Nachruf für Oskar Negt (1934 –2024)
Politische Bildung, verstanden als
(Selbst-)Aufklärung zur Emanzipation
der Menschen war ein wesentliches
Thema im Schaffen des Soziologen,
Sozialphilosophen und überzeugten
Demokraten Oskar Negt, der am 2.
Februar 2024 im Alter von 89 Jahren in
Hannover gestorben ist.
Negt wurde 1934 in Kapkeim in Ostpreußen
geboren, von wo aus er gegen
Ende des Krieges nach Westen floh.
Seine Jugend war geprägt von Erfahrungen
wie Vertreibung, Flucht und Flüchtlingsdasein,
Entwurzelung und Orientierungslosigkeit.
Nach einem mehrjährigen
Aufenthalt in einem Flüchtlingslager
in Dänemark lebte er von 1947 bis
1951 mit seiner Familie in der DDR. Von
da aus zog sie über Berlin nach Westdeutschland.
Sie lebte in Oldenburg in
Niedersachsen, wo Negt 1955 am Gymnasium
das Abitur machte. Ein Studium
der Rechtswissenschaft an der Universität
Göttingen brach er nach einem Jahr
ab, um an der Universität Frankfurt bei
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno
Philosophie und Soziologie zu studieren.
Nach dem Diplom promovierte
er bei Theodor W. Adorno und arbeitete
als wissenschaftlicher Assistent bei
Jürgen Habermas. 1970 erhielt er einen
Ruf auf eine Professur für Soziologie an
der Universität Hannover, die er bis zu
seiner Emeritierung im Jahr 2002 hatte.
Oskar Negt setzte sich in seinem
umfangreichen wissenschaftlichen Werk
unter anderem kritisch mit der gesellschaftlichen
Gegenwart auseinander.
Dabei nahm er sich besonders der politischen
Bildung an, deren Aufgabe es
im Sinne Kants sei, dem Menschen Wege
„aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“
zu weisen.
Funktion der politischen Bildung sei
es, den Menschen Orientierung zu geben.
Urteils- und Kritikfähigkeit soll sie
dazu befähigen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse
zu hinterfragen, Ideologien
zu entschleiern und gesellschaftliche
Konfliktlinien und Widersprüche in ihrer
Genese und ihren Zusammenhängen zu
verstehen. Darüber hinaus soll politische
Bildung die politische und gesellschaftliche
Handlungsfähigkeit der Menschen
in der Demokratie anregen, die Negt
eher als Lebensform denn als Staatsform
verstand.
Er war sich immer der Gefahr bewusst,
dass die Existenz von Demokratien
paradoxerweise durch ihre Offenheit
bedroht ist. Denn auch wenn Demokratien
politische und gesellschaftliche
Gegensätze verkraften können, ist ihre
Stabilität gefährdet, wenn extremistische
Kräfte sie unter Ausnutzung demokratischer
Beteiligungsmöglichkeiten unterlaufen.
Diese Gefahr ist zurzeit deutlich
erkennbar und fordert die Gegenwehr
einer politisch handelnden und sich einmischenden
Zivilgesellschaft heraus.
Negt hat solche Entwicklungen als reale
Gefahr eingeschätzt und in seinen
Vorträgen und Schriften davor gewarnt.
Er begriff seine Rolle als Wissenschaftler
als Mahner und Aufklärer über gesellschaftliche
Verhältnisse und Entwicklungen
und versuchte die Bildungspraxis
durch sein Wirken zu unterstützen.
Politische Bildung soll der Unsicherheit
und Orientierungslosigkeit begegnen,
die bei…
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Die Autorin
Dr. Christine Zeuner ist Professorin für
Erwachsenenbildung an der Helmut
Schmidt Universität/Universität der
Bundeswehr Hamburg.