, Prävention aber durchaus ein Aspekt ihres pädagogischen Handelns ist. Politische Bildung hat aber als Zusammenhang von Subjekt- und Demokratiebildung, von Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie über das Präventionsdenken hinaus den Auftrag, in ihrer reflexiven und gesellschaftskritischen Traditionslinie aufklärend und handelnd auf gesellschaftliche Verhältnisse und Lebensbedingungen hinzuwirken, um Prävention im Bereich Extremismus, Radikalisierung und Gewalt unwahrscheinlicher bzw. überflüssig zu machen. In der Logik von gesellschaftlichen Gefahren und Gefährdungsmarkierungen und den Begründungen für förderpolitisches Handeln kommt man möglicherweise am Präventionsbegriff nicht vorbei, aber ob man ihn in der politischen Bildung braucht oder auf ihn verzichten kann, ist zu problematisieren und diskussionswürdig.

Literatur
Balzter, Nadine/Ristau, Yan/Schröder, Achim (2014): Wie politische Bildung wirkt. Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung. Schwalbach/Ts.

Deutscher Bundestag (1990): Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe – Achter Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung zum Achten Jugendbericht. Drucksache 11/6576.

Ceylan, Rauf/Kiefer, Michael (2018): Radikalisierungsprävention in der Praxis. Wiesbaden.

Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit (2018): Radikalisierung, Heft 2.

Hafeneger, Benno (2019): Politische Bildung in Krisenzeiten – im Spannungsfeld von Feuerwehr, Prävention, Aufklärung und Kritik. In: deutsche jugend, Heft 2, S. 55 – 63.

Journal für politische Bildung (2018): Wirkungen politischer Jugend- und Erwachsenenbildung, Heft 3.

Luhmann, Niklas/Schorr, Eberhard (Hg.) (1982): Zwischen Technologiedefizit und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M.

Mannewitz, Tom/Ruch, Hermann/Thieme, Tom (2018): Was ist politischer Extremismus? Frankfurt/M.

Schellhöh, Jennifer/Reichertz, Jo/Heins, Volker/Flender, Armin (Hg.) (2018): Großerzählungen des Extremen. Bielefeld.

Widersprüche (2016): Politik der Prävention: unvorsichtig – riskant – widersprüchlich, Heft 139.

Zitation:
Hafeneger, Benno (2019). Politische Bildung ist mehr als Prävention, in: Journal für politische Bildung 2/2019, 22-25.

Der Autor

Prof. em. Dr. Benno Hafeneger lehrte und forscht an der Philipps-Universität Marburg zu „Jugend und außerschulischer Jugendbildung“ und ist Mitglied der Journal-Redaktion.

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