Nachdenken über die Zukunft der Einwanderungsgesellschaft
Deutschland ist ein vielfältiges, von Migration geprägtes Einwanderungsland. Ausgehend von dieser These hat eine Kommission von 25 Expert*innen aus verschiedenen wissenschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Bereichen versucht, Antworten auf die aus dieser Tatsache resultierenden Herausforderungen zu geben. Eingesetzt von der Bundesregierung im Jahr 2019 unter der Überschrift „Fachkommission … zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit“ haben die Expert*innen im November 2020 einen umfangreichen Bericht vorgelegt, der in der Öffentlichkeit ambivalent aufgenommen wurde. Besondere Aufmerksamkeit hat der Vorschlag der Kommission gefunden, künftig nicht mehr von „Personen mit Migrationshintergrund“ zu sprechen, sondern von „Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen“. Wobei sich die Kommission bewusst war, dass mit dieser Bezeichnung noch keine ideale Lösung zur Beschreibung dieser Bevölkerungsgruppe gefunden ist.
Ausschlaggebend für die Einsetzung der Fachkommission waren wohl die Erfahrungen in den Jahren 2015 und 2016 mit einer hohen Zahl von Menschen, die in Deutschland Schutz suchten. In diesem Zusammenhang wurde in der öffentlichen Debatte immer wieder die Frage nach der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft z. B. in Hinblick auf Wohnraum und das Bildungssystem gestellt. Die Kommission hat in ihrer Arbeit vom Begriff Integrationsfähigkeit schnell Abstand genommen, da sie der Überzeugung war, dass es für den Prozess der Integration keine feste und eindeutig bestimmbare Anzahl von Personen gebe, die ein Land integrieren kann. Die Kommission bezieht sich dabei wesentlich auf zwei Argumente.
Zum einen sei Migration ein sehr vielfältiger Prozess, Migrant*innen kämen aus unterschiedlichen Beweggründen nach Deutschland. Die Mehrheit der Migrant*innen reisten nicht als Schutzsuchende in das Land ein, sondern im Rahmen der Freizügigkeit zu Erwerbszwecken, zum Studium oder im Zusammenhang einer Familienzusammenführung. Fakt sei, dass in der Zwischenzeit etwa ein Viertel der Menschen in Privathaushalten einen sogenannten Migrationshintergrund haben, in jüngeren Altersgruppen sei der Anteil noch höher. Zum anderen sei Integration von einer Vielzahl von Faktoren abhängig und könne aktiv gestaltet werden. Deshalb konzentrierte sich die Kommission in ihrer Arbeit auf die Frage, wie Integrationsprozesse gestaltet werden müssen, damit sie in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht erfolgreich verlaufen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Integration als gesamtgesellschaftlicher Prozess
Die Kommission versteht Integration als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ihr zufolge ist sie „ein dauerhafter, ergebnisoffener und konflikthafter Prozess, der in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen und auf allen politischen Ebenen stattfindet und alle Mitglieder der Gesellschaft betrifft“ (S. 201).
Integration ziele auf eine chancengerechte Teilhabe und Teilnahme an zentralen gesellschaftlichen Bereichen. Es könne nicht von einer homogenen Leitkultur ausgegangen werden und es stünden sich auch keine homogenen Gruppen gegenüber. Vielfalt und Pluralität sei sowohl ein Kennzeichen der deutschen Gesellschaft als auch der Gruppe der Eingewanderten. Aus dieser Argumentation folgt, dass ein offenes Selbstverständnis von „Deutsch sein“ entwickelt werden müsse, mit Zugehörigkeitskriterien, die der Diversität des Einwanderungslands Deutschland Rechnung tragen. Dadurch werde ein neues „WIR“ angestrebt und Grundlagen für ein gutes Miteinander geschaffen.
Denn sicher sei, dass der Anteil der Eingewanderten und ihrer Nachkommen an der Bevölkerung Deutschlands in den nächsten Jahren weiter steigen werde. Eine erfolgreiche Integration zum Beispiel in den Bildungs- und Arbeitsmarkt eröffne der Gesellschaft dann große Chancen den ökonomischen, demografischen und fiskalischen Wandel zu bewältigen und kulturelle und soziale Vielfalt auf der Grundlage von Chancengerechtigkeit anzuerkennen. Die Kommission verschweigt die mit Migration verbundenen Probleme und Konflikte keineswegs. Als Stichworte nennt sie Risiken der Erwerbslosigkeit, soziale und politische Konflikte, Ausgrenzung und Diskriminierung. Grundsätzlich bedeute Integration jedoch, Vielfalt in einer modernen Gesellschaft zu akzeptieren und gleichzeitig die gemeinsamen Regeln zu respektieren.
Die Kommission hebt hervor, dass Integration umfassender zu verstehen und von Migration zu entkoppeln sei. Sie betrachtet Integration als einen Prozess, der die Gesellschaft als Ganze betrifft und Anstrengungen aller erfordert. Sie könne gelingen, wenn Teilhabe mit der Pflicht verbunden sei, die Solidargemeinschaft aktiv mitzutragen. Integration in einer modernen, pluralen Gesellschaft beruhe auf den Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit, auf der Bindung an das Recht, auf zivilen Umgangsformen und einem sich stetig wandelnden Selbstbild (S. 9). Zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gehöre auch ein konstruktiver Streit über Konflikte, die durch das Zusammenleben entstehen, ein Austausch über unterschiedliche Positionen und die Suche nach Kompromissen. Eine chancengerechte Teilhabe bedeutet im Horizont dieses umfassenden Integrationsverständnisses, daraufhin zu arbeiten, dass Angehörige aller gesellschaftlichen Gruppen entsprechend ihrer Qualifikation und Fähigkeiten auf allen Hierarchieebenen von Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Medien und Zivilgesellschaft adäquat vertreten sind.
Ein präziserer Begriff
Eine integrierte Gesellschaft ist eine, die frei von Diskriminierung ist. Die Kommission macht darauf aufmerksam, dass Diskriminierung nicht nur absichtlich, sondern auch unabsichtlich erfolgen kann. In diesem Kontext ist es ihr ein besonderes Anliegen, auf die Notwendigkeit einer sensibleren Verwendung von Sprache zu achten. Die Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft erfordere die Auseinandersetzung mit Begriffen und Konzepten sowie ihrer Verwendung. Diese Überlegung führt zur Problematisierung des Begriffs „Personen mit Migrationshintergrund“. Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass diese Kategorie ein Fortschritt gegenüber dem bis dahin den Statistiken verwendeten Begriff „Ausländer“ gewesen sei. Doch er sei aus analytischen und normativen Überlegungen zu kritisieren. Analytisch werde in dem Begriff die Kategorie Staatsangehörigkeit mit der Migrationserfahrung von Personen vermischt.
Zudem sei problematisch, dass mit dem Begriff auch Personen mit Migrationshintergrund, aber ohne Migrationserfahrung gemeint sind und diese Kategorie auf einer komplexen Konstruktion basiert. Normativ wird kritisiert, dass sich das Konzept „Migrationshintergrund“ auf Aspekte von Identität, Diskriminierung und Gleichstellung beziehe. Die Zuschreibung eines Migrationshintergrunds stimme dann auch nicht mit der Selbstwahrnehmung und -beschreibung überein. Es bestehe auch die Gefahr, den so bezeichneten Personen als Einzelne oder auch als Gruppe Eigenschaften zuzuschreiben, die Grundlage von Vorurteilen und Diskriminierung sein können. Deshalb plädiert die Kommission dafür, künftig von „Eingewanderten und ihre (direkten) Nachkommen“ zu sprechen.
Politische Bildung im Bericht
Für die Organisationen der politischen Bildung ist interessant, dass kritisiert wird, im Bundesausschuss Politische Bildung (bap) und in der GEMINI seien Organisationen von Migrant*innen nicht angemessen repräsentiert. Einerseits ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass in diese Organisationen Bewegung gekommen ist, und zum anderen wird die durch förderungsrechtliche Bedingungen geprägte spezifische Geschichte dieser Organisationen nicht hinreichend reflektiert. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass die Autor*innen des Berichts nicht gründlich recherchiert haben, wenn in einer Fußnote (S. 211) behauptet wird, dass der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) den Zuschlag für ein von der Bundeszentrale für politische Bildung angestoßenes Projekt zur Diversifizierung der politischen Erwachsenenbildung erhalten hat. Denn in Wirklichkeit haben insgesamt 17 Einrichtungen und Verbände der politischen Bildung einen Zuschlag erhalten und dabei ist eine interessante Mischung zwischen Akteuren mit einer längeren und einer jüngeren Geschichte zusammengekommen, die teilweise im Verbund diese Vorhaben umsetzen.
Aus der Perspektive der politischen Bildung/Demokratiebildung ist außerdem zu bemerken, dass der Bericht der Demokratiebildung einen hohen Stellenwert beimisst. Demokratie sei kein selbstverständliches Gut. Es brauche vielfältige Gelegenheiten und Orte, wo demokratische Verfahrensweisen erlernt, erprobt und angewendet werden können. Diese Herausforderung erstrecke sich auf sämtliche Lebensbereiche von der Familie bis in das Erwachsenenalter. Um die Vermittlung demokratischer Werte in allen Bereichen des Bildungswesens massiv zu stärken, brauche es in Deutschland eine Qualitätsoffensive Demokratiebildung. Hinter dieser Überlegung steckt die Formel: Menschen, die Demokratiebildung und Teilhabe erfahren, sind besser integriert, fallen seltener menschenfeindlichen und antidemokratischen Orientierungen anheim und finden sich in Demokratien leichter zurecht. Demokratiebildung sei also nicht nur ein Schlüssel zur Stärkung und zur Weiterentwicklung von Demokratien, sondern auch ein Weg der sozialen Integration in Demokratien (S. 214).
Der Bericht enthält zahlreiche weitere Impulse zur Gestaltung des Zusammenlebens in einer Einwanderungsgesellschaft, die in diesem kurzen Beitrag nicht hinreichend gewürdigt werden können. Es lohnt sich, sich mit diesem Bericht intensiv zu beschäftigen und ihn in die Diskussionen der politischen Bildung einzubeziehen.
Alle Zitate in diesem Beitrag sind dem Bericht „Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten. Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit“ entnommen.
Download des Berichts: https://tinyurl.com/2c22mkx5
Zitation:
Waldmann, Klaus (2021). Nachdenken über die Zukunft der Einwanderungsgesellschaft, in: Journal für politische Bildung 2/2021, 60-61, DOI https://doi.org/10.46499/1670.1959.
Der Autor
Klaus Waldmann, leitender Redakteur des Journal