Musik, Jugendkulturen und Beteiligung
Musik ist für Jugendliche eines der wichtigsten Dinge in ihrem Leben – und stets hochemotional besetzt, egal, welche Musikgenres sie präferieren. Wer also in der politischen Bildung die Musikleidenschaft der Jugendlichen in den Fokus rücken möchte, muss dies prinzipiell mit einer positiven Grundhaltung machen – unabhängig davon, ob er/sie selbst die Musik der Jugendlichen gut findet. Denn wer die Lieblingsmusik der Jugendlichen herabwürdigt, beleidigt diese selbst. Leider ist dies die dominante Erfahrung vieler Jugendlicher: Erwachsene mögen unsere Musik nicht. Und versuchen nicht selten, uns diese zu verbieten. Angeblich, um uns zu schützen.
Musik ist das emotionalste Medium schlechthin. Jugendkulturen sind fast immer (auch) Musikkulturen. Musik bringt ihre Angehörigen zusammen, keine Party ohne Musik. Doch in ihrer Leidenschaft für Musik unterscheiden sich die rund 20 Prozent jeder Generation, die sich Jugend(sub)kulturen anschließen, nicht von den anderen Gleichaltrigen; erst ab Ende 20 wird Musik für die meisten Menschen zunehmend unbedeutender. Musik und Mode sind zentrale Identifikationsfaktoren fast aller Jugendlichen. Mode, der persönliche Stil zeigt, wer man ist. Musik führt einen dorthin. Kopf und Bauch. Dabei geht es nie nur um Melodie und Rhythmus, sondern immer auch um Songtexte (sofern relevant), Interviews, Lebensstil, eben um Identität. Die Jugendzeitschrift Bravo fragt ihre Stars selten zu ihrer Musik, sondern: Lebst du vegan? Wovor hast du Angst? Wann möchtest du eine Familie gründen? Welche Fehler verzeihst du deinen Freunden nie?
Die Jugend muss geschützt werden – ob sie es will oder nicht!
Ich erlebe es auf entsprechenden (Jugendschutz-)Fortbildungen und Fachtagungen oder bei Pressekonferenzen immer wieder: Wie Politiker/-innen und andere Referent/-innen, wenn sie empörende Beispiele aus dem jugendkulturellen Sektor nennen wollen, Verbote und andere „Maßnahmen“ zum „Schutz der Jugend“ fordern, erst einmal auf ihre Notizen sehen und die Namen der Rapper, Reggae- oder (vermeintlichen) Rechtsrockmusiker mühselig ablesen müssen – weil sie von der Musik und dem subkulturellen Kontext überhaupt keine Ahnung haben, auf Nachfrage die inkriminierten Songs meist nicht gehört und die aus den Medien gepflückten Zitate niemals auf ihre Richtigkeit geprüft haben. Eine ähnliche Empörung wie gegenüber Gangstarappern (vgl. den Beitrag von Martin Seeliger in diesem Journal) oder Deutschrockern anlässlich von Konzerten etwa von Rod Stewart, Eric Clapton, Axl Rose/Guns’n’Roses, Patrick Morrissey/The Smith, Elvis Costello, Heino oder ungezählten Schlagerstars, die alle bereits durch rechtsextreme, rassistische oder sexistische/homophobe Äußerungen, Praktiken oder Songtexte auffielen, sind bis heute nicht dokumentiert.
„Was haben etwa David Bowie, Iggy Pop, Jimmy Page von Led Zeppelin und Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers mit R. Kelly gemeinsam?“, fragt Jens Balzer (2019: 82) in seinem Werk „Pop und Populismus“. Sie alle haben als erwachsene Popstars Geschlechtsverkehr mit 13-, 14-jährigen Mädchen gehabt und darüber stolz öffentlich berichtet. „Nur wer bereit ist, die großen weißen Männer, die heiligen Genies der Rockmusik, an denselben Maßstäben zu messen wie die devianten Rapper der Gegenwart, kann verstehen, dass der Sexismus nicht erst von afroamerikanisch oder migrantisch oder sonst wie minoritär markierten Gruppen in eine emanzipierte Mehrheitsgesellschaft importiert worden ist“ (ebd.: 86). Die Erwachsenengesellschaft und eine politische Bildung, die sich darauf kaprizieren, ausschließlich oder überwiegend von Jugendlichen konsumierte Musik und Medien allgemein kritisch zu thematisieren und zu skandalisieren, machen sich – zu Recht – unglaubwürdig gegenüber den Jugendlichen.
Über die Wirkung von Musik
Sexismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit befriedigen Bedürfnisse. Sie bieten vor allem selbst marginalisierten, gesellschaftlich nicht mächtigen, persönlich wenig selbstbewussten und bildungsfernen (jungen) Männern die Chance, sich selbst zu erhöhen, indem sie andere weiter erniedrigen, die auf der Leiter der gesellschaftlichen Hierarchie (vermeintlich) noch unter ihnen stehen (noch „Schwächere“). Niemand wird zum Schwulenhasser, weil er homophobe Musik hört, oder zum Nazi, weil er Rechtsrock hört, sondern er hört diese Musik, weil sie seine Bedürfnisse befriedigt, seine Lebenseinstellung widerspiegelt. Musik und Medien allgemein sind nicht die Ursache für homophobe, rassistische etc. Einstellungen, sondern ein Seismograph, der vorhandene Einstellungen – besten- oder schlimmstenfalls – verstärken kann.
Musik und Medien allgemein entfalten erst dann eine signifikante (bestärkende) Wirkung, wenn sie sehr intensiv oder sogar monopolistisch konsumiert werden. Wer ständig und ausschließlich „Hassgesänge“ hört und keine Gegenwelten/-bilder in seinen Kopf lässt, ist möglicherweise gefährdet, die Inhalte der Hassgesänge zu internalisieren; wer mal Nazi-Musik oder etwa homophobe Hassgesänge hört, aber auch die textlich-musikalischen Gegenbilder, ist kaum gefährdet. Nicht der einzelne Interpret, sondern Monokulturalität gefährdet!
Musik und Medien allgemein wirken nicht so, dass sie ihre Inhalte automatisch in die Köpfe der Rezipient/-innen übertragen; es gibt keine Automatismen. Musik verändert Menschen und ihre Lebenseinstellungen nicht grundlegend, sie kann allenfalls – in positiver wie negativer Richtung – bestärken. Die Rezipient/-innen sind dabei nicht willenlose Opfer der Musikindustrie, sondern sie wählen selbst aus und entscheiden, welche Medien und Identitätsangebote sie konsumieren. Niemand hört Musik, um sich zu ärgern, sondern um sich zu erfreuen, sich bestätigen zu lassen, und so wird Musik vor allem von Menschen zwischen zwölf und 25 Jahren auch gezielt zur Steuerung des eigenen Gefühlshaushalts eingesetzt. In traurigen Momenten hört man andere Musik als in aggressiven, feierlichen, glücklichen Situationen. Rechtsorientierte Jugendliche hören „rechte“ Musik, um Bestätigung zu erfahren, sexistisch/homophob denkende und fühlende Menschen hören sexistische/homophobe Musik. Und Menschen wie ich hören dann eben Ton Steine Scherben, The Clash, Konstantin Wecker oder Feine Sahne Fischfilet.
Diese Aneignung von Musik ist selten ein rationaler Prozess. Die Übernahme von Inhalten und Denkstrukturen aus Musik (und anderen Medien) geschieht meist schleichend. Vor allem antisemitische und sexistische Textinhalte werden selten bewusst reflektiert, eigene Ohnmachtserfahrungen nicht in Verbindung gesetzt mit Vorlieben für gewaltförmige Lieder. Objektiv rassistisch denkende Menschen halten sich in der Regel nicht für Rassisten. Darin liegt die große Chance der politischen Bildung: Wer Vorurteile als solche erkennt, ist schon ein Stück weniger anfällig dafür.
Umstrittene Künstler sind wertvoll für die politische Bildung
Dies gilt vor allem für Jugendliche, die in ihrem Denken, in ihren Lebenseinstellungen allgemein noch sehr ambivalent sind. Vielfalt und Widersprüchlichkeit sind prägende Strukturelemente jugendlichen Denkens und Fühlens. Lassen Sie sich einmal von 13- bis 16-Jährigen ihre persönlichen Playlists erstellen. Sie werden erstaunt sein, wie divers und oft auch in den politischen Haltungen der Stars eigentlich nicht kompatible Charts da zum Vorschein kommen.
Primärziel der politischen Bildung kann es also nicht sein, dass Jugendliche eine menschenfeindliche Musik nicht mehr hören, sondern dass sie über die Ursachen und Motivationen ihrer Faszination für diese Musik und damit ihre eigene Lebenssituation reflektieren, Wege entwickeln, auf andere Weise Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu erfahren und so das Bedürfnis schwindet, sich über die Verachtung und Beleidigung anderer selbst zu erhöhen. Und dass sie letztlich auch dafür sensibilisiert werden, dass die Sprache der Musik auch andere verletzen kann. Es ist ihre Entscheidung, ob sie das wollen – eine demokratische politische Bildung arbeitet nicht mit Verboten und Tabusetzungen, sondern sie versteht sich als Wegbegleiter zur Selbsterkenntnis –, aber es sollte eine bewusste Entscheidung sein. Sie sollten wissen, was sie da hören und warum. Ein unreflektiertes, gedankenloses „Einfach cool“ genügt nicht. Eine Auseinandersetzung mit Songtexten eines von Jugendlichen als wichtig erachteten Künstlers kann dafür ein hervorragender Einstieg sein. Das macht gerade ambivalente und umstrittene Künstler/-innen für die politische Bildung so wertvoll.
Aushalten können!
Rockmusik, die die Generation der in den 1950er und 1960er Jahren Geborenen prägte, wird heute nur von einer Minderheit der Jugendlichen vorzugsweise gehört. Die Mehrheit hört (Deutsch-)Rap und „Pop“, was alles einschließt von Helene Fischer über R‘n‘B bis elektronisch geprägten „Dance-Pop“ und überhaupt querbeet alles, was gerade angesagt ist. Wenn also zum Beispiel ein Lehrer oder eine Lehrerin einer ganz ‚normalen‘ Schulklasse vorschlägt, dass Schüler/-innen ihre Lieblingsmusik mitbringen, um dann darüber zu diskutieren, sollte er/sie davon ausgehen, dass ein Großteil der Musik, die präsentiert wird, ihm/ihr nicht gefällt. Musikalisch nicht und textlich schon gar nicht. Dies sollten Lehrkräfte und politische Bildner/-innen im außerschulischen Bereich aushalten können, denn nichts ist schlimmer als: „Bringt eure Lieblingsmusik mit, aber bitte nicht …“ In deutschen Schulen scheint dies jedoch sehr häufig der Fall zu sein. Jugendliche wollen stolz Frei.Wild, Böhse Onkelz, Rammstein, Bushido, Kollegah oder 187 Strassenbande präsentieren und werden für ihren „falschen“ Musikgeschmack abgestraft. Schwarze Pädagogik statt politische Bildung.
Das Problem vieler Lehrkräfte und auch mancher außerschulisch tätigen politischen Bildner/-innen ist es, dass sie sich exklusiv als Lehrende sehen – die Lernenden sind immer die anderen. Wenn sie zum Beispiel den Jugendlichen Fragen stellen, dann nicht, um selbst etwas aus den Antworten zu lernen, sondern um zu prüfen, ob diese die ‚richtigen‘ Antworten kennen. Das ändert sich, wenn der Lebensalltag und vor allem die Freizeitwelten der Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken. In diesem Moment werden aus Lehrenden Lernende und die Jugendlichen zu Expert/-innen.
Musik entfacht Leidenschaft!
Das funktioniert jedoch nur, wenn die Jugendlichen ihre persönliche Leidenschaft mit einbringen können und wollen. Voraussetzung dafür sind Vertrauen, Toleranz, Offenheit. Lebensweltorientierung und autoritäre Settings sind nicht kompatibel. Private Lieblingslieder einer größeren Gruppe mit sehr diversen musikalischen Neigungen vorzustellen, dazu Hintergrundwissen zu referieren und sich und ihre Lieblingslieder anschließend analysieren und kritisieren zu lassen, dazu gehört auf Seite der Jugendlichen durchaus Mut. Eigentlich möchten Jugendliche gar nicht, dass ihre Musik „pädagogisiert“ und kritisch seziert wird. Es nimmt ihrer Musik ein Stück von ihrer Aura.
Kleiner Exkurs: Ist Rockmusik links?
Der Mythos, Rockmusik sei per se progressiv, entstand in den späten 1960er Jahren. Die Rolling Stones lieferten den Soundtrack für APO-Demonstrationen, Frank Zappa schmückte ungezählte WG-Toilettenwände, Bands wie Jefferson Airplane und Grateful Dead oder Ton Steine Scherben in Deutschland hatten nicht nur rebellische Texte und ein entsprechendes Image, sondern sie verstanden sich auch als Teil der revoltierenden Jugendbewegung, begründeten alternative Projekte wie Kommunen und Produktionskollektive, verweigerten sich den Umarmungsversuchen der Musikindustrie und warben bei ihren Auftritten für politische Demonstrationen und Bewegungen. Die Zeiten waren hochpolitisiert. Und Rockmusik war noch ein Distinktionsinstrument für Leute mit langen Haaren gegenüber allen Spießern dieser Welt. Wir waren rebellisch und links, also war auch die Musik, die wir liebten, rebellisch und links. Hinterfragt wurde das selten. Punk hat den Mythos von der linken Rockmusik dann erneut vertieft. Spätestens seitdem aus einigen Punkmusikern Neonazis wurden, sollten wir begriffen haben, dass der Mythos von der prinzipiell progressiven Rockmusik eben genau das ist: ein selbstreferenzieller biografischer Mythos. 1968 gingen gerade einmal fünf Prozent der Studierenden auf Demonstrationen. Und die Popcharts der Jugend jener Jahre führten weder die Rolling Stones noch Bob Dylan an, sondern Roy Black und Heintje.
Rockmusik spiegelt in ihren besten Facetten immer gesellschaftliche Entwicklungen und Optionen wider. Wenn die Rockmusik der Jungen sich heute nicht linksrebellisch gebärdet, wie viele klagen, gibt es offenbar derzeit auf dem politischen Identitätsmarkt keine attraktive linksrebellische Bewegung für sie.
Fazit
Musik hat die großartige Fähigkeit, Empathie zu wecken und rationale Diskurse und Erkenntnisse emotional zu vertiefen. Musik spricht alle Menschen an, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrem Herkunftsmilieu und ihrem Bildungshintergrund. Musik entfacht Leidenschaft – und was braucht eine Demokratie mehr als leidenschaftliche, empathiefähige Bürger/-innen?
Musik kann Menschen vielleicht nicht grundlegend verändern, aber in ihrem Weg bestärken und in Bewegung setzen. Gemeinsam mit anderen. Vor allem junge Menschen. Deshalb sollte sie ein dauerhafter Bestandteil politischer Bildung sein. Dazu braucht man kein Fachwissen in Sachen aktueller Musik- und Jugendkulturen (obgleich es nicht schadet, selbst ein Musik-Nerd, egal welchen Genres, zu sein), sondern nur die Bereitschaft, selbst zu lernen, nicht nur zu lehren, ergebnisoffen zu starten, jugendliche Hörvorlieben und -gewohnheiten zu respektieren und politische Bildung nicht als verlängerten Arm staatlicher „Extremismus“-Prävention zu missbrauchen.
Literatur
Balzer, Jens (2019): Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik. Hamburg.
Farin, Klaus (2018): Über die Jugend und andere Krankheiten. Berlin.
Zitation:
Farin, Klaus (2020). Musik, Jugendkulturen und Beteiligung, in: Journal für politische Bildung 3/2020, 24-29.
Der Autor
Klaus Farin lebt als freier Autor und Aktivist in Berlin. Er gründete 1998 das Berliner Archiv der Jugendkulturen und leitete es 13 Jahre lang ehrenamtlich. Heute ist er Vorsitzender der Stiftung Respekt! und im Vorstand von Aktion Courage, dem Träger von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage.