Pädagogische Perspektiven zum Trend einer Versicherheitlichung

Jahrbuch für Pädagogik 2019, Redaktion: Agnieszka Czejkowska, Susanne Spieker: Innere Sicherheit. Berlin (Peter Lang) 2021, Open Access


Das Jahrbuch widmet sich der Sekuritisierung (Versicherheitlichung) und Prävention sowie ihren Auswirkungen auf den pädagogischen Alltag. Teil I („Aktuelle Fragen innerer Sicherheit“) behandelt einige grundlegende allgemeine Aspekte des Themas. Brand und Steffens liefern mit dem Begriff der „imperialen Lebensweise“ ein Stichwort für sozialökologische Transformationen, das die notwendigen Lernprozesse aber nur abstrakt anspricht. Schluß beschreibt den Zusammenhang von Klima und Sicherheit, fordert eine „pädagogische Klimafolgenforschung“ (50) ein und verdeutlicht ihre Dimensionen.

Feldmann gibt einen Überblick zum Antiextremismus in der politischen Bildung und plädiert dafür, den Begriff zugunsten demokratiepädagogischer und gesellschaftskritischer Perspektiven aufzugeben. Zwei Beiträge führen diese Fragestellung weiter: Milbradt setzt sich mit den Signalen von vorgeblicher Radikalisierung auseinander und befürwortet eine „radikalisierungsbezogene Praxisforschung“ (77) – ein Desiderat, für das ein Blick auf die verzweigte britische Literatur zum Thema nützlich wäre.

Zurawski dekonstruiert die Konzepte Sicherheit und Gewalt und fordert eine gesellschaftliche Diskussion über die Sekuritisierung von Jugendlichen. Ob eine solche Diskussion die flottierenden Sicherheitsbedürfnisse rational gestalten könnte, muss allerdings offen bleiben. Czejkowska und Froebus beschreiben dann in einem theoretisch instruktiven Beitrag Narrative der Verunsicherung unter pandemischen Vorzeichen. Die Analyse – an Žižek angelehnt als reflexives Verhältnis zum eigenen Handeln, an Foucault angelehnt als Strategien der Disziplinierung – lässt die Autorinnen eine posthumanistische Pädagogik einfordern, die die Frage stellt, „was es bedeutet, mit dem Virus zu leben“ (105). Doch werden Strategien der Eigenverantwortung wie Strategien der Disziplinierung dabei wohl weiterhin eine Rolle spielen, aber sie könnten reflexiver und ohne panische Hysterie ausgestaltet sein.

Teil II („Bilder und Strategien der Versicherung“) umfasst zwischen Literatursoziologie und Pädagogik oszillierende, inhaltlich ganz heterogene Beiträge. Instruktiv untersucht Spieker die Schriften von John Locke zur Kindererziehung im 17. Jahrhundert, die sich als eine Strategie zur Bewältigung vor allem der hohen Kindersterblichkeit auffassen lassen. Grabau nimmt die Figur der Störenfriedin in den Blick (u. a. Emma Bovary), die durch ihre Widerborstigkeit etablierte Deutungsmuster relativiert und derart für pädagogische Reflexion einen Nutzen entfaltet. Palaver zeichnet die Gewinnung innerer Sicherheit als Modus der Subjektivierung am Beispiel eines Comics von Clowes nach. Schröder und Witzel analysieren das Verhältnis von Angst und Freiheit und betonen, dass erst in selbstbestimmten Verhältnissen Freiheit als pädagogisches Ziel formuliert werden kann. Wie es gelingen kann, Selbstbestimmung für alle herzustellen, bleibt jedoch offen.

Strasser skizziert die Bewältigung von Unsicherheit in der pädagogischen Praxis und befürwortet eine „kontextsensitive, intuitive und reflexive Dimension von Professionalität“ (179), die Verunsicherungen erkennt und zu verändern sucht. Wischmann stellt die Trias von Prävention, Preparedness und Resilienz in den Kontext der außerschulischen Public Pedagogy und folgert, dass diese qua Individualisierung und der Verantwortlichmachung für eigene Lebenslagen nicht zuletzt bei Jugendlichen „den Modus der Zerstörung sichert“ (192). Wigger schließt diesen Teil mit der Analye einer Katastrophen-Ausstellung ab, der er vorhält, Katastrophen durch Ausblendung ihrer vielfältigen Entstehungsbedingungen zu dekontextualisieren.

Teil III („Optimierungsregimes in Bildung und Wissenschaft“) behandelt diverse Trends von Schul- und Wissenschaftspolitik. Ydesen und Andreasen zeichnen die Soziogenese einer Prüfungskultur von Ökonomisierung und Rankings nach, was zu Politisierung und – u. U. diskriminierenden – Standards der Normalität führt. Wischmann und Budde erläutern am Beispiel des Responsible Thinking Concept – Regeln werden in einer Schulklasse gemeinsam entwickelt –, wie Individualisierung neue Differenzkategorien schafft und gegen die intendierte Absicht Ungleichheiten verschärfen kann. Gericke untersucht öffentlich-private Partnerschaften zwischen Schule und Wirtschaft, bei denen Schüler*innen zu unternehmerischem Handeln animiert werden, als Förderung partikularer Interessen und fragwürdige Sicherung ökonomischer und politischer Zukunft. Bernstorff und Marquard beschreiben die Entwicklung der Universität zur unternehmerischen Institution, was als inklusive und offene Sicherheitskultur Nützlichkeitskalküle und externe Ansprüche etabliert hat und tendenziell die Wissenschaftsfreiheit gefährdet. 

Gädeke widmet sich der Quantifizierung des wissenschaftlichen Arbeitens (Impact, Drittmitteleinwerbung etc.), die er im Sinne von individualisierenden Sichtbarkeitsregimen als Überwachung und Disziplinierung interpretiert. Uhlendorf analysiert die Diskurse um Migration, die zwischen Sicherheitsgefahren und ökonomischer Optimierung oszillieren, und beschreibt am Beispiel von Deutsch-Iraner*innen, wie sich solche Widersprüche in Subjektbildung umsetzen. Thoma knüpft daran an und zeigt, dass die „diskursive Verschränkung von Sicherheit und Sprache“ (310) bei Student*innen, die keine native speakers sind, zu aktiven Coping-Strategien führt.

Insgesamt bietet der Band vor allem Problembeschreibungen und kaum Lösungsansätze, was die Bedeutung der Einzelanalysen aber nicht schmälert, in denen die relevante Literatur durchweg verarbeitet ist. Zwar werden Begriffe von physischer, sozialer und Erwartungssicherheit unterschiedslos unter dem allgemeinen Etikett Sicherheit verwendet, und der Bezug zum Titel erscheint gelegentlich etwas gewollt – doch als ein breiter Überblick zum Thema ist das Jahrbuch gut geeignet.

Zitation:
Legnaro, Aldo (2021). Pädagogische Perspektiven zum Trend einer Versicherheitlichung. Rezension zu: Jahrbuch für Pädagogik 2019, Redaktion: Agnieszka Czejkowska, Susanne Spieker: Innere Sicherheit, in: Journal für politische Bildung 3/2021.

Der Autor

Dr. Aldo Legnaro, freier Sozialwissenschaftler. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Abweichung und Konformität, Stadtsoziologie, Soziologie der Kontrollgesellschaft, Kriminologie

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